Justitias Dresscode: Wie das BVerfG Neutralität mit „Normalität“ verwechselt
Am Dienstagmorgen hat die Erste Kammer des Zweiten Senats einer hessischen Rechtsreferendarin einstweiligen Rechtsschutz gegen ein pauschales Kopftuchverbot verwehrt, das Beamt*innen nach § 45 HBG auferlegt wird. Diese Norm soll auch auf Referendar*innen Anwendung finden. Die Referendarin darf nun keine gerichtliche Sitzungsleitung und keine Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft übernehmen. Zudem muss sie aus dem Publikum den Verhandlungen beiwohnen, während ihre Mitreferendar*innen neben der* Richter*in auf der Bank sitzen dürfen. Selten wurden Ausschlusspraktiken räumlich so deutlich gemacht.
Glaubensfreiheit – ach nein, doch nicht…
Die Kammer skizziert zunächst mit bekannten Satzbausteinen die Umrisse der Glaubensfreiheit, unter Beachtung des Selbstverständnisses der gläubigen Person, die grundsätzlich auch im öffentlichen Dienst gilt. Die Referendarin habe die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl „nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung“ auch hinreichend plausibel gemacht (Rn. 39). Das Kopftuchverbot soll freilich nach Ansicht der Kammer nur eine geringe Eingriffsintensität haben, denn es gelte „in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt“ (Rn. 41). Die genannten Teile ihrer Ausbildung werden der Referendarin mit dem Verbot freilich vollständig unmöglich gemacht. Jedenfalls insoweit ist der Grundrechtseingriff also durchaus intensiv.
Die argumentative Verringerung der Eingriffsintensität ist der Hebel, mittels dessen die Kammer die im einstweiligen Rechtsschutz verlangte Folgenabwägung entscheidet. Der Referendarin wird so eine (anerkannte) Glaubensbetätigung verwehrt, der gegenüber die „Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität“ (Rn. 47) und die negative Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten (Rn. 52) überwiegen sollen, denen das Verbot nach Ansicht der Kammer dient. Dabei erwähnt die Kammer die Berufsfreiheit der Referendarin lediglich en passant (Rn. 40) und setzt sich deshalb auch nicht mit der Frage auseinander, dass das Rechtsreferendariat ein beim Staat monopolisierter (Zwangs-)Ausbildungsgang ist. Die Folgenabwägung kann deswegen weder im Ansatz noch im Ergebnis überzeugen.
Der zweifache Neutralitätsbegriff des Grundgesetzes: richterliche…
Indem die Kammer der Referendarin die „Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität“ entgegenhält, rückt der Neutralitätsbegriff ins Zentrum der Entscheidung. Zugleich wird deutlich, dass es gar nicht nur oder im Kern um die Grundrechte von Rechtsreferendarinnen geht, sondern implizit und zentral kopftuchtragende Richterinnen mitverhandelt werden. Woher aber stammt dieser Neutralitätsbegriff, den die Kammer bemüht?
Zunächst fällt auf, dass das Grundgesetz für Richter*innen nicht den Begriff der Neutralität, sondern jenen der „Unabhängigkeit“ verwendet.
Art. 97 Abs. 1 GG bestimmt:
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
§ 39 DRiG führt unter der Überschrift „Besondere Pflichten des Richters“ aus:
Der Richter hat sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.
Art. 97 Abs. 1 GG schützt die sachliche Unabhängigkeit der Justiz sowohl gegenüber den anderen Gewalten, also insbesondere Legislative und Exekutive, als auch gegenüber Versuchen der Einflussnahme aus der gesellschaftlichen Sphäre.
§ 39 DRiG hat in der Rechtsprechung bisher Aufmerksamkeit erfahren, wenn sich Richter*innen politisch betätigt haben, etwa ihre politische Meinung kundtaten. Wie das Bundesverwaltungsgericht 1987 in einem solchen Fall ausführt, sollen „Neutralität, Unparteilichkeit und Distanz … mit dem Begriff des Richters i. S. von Art. 97 GG untrennbar verknüpft“ sein. Mit Unabhängigkeit sei die „Abhängigkeit von nichtstaatlichen Institutionen und Kräften“, etwa Kirchen, nicht vereinbar. Dieser Satz hat aber bislang nicht dazu geführt, das Richter*innen für abhängig erklärt worden wären. Nicht einmal, als ein katholischer, dezidierter Abtreibungsgegner als Bundesverfassungsrichter über die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei Abtreibungen zu befinden hatte.
Und dies war im Ergebnis auch richtig so, wie ich im Folgenden argumentiere.
… und religionsverfassungsrechtliche Neutralität
Es gibt einen zweiten verfassungsrechtlichen Neutralitätsbegriff, und zwar im Religionsverfassungsrecht, wo es um die Frage geht, wie der Staat sich zu konkreten Bekenntnissen positionieren soll.
Das Bundesverfassungsgericht hat erstmalig 1965 ein an den Staat gerichtetes Neutralitätsgebot festgehalten:
Das Grundgesetz legt … dem Staat als Heimstatt aller Staatbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf.
Danach darf der Staat sich nicht auf eine religiöse Seite schlagen, sondern muss gegenüber den Konfessionen neutral bleiben.
Das bedeutet nun aber keineswegs, dass in staatlichen Einrichtungen Religion keinen Raum hätte, denn das deutsche Grundgesetz hat anders als andere Staaten kein laizistisches Religionsverständnis. 1975 fügte das Bundesverfassungsgericht für den Bereich der Pflichtschule als Zwangsgemeinschaft hinzu, der „ethische Standard“ des Grundgesetzes sei bestimmt von „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ und gerade in dieser Offenheit bewähre „der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“.
An dieser Tradition hatte auch die erste Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2003 festgehalten. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität sei „nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“. Das „Aber“ folgt damals freilich auf dem Fuße: „Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel [könne] Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein“, so dass Lehrerinnen das Tragen religiöser Symbole, und damit war gerade auch das Kopftuch gemeint, allgemein gesetzlich untersagt werden könne.
Dieser Interpretation ist 2015 wiederum der Erste Senat entgegengetreten. Der Erste Senat betonte, dass vom bloßen Tragen eines Kopftuches durch eine Lehrerin an sich keine Gefahren für die Neutralität des Staates ausgingen. Vielmehr könne allenfalls im Einzelfall, abhängig von der konkreten Lage an der jeweiligen Schule, eine Gefahr für den Schulfrieden entstehen.
Amalgamierung: „Weltanschaulich-religiöse Neutralität von Richter*innen“
Diese beiden disparaten Entwicklungslinien verfassungsrechtlicher Neutralitätsbegriffe werden in der aktuellen juristisch-politischen Debatte zu einer neuen „weltanschaulich-religiösen Neutralität staatlicher Richter*innen“ amalgamiert, die nach Ansicht der Kammer mittelbar auch Referendarinnen verpflichtet.
Neutralität erhält eine Doppelbedeutung und schützt nun den Anschein der Neutralität, der bereits für sich nicht beschädigt werden darf, sowie das Vertrauen in die neutrale Amtsführung. Diese scheinen in Gefahr, wenn entweder die Beamt*in in ihrer Amtsführung den Eindruck erweckt, sie sei von ihrem Glauben beeinflusst in allem, was sie tut, oder aber wenn der Staat durch übermäßige „Toleranz“ gegenüber einem bestimmen „hervorstechenden“ Symbol den Eindruck erweckt, er stehe einer bestimmten Religion näher als einer anderen.
Aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der offenen weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der prinzipiellen Unabhängigkeit von Richter*innen wurde so die Vorgabe, dass diese sich jeder religiösen Äußerung zu enthalten hätten. Faktisch trifft das besonders kopftuchtragende Frauen, um andere religiöse Symbole oder Kleidungsstücke wie etwa die Kippa oder den Turban geht es in der Rechtswirklichkeit in Deutschland nicht.
Im aktuellen Verfahren der hessischen Referendarin steht im Zentrum § 45 des hessischen Beamtengesetzes. Dieser vollzieht die beschriebene Verschmelzung. Dort heißt es:
1) Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2) Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.“
Neutralität als Zuschreibungspraxis
Das religiös konnotierte Kleidungsstück Kopftuch könnte nun auf eine mangelnde Distanz der den Staat repräsentierenden Person zu religiösen Einflüssen hindeuten. Das wäre freilich eine überraschende Deutung. Denn ob Richterinnen innerlich unabhängig sind, mithin ihrer Bindung an das Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG nachkommen oder sich von religiösen Vorgaben leiten lassen, das sollte an ihren Urteilen gemessen werden, nicht an einem Kleidungsstück. Entsprechend tragen in anderen Ländern Richter*innen auch an Höchstgerichten durchaus Kopfbedeckungen, worauf Mathias Hong für Großbritannien und Kanada kürzlich hingewiesen hat.
Ein pauschales Kopftuchverbot unterstellt, dass eine Kopftuch tragende Muslima niemals neutral sein kann (eine Unterstellung, die Patrick Bahners zutreffend „normativ und empirisch bodenlos“ nennt). Hier wird ganz deutlich, dass es sich um eine Frage von Zuschreibungen handelt. Denn der schon erwähnte Bundesverfassungsrichter – es handelte sich um niemand anderen als Ernst-Wolfgang Böckenförde – trug zwar seinerzeit keine äußerlich erkennbaren Kennzeichen, aber es war doch allgemeines Wissen, dass er tief gläubiger Katholik ist. Offenbar wird die gläubige Muslima als nicht neutral eingeordnet, der gläubige Katholik aber sehr wohl.
Das hessische Beamtengesetz versucht diese Ungleichbehandlung nicht einmal zu kaschieren. In dem nämlichen § 45 heißt es in Satz 3 weiter, bei der Entscheidung, ob ein Kleidungsstück neutral wirke, sei „der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen“.
Das heißt nichts anderes, als dass Neutralität gerade kein objektiv zu bemessender Tatbestand ist, sondern davon abhängt, was als neutral zu gelten hat. Wir können freilich gar nicht wahrnehmen, ohne normativ einzuordnen. Es gibt kein Ansehen einer Person in ihrer Erscheinung, das nicht bereits präfiguriert wäre durch kulturelle und soziale Bezüge. So hat sich im Kontext der politischen Entwicklungen ergeben, dass Körper mit Kopftuch nur noch in einer bestimmten Weise lesbar sind.
Die Lesbarkeit ist freilich immer in der Gefahr, durch das, was ausgeschlossen ist, fundamental in Frage gestellt zu werden. Eine kopftuchtragende Richterin, die ganz alltäglich Urteile fällt, könnte durch ihre gute richterliche Praxis ein Vertrauen in ihre Person entstehen lassen, wodurch das Argument, eine Richterin mit Kopftuch sei niemals vertrauenswürdig, an Überzeugungskraft verlöre. Hier nun zeigt sich ein typischer Mechanismus: Um abzusichern, wovon die rechtliche Regelung ausgeht, dass nämlich alle kopftuchtragenden Frauen den Anschein der Neutralität der Justiz gefährden, werden Gegenbeispiele einfach verboten. So entsteht gar nicht die Situation, in der sich praktisch erweisen könnte, ob eine kopftuchtragende Richterin tatsächlich als neutral wahrgenommen werden kann. Zur Aufrechterhaltung der Annahme werden mögliche Gegenbeweise ausgeschlossen.
Als „neutral“ gilt in unserem Falle das, was objektiv betrachtet nicht das Vertrauen in die Neutralität beeinträchtigt, also das, was aus einer Mehrheitsperspektive „normal“ erscheint. Das Kopftuch erscheint nicht „normal“, deswegen wird es auch nicht als „neutral“ gelesen. Auch hier verhindert ein Kopftuchverbot, dass das Kopftuch je als normal wahrgenommen werden könnte – und irgendwann als „neutral“ erscheinen könnte. Und so beobachten wir wiederum den Mechanismus, dass das, was das Potential hat, die „Normalität“ zu stören und letztlich zu verändern, sicherheitshalber verboten wird. Damit werden Vorurteile stabilisiert und letztlich bestätigt.
Alternativvorschlag: Ein pluralistisches Neutralitätsverständnis
Es ist auffällig, dass Art. 33 GG in der aktuellen Diskussion um Kopftuchverbote kaum eine Rolle spielt. Dieser Norm lässt sich jedoch, wie ich argumentiere, ein pluralistisches Neutralitätsverständnis entnehmen, das sich konkret in Art. 33 Abs. 3 GG dogmatisch verorten lässt. Nach dieser Norm ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Die Norm steht schon dem Wortlaut nach dem gänzlichen Ausschluss von religiösen Überzeugungen aus öffentlichen Ämtern entgegen. Sie streitet für ein Neutralitätsverständnis, das ganz nah ist an denjenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die ein offenes, zugewandtes, pluralistisches Neutralitätsverständnis befürworten, das gerade Raum schafft für verschiedene Glaubensüberzeugungen.
Es ist die Grundüberzeugung demokratischer Selbstregierung durch Gesetze, dass ein und dasselbe Gesetz in den Händen noch so verschiedener Personen, sind sie nur durch Studium und Referendariat gut ausgebildet für das richtende Amt, zu einer im wesentlichen gleichförmigen Anwendung führen wird. Schließen wir Personengruppen von diesem Vertrauen aus, indem wir ihnen die Fähigkeit gänzlich und pauschal absprechen, die demokratischen Gesetze neutral und unparteilich anzuwenden, so bedroht dies eine Grundbedingung unserer Staatsform. Weitergehend lässt sich, wie Benjamin Rusteberg argumentiert hat, sogar ein Element personaler Legitimation der Ausübung von Hoheitsgewalt in Art. 33 Abs. 3 GG sehen, wenn nämlich alle Bevölkerungsgruppen an der Ausübung ebenjener Staatsgewalt beteiligt sind, der sie unterworfen sind. Die Exklusion kopftuchtragender Juristinnen vom öffentlichen Amt der Richterin ist deswegen nicht mit dem überkommenen Verständnis eines pluralistischen demokratischen Rechtsstaates vereinbar. Es steht zu hoffen, dass der Senat in seiner erwarteten Entscheidung das Missverständnis der „religiös-weltanschaulichen Neutralität von Richter*innen“ aufklärt und zurückkehrt zum überkommenen pluralistischen, weltoffenen Verständnis von Neutralität, das die Bundesrepublik bislang ausgezeichnet hat.
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