Nach dem Fahndungserfolg ist vor der Rechtsverletzung: Öffentlichkeitsfahndung nach Opfern von Straftaten
Am 9. Oktober 2017 haben sich BKA und Staatsanwaltschaft mit einem ungewöhnlichen Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt. Zum Zwecke der Identitätsfeststellung wurde das Foto eines vierjährigen Mädchens veröffentlicht, das zuvor in kinderpornographischem Material im Darknet aufgetaucht war. Das Material dokumentierte schweren sexuellen Missbrauch des Kindes und die Ermittler schlossen darauf, dass das Mädchen weiter dem Zugriff des mutmaßlichen Täters ausgesetzt war. Da alle anderen Ermittlungsansätze zur Identifizierung des mutmaßlichen Täters scheiterten, entschieden sich die Strafverfolgungsbehörden zu diesem ungewöhnlichen Schritt und konnten auch nach nur wenigen Stunden den Fahndungserfolg vermelden: Familienmitglieder hatten das Mädchen erkannt, und der Tatverdächtige wurde festgenommen.
Da die Identifizierung des Opfers in Kinderpornographiefällen leider die absolute Ausnahme ist, sind solche Fahndungserfolge in der Tat ein Grund zur Freude. Die Strafverfolgungsbehörden mussten sich allerdings auch einiger Kritik aussetzen, vor allem in sozialen Medien. Warum wurde solange gewartet bis das Bild des Kindes veröffentlicht wurde? Wäre das Bild früher veröffentlicht worden, hätte man dem Kind vermutlich sehr viel Leid ersparen können?
So schwierig es in solchen Fällen ist, die Diskussion der Öffentlichkeitsfahndung auf eine sachliche Ebene zu bringen, so ist dies doch und gerade zum Schutz der Opfer unabdingbar. Denn würde eine Erleichterung der Öffentlichkeitsfahndung wirklich dem Opferschutz dienen? Wie verhält es sich eigentlich mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung in solchen Fällen? Und entsprechen die Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung überhaupt noch der Realität der digitalen Kriminalität? Diesen Fragen möchte sich dieser Beitrag widmen.
Eine Geschichte der Öffentlichkeitsfahndung
Da die Öffentlichkeitsfahndung hier primär der Ermittlung des mutmaßlichen Täters diente und damit die Strafverfolgung und nicht die Gefahrenabwehr zum Ziel hatte, sind die rechtlichen Grundlagen für die Öffentlichkeitsfahndung in der Strafprozessordnung (StPO) zu suchen. Die detaillierten Regelungen zur Öffentlichkeitsfahndung in den §§ 131a ff. StPO wurden mit der Strafrechtsreform im Jahre 2000 eingeführt. In ihrem Gesetzentwurf begründete die Bundesregierung die Notwendigkeit einer detaillierten Regelung der Eingriffsermächtigung damit, dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch im Fahndungsbereich besser Rechnung zu tragen.
Die für den oben beschriebenen Fall relevante Vorschrift (§131b StPO) regelt die Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen zum Zwecke der Identitätsfeststellung. Diese soll nur dann zulässig sein, wenn (1) dies der Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung dient und wenn (2) insbesondere die Feststellung der Identität des Zeugen auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert ist. Die hohe Hürde der Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen durch das Merkmal der erheblichen Bedeutung der Straftat und die Subsidiaritätsklausel ist durch das erhöhte Schutzinteresse des Zeugen zu rechtfertigen. Da trotz deutlicher Kenntlichmachung der Zeugenfunktion der Eindruck entstehen könnte, dass es sich um die Fahndung eines Beschuldigten handelt, und generell von staatlicher Stelle Bilder ohne vorhergehende Einwilligung des Abgebildeten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sind die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen bereits hoch.
Bezüglich der grundrechtlichen Dimension hat der sächsische Verfassungsgerichtshof in einem Beschluss 2015 dargelegt, dass die Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen dem legitimen staatlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung dient. Die Mitwirkung des Zeugen zur Aufklärung von Straftaten sei dabei eine staatsbürgerliche Pflicht. Allerdings müsse dieser die mit der Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflicht verbundenen Eingriffe in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann hinnehmen, soweit diese auf einer Rechtsgrundlage beruhen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Soweit, so gut.
Erleichterungen der Öffentlichkeitsfahndung zum Opferschutz?
Die Subsidiarität der Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen ist in der Öffentlichkeit auf teils heftige Kritik gestoßen. Die Debatte drehte sich um die Frage, warum die Polizei das Bild nicht schon viel früher veröffentlich und damit das Mädchen seinem mutmaßlichen Peiniger entzogen hat.
Generell ist die Entscheidung zur Öffentlichkeitsfahndung neben den Voraussetzungen der erheblichen Bedeutung der Straftat und der Subsidiarität eine Einzelfallentscheidung, die eine Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Opferschutz vornimmt. Denn im Gegensatz zu einem regulären Zeugen ist die Öffentlichkeitsfahndung nach einem Opfer mit einem erheblichen Eingriff in das aus Art 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG hergeleitetem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden, schließlich ist das Opfer kein unbeteiligter Dritter.
Die Eingriffsintensität erhöht sich zudem, wenn es sich um Sexualstraftaten handelt. Die Gründe liegen auf der Hand: Stigmatisierung und victim blaming. Zudem werden die Bilder mit der dementsprechenden Fahndungsbeschreibung nie wieder aus dem Internet verschwinden. Das Trauma von Kinderpornographieopfern ist schon allein deswegen so hoch, weil sie wissen, dass sich das entsprechende Missbrauchsmaterial nie aus dem Internet entfernen lassen wird: der Missbrauch in Form von Verbreitung und Konsumierung des Materials wird nie enden und somit ist es für Betroffene oft sehr schwierig, einen Schlussstrich unter den Missbrauch zu ziehen. Verständlicherweise wird diese Situation durch den öffentlichen Fahndungsaufruf noch erschwert, denn somit ist das Wissen um die Opfereigenschaft potentiell der ganzen Welt zugänglich.
Ob die Strafverfolgungsbehörden in dem oben beschriebenen Fall die Bilder des Kindes zum richtigen Zeitpunkt veröffentlicht haben, soll nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Eine Erleichterung der Öffentlichkeitsfahndung in Bezug auf die Subsidiaritätsklausel ist allerdings aufgrund des vorher Gesagten abzulehnen.
Zeuge oder Opfer: gleiche Schutzinteressen?
Anstatt zu fragen ob die Subsidiaritätsklausel abgemildert werden soll, muss eine viel grundlegendere Frage zur Ermächtigungsgrundlage gestellt werden: Passt die Normidee der Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen überhaupt auf die Öffentlichkeitsfahndung von Opfern? Oder anders gefragt: sind die Wertungsmaßstäbe bezüglich der Schutzinteressen überhaupt dieselben?
Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des § 131b StPO ansieht, wird schnell klar, dass dies nicht der Fall ist. Denn die Wertungsmaßstäbe bezüglich der Schutzinteressen waren von Anfang an für einen Zeugen als mehr oder weniger unbeteiligten Dritten ausgelegt, und nicht auf ein von der Straftat persönlich betroffenes Opfer. Ein Indiz hierfür ist zunächst, dass der Begriff des Opfers in der ganzen Debatte überhaupt nicht auftaucht. Besonders deutlich wird dies allerdings bei der Debatte um das Kriterium der ‚erheblichen Bedeutung’ der Straftat, die in der kompletten Entwurfsphase des Gesetztes andauert. In der Erstfassung der Vorschrift war dieses Kriterium überhaupt nicht vorgesehen, sondern wurde erst später durch den Rechtsausschuss hinzugefügt. Als Begründung wurde angeführt, dass selbst wenn der Zeuge bei einer Öffentlichkeitsfahndung als solcher erkennbar zu machen sei, doch die Gefahr bestünde, dass er vom Publikum vorschnell in einen falschen Zusammenhang mit der Straftat – etwa als vermeintlich Tatverdächtiger – gebracht werden kann. Diese Sorge wurde durch den Bundesrat in der Anrufung des Vermittlungsausschusses zurückgewiesen, der auf die Aufhebung des Merkmals der ‚erheblichen Bedeutung’ gedrängt hatte, da der Zeuge lediglich seine staatsbürgerliche Pflicht tue und damit keine Diskriminierung verbunden sei. Damit ist wohl die Wertung verbunden, dass sich die Eingriffsintensität in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in rechtfertigbaren Grenzen halte.
Wenn nun aber der Gesetzgeber für diese Vorschrift auch das Zusammenfallen von Opfer und Zeuge im Kopf gehabt hätte, wäre das Argument der möglichen Verwechslung von Zeuge und Beschuldigtem überhaupt nicht vorgekommen. Und vermutlich wäre auch das Kriterium der ‚erheblichen Bedeutung’ der Straftat nicht in diesem Kontext diskutiert worden, weil der Zeuge, der auch Opfer ist, eben nicht nur seine ‚staatsbürgerliche Pflicht’ erfüllt, sondern von der Straftat betroffen ist und somit die Öffentlichkeitsfahndung die Eingriffsintensität drastisch erhöht.
Aus dieser Debatte wird Folgendes deutlich: die Öffentlichkeitsfahndung von Zeugen und die von Opfern unterliegen völlig unterschiedlichen Wertungsmaßstäben. Beide Szenarien dem gleichen Regelungswerk zu unterwerfen ist daher verfehlt. Denn die Fälle, in denen die Identität des Opfers unbekannt ist, werden sich im digitalen Zeitalter erhöhen. Davon betroffen sind vor allem Straftaten, in denen das Internet – und hier vor allem das Darknet – eine entscheidende Rolle spielt. Dies wird wohl häufig auf Kinderpornographie und Menschenhandel zutreffen, denn dort werden sich Bilder der Opfer auf den einschlägigen Websites finden lassen, allerdings keine Spuren der oftmals professionell agierenden Täter.
Nach dem Fahndungserfolg ist vor der Rechtsverletzung
Um unterschiedlichen Schutzinteressen von Zeugen und Opfern gerecht zu werden, sind allerdings nicht die ohnehin schon strengen Voraussetzungen der Öffentlichkeitsfahndung als solche, sondern die Zeit nach dem Fahndungserfolg entscheidend. Denn das Internet vergisst bekanntermaßen nicht. Während das Interesse des Zeugen, der meist unbeteiligter Dritter ist, die Bilder der Öffentlichkeitsfahndung nach Fahndungserfolg entfernt zu haben wohl weniger schutzwürdig ist, wird dies wie in dem oben beschriebenen Fall zur absoluten Crux. Denn die Informationen zu dem Sachverhalt inklusive Bilder werden für immer verfügbar sein. Und genau hier stellt sich das Problem: denn das Einzige was das BKA im oben beschriebenen Fall unternommen hat um den Opferschutzes zu wahren, war ein Hinweis auf Twitter, die Bilder doch bitte zu löschen. Das dies nicht funktioniert hat, zeigt sich schon daran, dass die Bilder des Mädchens immer noch vor allem auf den Webseiten vieler Online-Zeitungen verfügbar sind. Nicht die Öffentlichkeitsfahndung als solche sprengt also den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden in der Zeit nach dem Fahndungserfolg.
Um diesem Problem entgegenzutreten, könnte man zunächst daran denken, dass das Foto des Opfers veröffentlicht wird, ohne eine genaue Beschreibung anzufügen in welchem Zusammenhang diese Person gesucht wird. Allerdings ist an diesem Ansatz zweifelhaft, ob die Öffentlichkeitsfahndung dann genau den gleichen Effekt hätte: denn es darf angenommen werden, dass genau der Hinweis auf die möglicherweise andauernde Gefährdung des Kindes in Form von sexuellem Missbrauchs und der Herstellung von Kinderpornographie zu so einer großen Öffentlichkeitsbeteiligung geführt hat. Zudem stellt sich hier dann wieder die Problematik der Rollenbezeichnung in einem Ermittlungsverfahren: denn ob man Beschuldiger, Zeuge oder Opfer ist, hat einen erheblichen Einfluss auf die Eingriffsintensität.
Als weiteren Ansatz könnte an eine Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden gedacht werden, geeignete Maßnahmen zu ergreifen oder darauf hinzuwirken, dass bei einer Öffentlichkeitsfahndung nach einem Opfer das den Medien zur Verfügung gestellte Bildmaterial unzugänglich gemacht wird. Solche Maßnahmen müssen vor allem gegen die online Angebote von Zeitungen gerichtet sein, denen die Bilder zum Zwecke der Fahndung zur Verfügung gestellt worden sind. Denn im Gegensatz zu Social Media Plattformen, bei denen die Weiterverbreitung ohnehin unkontrollierbar ist, kann bei Zeitungen gezielt auf Löschen oder Verpixelung der Bilder hingewirkt werden. Zudem sind die Artikel der Online Zeitungen mit den Fahndungsfotos im Zweifel über eine Google Anfrage noch Jahre nach der Fahndung aufrufbar.
Da die Zahl der Öffentlichkeitsfahndungen nach Opfern wohl eher steigen wird, muss der Gesetzgeber nun handeln. Die unterschiedlichen Schutzinteressen von Opfer und Zeuge müssen durch eine gesetzliche Differenzierung anerkannt werden und vor allem eine Lösung für die Zeit nach dem Fahndungserfolg gefunden werden, um die Eingriffsintensität für das Opfer auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.