19 December 2023

Neue Realitäten im Landtag

Das Demokratiepaket in Hessen

Den Ruf als „härtestes Parlament Deutschlands“ hatte sich der Landtag in Wiesbaden schon lange vor dem Einzug der AfD erworben. Offenbar haben die Verhältnisse im Wiesbadener Stadtschloss in den letzten Jahren aber eine andere Qualität erreicht. Jedenfalls wird man so die „dringliche“, parteiübergreifende Gesetzesinitiative, bestehend aus CDU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und FDP, verstehen dürfen. Sie trägt den Namen Demokratiepaket, ist offensichtlich gegen die AfD gerichtet und wurde am 12.12.2023 noch schnell vom alten Landtag verabschiedet, um für die neue Legislatur gerüstet zu sein.

Anlass hierfür bot u.a. die letzte Landtagswahl vom 8. Oktober 2023, aus der die AfD mit 18,4 % deutlich als zweitstärkste Kraft hervorging. Nach der konstituierenden Sitzung, die für den 18. Januar 2024 vorgesehen ist, dürfte sie den Status der stärksten Oppositionsfraktion haben und mit entsprechendem Selbstbewusstsein jene Positionen einfordern, die Oppositionsfraktionen nun einmal zustehen.

Wer das als Problem begreift, kann sich ihm in zweierlei Weise stellen: parlamentarisch und außerparlamentarisch. Beim Demokratiepaket geht es um ersteres. Diesseits des Parteiverbots ist ein solches Unterfangen aber offensichtlich heikel. Denn mit dem Parlamentsrecht arbeitet man im Maschinenraum der repräsentativen Demokratie. Das ist zwar herausfordernd, aber gut machbar. Denn im Gegenteil ist das kontinuierliche Justieren der parlamentarischen Stellschrauben nichts als der Normalfall. Parlamentarismus kennt keinen Endzustand, sondern ist Sisyphusarbeit.

Ordnungsgelder bei Störungen

Mit dem Demokratiepaket, das eigentlich Parlamentarismuspaket heißen müsste, justiert der Gesetzgeber drei Felder nach. Das Gesetz führt zunächst Ordnungsgelder für die Störung der Haus- oder Sitzungsordnung ein. Dies sei notwendig, so die Begründung, weil sich die traditionellen Ordnungsmittel der Geschäftsordnung (vgl. §§ 75 GOHLT) „in Einzelfällen als zu wenig effektiv und ausdifferenziert erwiesen“ hatten.

Das überrascht, weil man doch annehmen könnte, dass das bisherige Instrumentarium nach vielen Jahrzehnten alles gesehen haben sollte, was die Ordnung des Hauses stört. Tatsächlich haben die traditionellen Ordnungsmittel aber einen entscheidenden Nachteil. Sie wirken nur, wenn die Adressaten die parlamentarischen Komments teilen, die Grundlage der Sanktion sind. Sie verhalten sich jedoch sogar kontraproduktiv, wenn es dem Störer gerade auf die Sanktion ankommt. Wenn der Eklat im Landtag dem Störer mehr bringt als er politisch kostet, kommen Rüge, Ordnungsruf, Wortentzug und Sitzungsausschluss an ihr Ende.

Bei „nicht nur geringfügiger Verletzung der Ordnung oder der Würde des Landtages“ können daher bald 500 bis 3.000 Euro verhängt werden. Damit liegt das Landesrecht etwas höher als der Rahmen, den das Abgeordnetengesetz des Bundes seit 2021 vorsieht. Die wird das Problem gezielter Provokation natürlich nicht lösen, ergänzt das Instrumentarium aber sinnvoll.

Gegen einen anständigen Umgang im Landtag wird im Übrigen sicherlich niemand etwas haben. Die Streite werden daher eher auf der Anwendungsebene liegen. Liegen „menschenverachtende und diffamierende Äußerungen“ vor, wozu nach der Begründung insbesondere „sexistische und rassistische Äußerungen“ zählen? Oder handelt es sich nur um den alles entschuldigenden Altherrenwitz? Im Zweifel wird der Staatsgerichtshof darüber zu entscheiden haben. Immerhin darf man die Hoffnung haben, dass sich künftig Einlassungen unter Verwendung antisemitischer Codes besser sanktionieren lassen.

Änderung der Besetzung der G 10-Kommission

Deutlich heikler als die Ordnungsgelder ist Artikel 2 des Demokratiepakets. Er bewirkt die Änderung der Besetzung der G 10-Kommission. Sie wendet sich offensichtlich gegen die Mitwirkung der AfD-Fraktion. Den ihr nach altem Recht sicher gewesenen Platz wird sie nun nicht mehr haben. Möglich wird dies durch den Übergang von der Verhältniswahl zur Mehrheitswahl, bei der die AfD ohne Bündnispartner keine Chance hat.

Zur Begründung wird die weitgehend ähnliche Rechtslage im Bund und in den Ländern angeführt. Während dies zutrifft, ist der tiefere Sinn zugleich offensichtlich. Die Verfassungsschutzbehörden stufen landauf, landab die AfD oder deren Jugendorganisation als Verdachtsfall ein. So auch in Hessen, was das VG Wiesbaden kürzlich im Rahmen eines Eilverfahrens mittelbar auch bestätigt hat. Nach alter Rechtslage säße die AfD in der G 10-Kommission und würde womöglich zugleich überwacht.

Das verhindert das Demokratiepaket nun. Zugleich stellt dies einen Gleichlauf mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium her. Dessen Mitglieder werden in Hessen ohnehin schon durch Mehrheitswahl bestimmt (§ 1 Abs. 4 VSKG). Folglich darf angenommen werden, dass die AfD auch künftig in keinem der beiden Gremien vertreten sein wird.

Die spannende Frage ist freilich, ob all das geht. Kann man bei der Besetzung der G 10-Kommission die größte Oppositionsfraktion umgehen? Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist die Unterscheidung der hier in Rede stehenden Kommission von den parlamentarischen Ausschüssen zentral. Ausschüsse sind verkleinertes Abbild des Parlaments. Die AfD entsendet daher, wie jede andere Fraktion, ihre Leute in die Ausschüsse (§ 57 Abs. 2 GOBT), ohne dass dies von einer Wahl abhinge.

Bei der G 10-Kommission ist das anders. Sie ist kein Ausschuss in diesem Sinne, kein parlamentarisches Gremium,1) sondern Kontrollorgan eigener Art.2) Sie ist funktional auf Rechtskontrolle gerichtet und nicht auf demokratische Verantwortlichkeit.3) Sie soll eine „materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig[e]“ Nachprüfung gewährleisten (BVerfGE 30, 1 [23]; BVerfGE 100, 313 [361 ff.]). Die Kommission besteht folglich schon nicht notwendigerweise aus Parlamentariern, wie es noch die alte Rechtslage in Hessen vorsah.

Die „Volksvertretung“, von der Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG spricht, ist damit nicht als Kontrollorgan, sondern als Kreationsorgan gemeint.4) Weder das Parlament noch ein verkleinertes Abbild kontrollieren also, sondern ein unabhängiges eigenes Organ. Folglich sind hier u.a. Sach- und Rechtskunde entscheidende Kriterien und nicht der formale Proporz im Parlament (BVerfGE 30, 1 [23]), der der AfD einen Sitz garantieren würde.

Das hat aber Grenzen. Das Bundesverfassungsgericht sieht sie dort, wo eine einseitige Besetzung durch die Mehrheit im Parlament stattfände, die missbräuchlich und damit verfassungswidrig wäre (BVerfGE 30, 1 [31]). Es geht also um praktische Konkordanz zwischen dem Statusrecht der Abgeordneten, der Funktionsfähigkeit des betreffenden Gremiums und effektiver Oppositionsarbeit. Effektive Opposition schützt die Minderheit also nicht strukturell vor Mehrheitsentscheidungen (BVerfGE 70, 324 [363]). Die Grenze ist erst dann verfassungswidrig überschritten, wenn die Opposition gar nicht vertreten wäre, weil es der Mehrheit ohne Sachgrund um eigene Leute geht.

Andererseits ist „die Opposition“ in der Regel vielschichtig. In Hessen sind damit ab 18.1.2024 AfD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeint. Hat die AfD einen Anspruch, weil sie mit 3,6 % Vorsprung die stärkere Oppositionsfraktion wurde?

Das ist beim G 10-Gremium nach dem Gesagten deutlich abzulehnen: Erstens, weil die Funktion des Gremiums auf Rechtskontrolle gerichtet ist und nicht auf parlamentarische Willensbildung. Zweitens, weil damit Sachkunde und Vertrauen im Vordergrund stehen und nicht politische Kontrolle. Und drittens, weil eine anzunehmende übergroße Mehrheit für einen Kandidaten einer der übrigen Oppositionsparteien im Sinne der praktischen Konkordanz sowohl dem Statusrecht aller Abgeordneten wie auch dem Gedanken effektiver Opposition am weitesten zu praktischer Wirksamkeit verhilft. Ein 3,6-prozentiger Vorsprung könnte dagegen noch lange nicht aufwiegen, dass eine große Mehrzahl freier Abgeordneter gegen ihre Überzeugung jemanden wählen sollen, dem sie nicht vertrauen.

Ein schlafender Hund? Das Parlamentarische Kontrollgremium

Nicht Gegenstand des Demokratiepakets war das Parlamentarische Kontrollgremium. Dort ist ohnehin schon Mehrheitswahl vorgesehen, so dass kein Sitz der AfD droht. Die Frage ist freilich, ob man nach den dargestellten Maßstäben dauerhaft damit durchkommt.5) Denn die Gründe, die bei der G 10-Kommission für das Abweichen von der formellen Spiegelbildlichkeit angeführt werden können, liegen hier nicht vor. Es ist vielmehr ein parlamentarisches Gremium, besetzt mit Parlamentariern zur Ausübung parlamentarischer Kontrolle.

Zugleich ist es aber auch kein Ausschuss, bei dem strenger Proporz gilt, sondern Kontrollorgan in sensiblen geheimdienstlichen Fragen. Die Besetzung ist daher weniger streng spiegelbildlich als bei Ausschüssen, aber auch nicht so sachgesetzlich eigen wie beim G 10-Gremium.

Dass die Einschränkung der Spiegelbildlichkeit möglich ist, gilt dem Grunde nach als verfassungsrechtlich entschieden (BVerfGE 30, 1; BVerfGE 70, 324; SachsAnhVerfG, Urt. v. 13.12.2023, Az: LVG 30/22; BbgVerfG, Urt. v. 19.2.2016 – VfGBbg 57/15 = NVwZ 2016, 931; ThürVerfGH, Beschl. v. 14.10.2020 – VerfGH 106/20 = BeckRS 2020, 33783). Die Rechtfertigungshürde ist zwar im Vergleich zur G 10-Kommission deutlich höher, aber nach denselben Maßstäben nicht ausgeschlossen.

Erhöhung der Mitgliederzahl im Wahlausschuss zum Staatsgerichtshof

Um die Arbeitsfähigkeit – so die Begründung – des Richterwahlausschusses zu erhöhen, wird er schließlich um einen Sitz auf neun erweitert. Unter Arbeitsfähigkeit dürfte insbesondere die Mehrheitsfindung und die Vermeidung von Blockaden zu verstehen sein. Denn jedes Mitglied muss gem. § 5 Abs. 7 Satz 2 StGHG eine Zweidrittelmehrheit auf sich vereinigen. Mit zwei Sitzen nach alter Rechnung wäre die AfD schon bei 25 %, so dass Wahlen nur noch mit im Übrigen geschlossenen Reihen möglichen wären. Mit den jetzt neun Sitzen wird die Mehrheitsbildung zumindest etwas entlastet. Denn wenn das Ziel sein sollte, grundsätzlich nicht mit der AfD zu stimmen, bedeutete dies de facto eine einstimmige Richterwahl im Übrigen. Das kann auf Dauer nicht gewollt sein.

Macht man so etwas?

Die Änderungen sind verfassungsrechtlich unproblematisch. Dass man damit womöglich ein Opfernarrativ bedient und verstärkt, ist sicherlich in Rechnung zu stellen. Wie aber verhält es sich mit der politischen Moral? Wie fände man das „Demokratiepaket“, wäre man selbst in der Opposition? Dazu gibt es dreierlei zu sagen: Erstens ist der Spielraum in parlamentsrechtlichen Fragen verfassungsrechtlich begrenzt. Auch hier kann die Mehrheit nicht machen, was sie gerade möchte. Zweitens sind daher Einschränkungen der Status- und Fraktionsrechte zu rechtfertigen, was hier gelingt. Und drittens liegt darin nichts als die Aporie einer rechtlich verfassten parlamentarischen Demokratie. Es ist kein Zufall, dass das Parlamentsrecht seine Wurzeln vielfach in der Parlamentspraxis hat und sich mit Gepflogen- und Gewohnheiten überschneidet. Wo sich diese aber verändern, wäre es töricht, untätig zu bleiben. Das Demokratiepaket ist daher auch keine „lex AfD“, sondern parlamentarische Bewältigung des Parlamentarismus.

References

References
1 Geis, HdbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 54 Rn. 23.
2 BVerfGE 143, 1 (13); Kau in: Stern/Sodann/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 2022, § 94 Rn. 69.
3 Gärditz in: Stern/Sodann/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 2022, § 22 Rn. 56 f.
4 Hufeld, HdbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 56 Rn. 61.
5 Kritisch Schönberger/Schönberger, JZ 2018, S. 105 (109).

SUGGESTED CITATION  Goldhammer, Michael: Neue Realitäten im Landtag: Das Demokratiepaket in Hessen, VerfBlog, 2023/12/19, https://verfassungsblog.de/neue-realitaten-im-landtag/, DOI: 10.59704/dade18eafd0fe1ed.

One Comment

  1. Weichtier Wed 20 Dec 2023 at 07:34 - Reply

    M.G.: „Sie trägt den Namen Demokratiepaket, ist offensichtlich gegen die AfD richtet und wurde am 12.12.2023 noch schnell vom alten Landtag verabschiedet, um für die neue Legislatur gerüstet zu sein.“ UND „Das Demokratiepaket ist daher auch keine „lex AfD“, sondern parlamentarische Bewältigung des Parlamentarismus.“

    Das Demokratiepaket ist zwar offensichtlich gegen die AfD gerichtet, aber keine „lex AfD“?

    Und warum würde zwischen einer „lex AfD“ und der parlamentarischen Bewältigung des Parlamentarismus ein Gegensatz bestehen („sondern“)? Art. 19 Abs. 1 GG regelt zwar: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. …“ Sind Parteien Grundrechtsträger im Sinne von Art. 19 Abs. 1 GG und ist deshalb ein Einzelfallgesetz verboten?

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