Neutralität als Risiko
Zum politischen Gebrauch des Neutralitätsparadigmas
In letzter Zeit wurde Neutralität zur Haltung des Staates, der repräsentativen Institutionen deklariert und sogar als Voraussetzung für das demokratische Funktionieren von NGOs und ihrer staatlichen Unterstützung dargestellt (wie etwa durch eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion). Dies befördert den Diskurs einer vermeintlichen Neutralität politischer Institutionen. Was auf den ersten Blick als gute Basis einer demokratischen Gesellschaft erscheint, bringt aber eine Verwechslung und Missverständnisse mit sich, die sich aus der Perspektive der Demokratietheorie und politischen Kulturforschung beleuchten lassen.
Zu der Verwechslung: Demokratie ist in der Tat auf die Unparteilichkeit staatlicher Institutionen angewiesen. Doch allgemeine politische Neutralität und Unparteilichkeit sind nicht identisch. Während Unparteilichkeit die Bevorzugung von Gruppen und Parteien verbietet, setzt Neutralität einen universellen Standpunkt voraus, den es in der Realität nicht geben kann. Hier entstehen die typischen Missverständnisse: Erstens ist Politik, ob demokratisch oder nicht, nie neutral, sondern setzt immer Normen voraus, selbst wenn diese Normen als natürlich und neutral angesehen werden. Das Risiko, Neutralität mit der wahrgenommenen Normalität zu verwechseln, ist groß und nicht neu. Und das, was für normal gehalten wird, kann schnell zur Norm werden. Der Neutralitätsdiskurs kann also der Anfang eines Normalisierungsprozesses anti-demokratischer Selbstverständnisse sein, der genau das beschädigt, was er vorgibt, zu schützen.
Zweitens sind staatliche Institutionen und Parteien per se nicht neutral, sondern sind einer langfristigen normativen Dimension eingebettet, die sich an allgemein anerkannten Prinzipien orientiert. In der Demokratie gehören dazu: Freiheit – darunter auch Meinungsfreiheit –, Volkssouveränität, was auch die Rechenschaftspflicht der Regierenden und politischen Institutionen gegenüber der Bürger*innen bedeutet; Gleichheit, vor allem als Chancengleichheit verstanden, sowie der Menschenrechte, die in Deutschland im Grundgesetz durch Artikel 1 über die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie durch die Unterzeichnung der Genfer Konvention garantiert werden. Verändern sich diese Prinzipien grundlegend, wandelt sich die politische Ordnung zu einer anderen. Staatliche Institutionen und Parteien unterliegen außerdem einer kurzfristigen normativen Dimension, die von der Interpretation der allgemein anerkannten Prinzipien durch die öffentliche Meinung und Parteiströmungen beeinflusst wird. In Zeiten von Umbrüchen und tiefgehenden Veränderungen wächst der Einfluss dieser kurzfristigen normativen Dimension. Interpretieren die politischen Akteur*innen nicht nur die demokratischen Prinzipien, sondern entstellen sie sie, kann es zur Krise der Demokratie kommen. Welche Gefahren das Verlangen nach einer vermeintlichen Neutralität birgt, zeigt seine Nutzung durch rechtspopulistische Diskurse und Regierungsmaßnahmen in den USA und der ehemaligen Bolsonaro-Regierung in Brasilien. Doch zuerst zur demokratischen Normativität.
Demokratische Normativität
Wissenssoziologisch betrachtet gibt es keine neutrale Gesellschaft. Der Mensch konstruiert seine eigene soziale Realität (Berger/Luckmann), und diese Konstruktion ist immer eine sozio-historische (Castoriadis). Demokratietheoretisch gewendet ist politische Neutralität ebenso wenig möglich wie eine a-historische Gesellschaft. Nicht einmal Expertokratien sind neutral, denn sie folgen den Paradigmen der Experten, die ebenfalls keine neutralen Positionen, sondern bestimmte Standpunkte innerhalb des Wissenschaftsdiskurses sind. Und auch Expertokratien entfalten Normativität. Mehr noch, würde sich ein vermeintlicher universeller Neutralitätspunkt durchsetzen, wäre dies das Ende der demokratischen Politik. Es gäbe dann keine unterschiedlichen Sichten und Positionierungen, um die gerungen werden müsste, sondern alle würden einen einzigen Standpunkt vertreten, der als „neutral“ gelten würde.
Anders als in totalitären Herrschaften und im Faschismus, in denen eine einzige transzendente Wahrheit gilt, erkennt die moderne Demokratie den sozio-historischen Charakter ihrer Ordnung an und integriert diesen selbstreflexiv in ihre Institutionen und Prozesse. Die Demokratie entwickelte ein normatives Gerüst, das von einigen grundlegenden Prinzipien flankiert wird. Neben dem Prinzip der Volkssouveränität, das zentral für die demokratische Ordnung ist, gelten in der modernen Demokratie Menschenrechte, Freiheit – auch der Meinungsäußerung –, Gleichheit – vor allem als Chancengleichheit – und Pluralität. Diese Prinzipien sind keineswegs neutral. Im Gegenteil, sie sind die Basis demokratischer Politik und prägen die demokratischen Institutionen, die einerseits entsprechend geformt werden und andererseits die Durchsetzung der eigenen demokratischen Prinzipien befördern. Staatliche Organe, Parlamente, politische Bildung, Schulen und Universitäten sind davon geprägt, auch wenn auf unterschiedliche Weise. Allerdings darf und soll um die Interpretation demokratischer Prinzipien gerungen werden. Das Ringen darüber ist sogar ein grundlegender Teil demokratischer Struktur, denn Demokratie ist ein Prozess, sie ist offen für die Veränderungen der Gesellschaft. Die Unparteilichkeit staatlicher Institutionen ist eines der Mittel für die Durchsetzung dieser Struktur. Sie garantiert die Auseinandersetzung um das Verständnis demokratischer Prinzipien.
Wie lässt sich demgegenüber institutionelle Neutralität verstehen? Florian Meinel weist darauf hin, dass juristisch gesprochen Neutralität immer einen Bezug braucht, sie ist immer konkret und existiert nicht per se. Man ist neutral gegenüber einem Sachverhalt, Konflikt oder Parteien im Konflikt. Im Fall von staatlichen Organisationen geht es um Unparteilichkeit, also darum, dass keine Partei durch staatliche Organe bevorzugt wird, jedoch nicht um inhaltliche oder normative Neutralität, die ohnehin nicht möglich wäre. Parteipolitische Neutralität, also Unparteilichkeit, bezieht sich in erster Linie auf die Instrumentalisierung der Regierung durch die Regierungspartei. Unparteilichkeit ist dann demokratisch, wenn Freiheit und Chancengleichheit bei der Teilnahme an der politischen Meinungs- und Willensbildung garantiert werden. Doch weder Neutralität noch Unparteilichkeit ist in der Lage, dies zu tun, wenn sie von der Zivilgesellschaft verlangt wird. Ganz im Gegenteil, Kräfte aus der Zivilgesellschaft sind gerade Ausdrücke ihrer Vielfalt und nicht einer vermeintlich neutralen Konformität. Sie sind kein „verlängerter Arm des Staates“, auch wenn sie staatlich gefördert werden. Es ist die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Positionen und Kräften der Gesellschaft, die die Demokratie am Leben hält – allerdings im Rahmen des demokratischen Gerüsts. Erkennen Akteur*innen die Prinzipien der Demokratie ab, disqualifizieren sie ihre Position für die demokratische Debatte.
Das Problem der angemessenen Repräsentation in der Demokratie
Die Geschichte der Demokratie ist begleitet von der zunehmenden Pluralität der Gesellschaft, die Eingang in die politische Repräsentation finden muss. Es wächst das Bewusstsein, dass Chancengleichheit auch eine Frage der Repräsentation ist, und dass benachteiligte Gruppen mehr Zugang zur Teilhabe an der Demokratie brauchen. Das Prinzip der Gleichheit verlangt nach Korrekturen von Diskriminierung und Unsichtbarmachung. Deskriptive Repräsentation wird somit zum Mittel dieser Korrektur, steht aber zugleich in Konkurrenz zur Repräsentation der Einheit, die stark die Mehrheit widerspiegelt. Das Volk muss zwar als kollektives politisches Subjekt repräsentiert werden, doch zugleich soll seine Diversität artikulierbar werden.
Wie kann sich also der demokratische Staat angesichts dieses Dilemmas verhalten? Hier gibt es zwei imperfekte Lösungen. Die erste ist die Verbannung aller deskriptiven Repräsentationssymboliken mit Verweis auf eine weitgefasste Unparteilichkeit. Pluralität wird hier nicht dargestellt, sondern als normatives Gut abstrakt gehalten. Darauf spielt die Parlamentspräsidentin an, wenn sie sagt, dass die Nationalfahne Deutschlands bereits die Repräsentation der LGBTQ enthält. Das Problem: Damit verlagert der Staat zementierte sozio-politische Ungleichheiten auf die Ebene der sozialen Interaktion. Gruppen, die nicht bereits im Zentrum der Mehrheitsgesellschaft stehen, werden invisibilisiert.
Die zweite Lösung besteht aus dem gegenteiligen Prinzip: Benachteiligte Gruppen werden explizit dargestellt. Deskriptive Repräsentation macht sie sichtbar, weil sie sonst innerhalb der Mehrheitsgesellschaft Schwierigkeiten hätten, Gehör zu finden. Diskriminierung und Benachteiligung werden durch Sichtbarmachung und konkrete Ausgleichmaßnahmen wie etwa Quoten und besondere Förderungen ausgeglichen, damit Chancenungleichheit gemindert werden kann. US-amerikanische Universitäten nutzen diese Maßnahme, zum einen, um Diskriminierung in ihren Institutionen zu bekämpfen, und zum anderen, um mehr Diversität herzustellen und die Gesellschaft angemessener widerzuspiegeln. Deskriptive Repräsentation dient als institutionelles Korrekturmittel gegen die Blindheit politischer Institutionen gegenüber Benachteiligung. Dabei entsteht ein Paradox: Die zunehmende Sensibilisierung für Diskriminierung und die weitere Diversifizierung der Gesellschaft bringen immer weitere benachteiligte Gruppen zum Vorschein, die wiederum besonderer Repräsentation bedürfen. Also doch die Deutschlandfahne als Symbol aller Gruppen hissen und nur an einem besonderen Tag als Erinnerung an die Unterdrückung von Homosexuellen zeigen? Keine Regenbogenfahne am Christopher Street Day, wie die Präsidentin des Bundestags vorschlägt?
Performativität und politische Kultur
Die Rückbesinnung auf die vermeintliche Neutralität politischer Institutionen wie das Parlament wäre einfacher, wäre sie unabhängig vom politischen Kontext. Aussagen und Entscheidungen von Amtsträger*innen folgen zwar einer institutionellen Denkweise, stehen aber immer im sozio-kulturellen Kontext. Ihre Performativität und symbolische Bedeutung entfalten sich nicht im Vakuum, sondern innerhalb einer politischen Kultur und ihrer aktuellen Debatten. Um beim Beispiel der Regenbogenfahne zu bleiben, gehört zu diesem Kontext, dass rechtspopulistische und -radikale Diskurse eine maskulinistische Identitätspolitik propagieren, die die Prinzipien der Gleichheit und Pluralität unterminiert, während die Feindlichkeit gegenüber LGBTQ auch mit physischer Gewalt zunimmt. Jede Entscheidung der Präsidentin des Bundestags, statt wie bisher die Regenbogenflagge am Christopher Street Day zu hissen, dies nicht zu tun, oder sogar Verwaltungsbeamt*innen die Teilnahme als Gruppe an der Parade zu untersagen, steht in Dialog mit diesem Kontext.
Rechtspopulistische und autoritäre Risiken
Doch es gibt eine andere wichtige politisch-kulturelle Komponente, die auch den Kern der vermeintlichen Neutralität betrifft: die Nutzung des Neutralitätsdiskurses als Mittel der Neutralisierung von Kritik und Normalisierung undemokratischer Positionen. Rechtspopulistische und -radikale Kreise haben Neutralitätsdiskurse seit langem entdeckt. Auf die Probleme, die mit dem Neutralitätsdiskurs verbunden sind, hat bereits Günter Frankenberg hingewiesen. Florian Meinel machte darauf aufmerksam, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien eine regelrechte Obsession um ungleiche Behandlung und Diskriminierung entwickelt haben, die sich in Form von Verfahren gegen Äußerungen gewählter Amtsträger manifestiert. Diese sind bewusste Verzerrungen demokratischer Prinzipien, die bereits aus diskursiven Verschiebungen durch rechtspopulistische Akteur*innen auch in anderen Ländern bekannt sind. Neutralität steht dabei in einer double-bind Position. Zum einen wird sie als Mittel verwendet, um alle Positionen zu nivellieren, unabhängig davon, ob sie den demokratischen Rahmen respektieren oder nicht. Umhüllt von der populistischen Rhetorik, werden zum anderen diskriminierende, misogyne, rassistische Äußerungen als Volksmeinung präsentiert und damit als demokratisch qualifiziert.
In Brasilien hat Bolsonaro die Idee der politischen Neutralität als Mittel eines ideologischen Kriegs angewendet. Vor allem im Bereich der Bildung setzte sich seine Regierung für das Konzept der „escola sem partido“ (Schule ohne Partei) ein. Die Bewegung „Schule ohne Partei“ engagierte sich für eine anti-kommunistische Erziehung, für das Verbot von Sexualkunde und der Behandlung von Genderfragen, Rassismus und Ungleichheiten in der Schule. Sie fordert außerdem die Abschaffung der bereits implementierten deskriptiven Repräsentation und Quotenpolitik für diskriminierte Gruppen an den Universitäten und Behörden. Obwohl die Bolsonaro-Regierung die meisten Maßnahmen dieses Konzepts nicht durchsetzen konnte, ist das Beispiel interessant, denn es zeigt, wie der extrem-rechte Neutralitätsdiskurs in der Praxis funktioniert. Der vermeintliche Anspruch auf die Neutralität benennt Gegenpositionen als ideologisch und definiert die eigene Position als neutral. Mitglieder der Regierung gingen so weit, eine Reinigung von linken Ideologien bei der Lehrerschaft zu verlangen, und erfanden dafür das Wort „desesquerdização“ („Entlinkung“). „Metapolitik impliziert immer auch das Streben nach Einfluss auf den Bildungssektor“ (Krüger).
Die jüngsten Beispiele dieser Strategie werden im Vorgehen der Trump-Regierung im Namen einer vermeintlichen politischen Neutralität gegenüber Behörden, Museen und Universitäten sichtbar. Nicht nur der Antisemitismus-Vorwurf wurde zum diskursiven Vorwand für den Entzug von Subventionen und Bestrafungsmaßnahmen, auch die Ausgleichsmaßnahmen und die deskriptive Repräsentation von benachteiligten und diskriminierten Gruppen wurden als „wokeness“ und ideologisch gefärbt bekämpft. In einem Interview mit der New York Times, machte der Präsident der Princeton University Christopher L. Eisgruber auf die Rolle der Universität als Ort der Debatte und Kritik aufmerksam. Ziel sei, Raum für den pluralen Austausch zu geben. Keineswegs solle die Universität einen einzigen Standpunkt übernehmen, auch wenn dieser den einer vermeintlichen Mehrheit widerspiegeln könne, wie es die Regierung verlangt.
Der freie und offene Prozess der Meinungs- und Willensbildung braucht nicht Neutralität, sondern Pluralität, wohl aber einen unparteiischen Rahmen für die Auseinandersetzung und Konfliktartikulation der unterschiedlichen Positionen, der die demokratischen normativen Prinzipien respektiert. Verschiebt sich dieser normative Grundsatz der Demokratie, kann die vermeintliche Neutralität der entscheidende Schritt Richtung Erstickung der Meinungsfreiheit werden.