„Hier ist Netflix mit der Tagesschau“
Streamingdienste als Alternative zu ARD und ZDF?
Stellt die Vermittlung öffentlich-rechtlicher Inhalte über private Streamingdienste eine Alternative zu den Rundfunkanstalten dar? Aktuelle Diskussionen zur Reform des Rundfunkrechts in Großbritannien zeigen, dass eine derartige Verbreitung von Inhalten abseits der Hegemonie der BBC möglich erscheint. Auch in Deutschland schwelt spätestens seit der Verweigerung der geplanten Rundfunkbeitragserhöhung durch Sachsen-Anhalt im Dezember eine Diskussion um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, für die auch grundlegende Reformen erwogen werden. So legte eine Autorengruppe rund um die Mittelstandsunion von CDU/CSU ein Fusionskonzept für ARD und ZDF vor. Tom Buhrow fordert in einem aktuellen Gastbeitrag in der FAZ, den öffentlich-rechtlichen Sendern mehr Freiheiten zu gewähren, um dem Trend hin zu einer individualisierten Mediennutzung folgen zu können. Unabhängig von der ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Verweigerung Sachsen-Anhalts wird deutlich, dass Grundsatzfragen zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ungeklärt sind und auch radikale Veränderungen im Rundfunksystem denkbar werden. Vor dem Hintergrund der in Großbritannien erwogenen Verpflichtung privater Anbieter stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch in Deutschland eine derartige Regelung (verfassungs-)rechtlich überhaupt möglich ist. Die Untersuchung zeigt, dass politisch erzwungene, strukturelle Änderungen wahrscheinlicher werden, je länger sich die aktuelle Entwicklung der relevanten Marktanteile bei ARD und ZDF fortsetzt.
Warnendes Beispiel BBC?
Ein Fingerzeig für die potenzielle Entwicklung des Rechtsrahmens für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland könnte aus Großbritannien kommen. Schon seit Beginn der Amtszeit von Premierminister Boris Johnson machen seine Tories keinen Hehl aus ihrem Wunsch, die Anzahl von Radiostationen wie Fernsehprogrammen der BBC drastisch zu reduzieren – was wiederum deren Verteidiger zu lautstarker Kritik motiviert. Zugleich wird medienwirksam darüber nachgedacht, die Rundfunkgebühr von aktuell jährlich 154,50 Pfund zu streichen und durch ein abonnementbasiertes Modell zu ersetzen. Die Debatte ist durch jahrzehntelangen Frust der Printmedien über die Macht der BBC und der konservativen Partei über die (vermeintlich) nicht objektive Berichterstattung ideologisch aufgeladen. So erklärt sich auch eine prägnante Aussage aus Regierungskreisen zu ihren Plänen für die BBC: “We will whack it.”
Die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt in bisheriger Ausgestaltung wird auch durch einen Zuschauereinbruch der BBC-Angebote in Frage gestellt. In der Altersgruppe der unter 24-jährigen werden insbesondere die Nachrichtenangebote der Gruppe im Fernsehen kaum noch genutzt. Dies korrespondiert mit einer insgesamt verringerten Bedeutung des linearen Fernsehens: Während 2019 im Durchschnitt 67% der von Britinnen und Briten konsumierten Medieninhalte auf Rundfunkinhalte entfielen, fiel dieser Anteil in der Altersgruppe zwischen 16 und 34 Jahren auf 38%. Immer stärker werden demgegenüber Streaming-Inhalte von Netflix oder Videoplattformen wie YouTube abgerufen.
Unter dem Eindruck dieser veränderten Medienlandschaft skizzierte ein im Dezember veröffentlichtes Gutachten der britischen Medienaufsichtsbehörde Ofcom (Office of Communications), wie eine umfassende Neugestaltung der Vermittlung öffentlich-rechtlicher Inhalte aussehen könnte. Eine Aktualisierung des Rechtsrahmens, die sich an dem Ziel einer Vermittlung öffentlich-rechtlicher Inhalte über Plattformgrenzen hinweg – und insbesondere auch außerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten selbst – orientiert, sei notwendig. Mit diesem „serviceneutralen“ Ansatz werde die Flexibilität geschaffen, innovativere Wege zur Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte zu beschreiten und alle Publikumsgruppen anzusprechen: So könnten Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime verstärkt für die Vermittlung öffentlich-rechtlicher Inhalte eingesetzt werden. Im Klartext: Weil die Angebote der BBC von bestimmten Zuschauergruppen nicht (mehr) konsumiert werden, soll auf die etablierten Kanäle privater Anbieter ausgewichen werden, welche von der BBC produzierte Inhalte verbreiten.
Dem Gutachten kann der Gedanke entnommen werden, dass es zukünftig weniger auf die Ausstrahlung von Inhalten durch öffentlich-rechtliche Anstalten, als vielmehr die Möglichkeit zur effektiven Verbreitung von Inhalten mit öffentlicher Relevanz ankommt. Um ein derartiges Modell umzusetzen, wäre es notwendig, die Auffindbarkeit relevanter Inhalte auch in den Angeboten dieser privaten Anbieter sicherzustellen. Daher diskutiert das Ofcom-Gutachten im Kontext einer umfassenden Überarbeitung des Regulierungsmodells die Einführung von Rechtspflichten, „Must-carry“ beziehungsweise „must-be-found“-Regeln, durch die private Plattformen wie Netflix verpflichtet wären, die Inhalte öffentlich-rechtlicher Anbieter an hervorgehobener Stelle einzubinden. Bestimmte (junge) Zuschauergruppen, die durch die Angebote der BBC nicht mehr erreicht werden, könnten so gezielt angesprochen werden. Mit einer Überarbeitung des Rechtsrahmens in diesem Sinne könnte die Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte außerhalb der Programme der BBC erfolgen.
Vorbild Deutschland?
Bereits die Inpflichtnahme privater (Streaming-)Anbieter erscheint beim Blick auf die in Deutschland bestehenden Rundfunkstrukturen als ungewöhnlich. Noch überraschender liest sich deswegen die Begründung der Ofcom für den vorgeschlagenen Systemwechsel: Sie verweist darauf, dass die staatlichen Medienanstalten in Deutschland kürzlich eine „must-be-found“-Regel für Inhalte von öffentlichem Interesse in Medienplattformen geschaffen hätten. Ist in Deutschland also bereits eine Rechtsgrundlage für die Darstellung öffentlich-rechtlicher Inhalte auf privaten Plattformen geschaffen worden?
Ein Blick in den seit November 2020 gültigen Medienstaatsvertrag (MStV) zeigt, dass Ofcom bei ihrer Betrachtung die Reichweite der dort getroffenen Neuregelungen überschätzt: Nur für „Benutzeroberflächen“ haben die Länder im MStV tatsächlich neue Rechtspflichten zur Auffindbarkeit von öffentlich-rechtlichen Inhalten geschaffen. In § 84 MStV findet sich eine Privilegierung in Form einer „Must-be-found“-Regelung zugunsten der Rundfunk- und Telemedienangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und zugunsten privater Programme, die in besonderem Maß einen Beitrag zur Meinungs- und Angebotsvielfalt im Bundesgebiet leisten. Diese Angebote müssen auf der Benutzeroberfläche „unmittelbar erreichbar und leicht auffindbar“ sein.
Die Bedeutung dieser auf den ersten Blick beachtlichen Verpflichtung bleibt allerdings aufgrund ihrer überschaubaren Reichweite begrenzt: Benutzeroberflächen werden definiert als Angebote, die eine Übersicht über Angebote oder Inhalte einzelner oder mehrerer Medienplattformen ermöglichen. Unter den Topos der Benutzeroberfläche fallen im Kern die Übersichtsseiten von Smart-TV-Geräten wie dem Apple TV und dem Amazon Fire TV. Für wesentliche Akteure gilt die neue Pflicht nicht: Medienintermediäre wie soziale Netzwerke und Suchmaschinen, aber auch Video-Sharing-Dienste wie YouTube sind nicht betroffen. Streaming-Dienste wie Netflix, die – jedenfalls im ganz überwiegenden Teil ihres Angebots – einen selbstbestimmten Katalog an Inhalten zum individuellen Abruf bereitstellen, sind als rundfunkähnliche Telemedien (§ 2 Abs. 2 Nr. 13 MStV) einzuordnen; auch sie können daher aktuell nicht zur privilegierten Anzeige ausgewählter (öffentlich-rechtlicher) Fremdinhalte verpflichtet werden.
Verfassungsmäßigkeit einer Verpflichtung von Netflix & Co.
Könnten die Länder eine derartige Pflicht für private Streaminganbieter, wie von Ofcom für Großbritannien angeregt, überhaupt beschließen? Als Teil der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit wird die Gesamtheit der mit der Berufstätigkeit verbundenen Modalitäten geschützt, etwa in Gestalt der unternehmerischen Organisationsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit. Eine gesetzliche Pflicht, öffentlich-rechtliche Inhalte wie etwa Nachrichtensendungen in ihren Angeboten privilegiert darzustellen, würde einen schweren Eingriff in die Entscheidungshoheit eines Anbieters wie Netflix darstellen. Der Staat kann nicht ohne Weiteres auf die von Privaten geschaffene Infrastruktur zugreifen, vielmehr sind im Sinne der Erforderlichkeit Maßnahmen zu erwägen, die mit weniger schweren Grundrechtseingriffen verbunden sind.
Rechtfertigen ließe sich eine Verpflichtung privater Anbieter zur Vermittlung öffentlich-rechtlicher Inhalte nur dann, wenn das Angebot der Öffentlich-Rechtlichen seine Funktion nicht mehr in adäquater Weise erfüllen könnte. Durch Art. 5 Abs. 1 GG wird der Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit im Sinne der Schaffung einer positiven Rundfunkordnung verpflichtet. Die Macht des Massenmediums Rundfunk ist rechtlich so zu kanalisieren, dass die Grundstrukturen einer pluralistisch verfassten Demokratie nicht gefährdet werden. In dieser Rundfunkordnung stellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine mediale Grundversorgung sicher, was das Bundesverfassungsgericht mit der Formulierung der „informationellen Daseinsvorsorge für die Gesamtbevölkerung“ zum Ausdruck brachte. Unter Berücksichtigung der Entwicklung der Kommunikationstechnologien und der Informationsverbreitung über das Internet bedeutet dies, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk „durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen […] ein vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht“ (ebd., Rz. 80) bilden soll.
Die Erfüllung dieses Auftrags der informationellen Daseinsvorsorge als Bestandteil der dualen Rundfunkordnung – und damit die Stellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in ihrer aktuellen Form – wird gefährdet, wenn ihre Inhalte wesentliche Teile der Bevölkerung nicht mehr erreichen. Kann also ähnlich wie durch Ofcom in Großbritannien festgestellt werden, dass öffentlich-rechtliche Informationskanäle in (jüngeren) Bevölkerungsgruppen wenig bis keine Wahrnehmung erfahren, ist auch der deutsche Gesetzgeber verpflichtet, seine Ausgestaltung anzupassen. Er muss durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass eine Grundversorgung mit relevanten Inhalten die Gesamtbevölkerung erreicht. Werden öffentlich-rechtliche Informationskanäle in der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert, sind Alternativen zu entwickeln.
Je weniger die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Gesamtbevölkerung mit ihrem Angebot erreichen, desto eher sind die Länder aus der objektiven Komponente des Art. 5 Abs. 1 GG also verpflichtet, bei Ausgestaltung der Rundfunkordnung Alternativen zur Vermittlung der Inhalte zu prüfen. Erfüllen die Anstalten ihren Auftrag nicht mehr, könnte auch in Deutschland erwogen werden, populäre private Streaminganbieter zur Verbreitung relevanter Inhalte wie der „Tagesschau“ oder „heute“ zu verpflichten. An einen derartigen Schritt sind durch den damit verbundenen Eingriff in die Berufsfreiheit dieser Unternehmen hohe Anforderungen zu stellen. Zuerst muss an eine strukturelle Reform der bestehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gedacht werden. Eine Inpflichtnahme privater Anbieter wie Netflix zur Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte kann verfassungsrechtlich nur dann gerechtfertigt werden, wenn der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in erheblichem Maße verfehlt wird und die Grundrechte Privater weniger einschränkende Maßnahmen keine Aussicht auf eine Behebung dieses Defizits haben.
Notwendigkeit einer Diskussion über strukturelle Reformen
Einer Überprüfung an diesen tatsächlichen Maßstäben hält der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland noch Stand. Im europäischen Vergleich haben die öffentlich-rechtlichen Anbieter in Deutschland eine starke Stellung auf dem Medienmarkt. Die Zuschauermarktanteile von ARD und ZDF bleiben relativ stabil und liegen wieder über denen ihrer privaten Konkurrenz. Zugleich zeigen sich auch in Deutschland bereits seit Jahren ähnliche Tendenzen wie in Großbritannien: In der besonders relevanten Gruppe der 14- bis 49-Jährigen fallen die Marktanteile deutlich ab und wieder hinter die Privatsender zurück. Bedenkt man zugleich, dass die Nutzung linearen Fernsehens insgesamt in den jüngeren Generationen stark rückläufig ist und das Durchschnittalter der Zuschauer von ARD und ZDF bei 62 Jahren liegt, gerät das Fundament des öffentlich-rechtlichen Rundfunks doch ins Wanken. Jedenfalls ist vorstellbar, dass ihr Fernsehangebot in nicht allzu ferner Zukunft von wesentlichen Teilen der Bevölkerung kaum noch genutzt wird.
Aus den Diskussionen um die Zukunft der (wohl mindestens zur Verschlankung gezwungenen) BBC können die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland vor allem eines lernen: Die Notwendigkeit proaktiver Anpassungen der eigenen Strukturen. Setzen sich negative Entwicklungen bei den Zuschauerzahlen über Jahr(zehnt)e fort, müssen Politik und Gesellschaft über Alternativen zur Vermittlung relevanter Inhalte nachdenken. Je kleiner die von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abgedeckten Marktanteile sind, desto eher ist auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive zu erwägen, auf private Anbieter zurückzugreifen. Anstatt den status quo zu verteidigen und wesentliche Reformen zurückzuweisen, ist auch in Deutschland mit einem breit gefächerten Ansatz zu überlegen, wie öffentlich-rechtliche Inhalte für alle Bevölkerungsgruppen vermittelt werden können.
Eine Inpflichtnahme von Streaming-Anbietern wie Netflix für öffentlich-rechtliche Inhalte erscheint damit zum jetzigen Zeitpunkt noch als unverhältnismäßig. Andere, weniger grundrechtsbeschränkende Optionen zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegen auf dem Tisch: Eine Fusion der durchaus erfolgreichen Mediatheken von ARD und ZDF, die auch Tom Buhrow – wenn auch etwas vage für das Ende des Jahrzehnts – ankündigte. Eine stärkere Etablierung vom linearen Programm unabhängiger Streaming-Angebote. Ein Ausbau des eigenen Content-Netzwerks funk und des Podcast-Angebots. Dabei sollten sich die Sender auch nicht zu schade sein, von den privaten Anbietern zu lernen, die ihnen Teile der Zuschauer abgejagt haben. Setzt sich diese Tendenz nachhaltig fort, wird wie in Großbritannien über einen radikalen Systemwechsel nachzudenken sein. Es liegt an der Politik und an ARD und ZDF selbst, dass eine Verlagerung des Rundfunkangebots zu Netflix nicht notwendig wird.