Noch nicht die Lösung
Ersatzstimmen zur Bundestagsverkleinerung
Ersatzstimmen sind das Mittel, mit dem die in die Wahlrechtsreformkommission entsandten Obleute der Ampelkoalition den gordischen Knoten der Wahlrechtsreform durchschlagen wollen. Das klingt kompliziert, ist es auch, und zwar in doppelter Hinsicht: Sowohl verfassungsrechtlich als auch politisch schafft der Vorschlag mehr Probleme als er löst. Alle Staatsgewalt geht in einer parlamentarischen Demokratie vom Volke aus. Zentrales Verfahren zur Organisation des Volkswillens und damit zur demokratischen Einflussnahme durch die Bürger sind die Wahlen. Durch sie wird der Legitimationszusammenhang hergestellt. Sie sind der zentrale Akt, durch den das in Art. 20 Abs. 2 GG zum Ursprung der staatlichen Gewalt erklärte Volk seinen Willen verbindlich äußern kann. Die politische Repräsentation des Volkes und die Größe des Parlamentes hängt dabei ganz wesentlich von der konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems ab. Man kann wie in einem Beitrag in Zeit online von einem „Betriebssystem“ der parlamentarischen Demokratie sprechen. Das Grundgesetz hat im Wesentlichen darauf verzichtet, ein bestimmtes Wahlsystem vorzugeben, was dem Bundesgesetzgeber und damit dem Parlament einen großen Gestaltungsspielraum gibt. Verfassungsrechtliche Zielvorgabe ist eine den Wahlrechtsgrundsätzen entsprechende parlamentarische Repräsentation des Volkes in einem arbeitsfähigen Parlament. Für den Gesetzgeber ist dieser Gestaltungsspielraum Fluch und Segen zugleich. Wer die Wahl hat, hat die Qual: Er hat sich für eine Kombination aus einer Verhältnis- und einer Mehrheitswahl in Form der „verbundenen personalisierten Verhältniswahl“ entschieden, bei der das Listenwahlrecht mit dem Personenwahlrecht in Wahlkreisen kombiniert ist. Ein Platz zwischen den Stühlen ist selten bequem.
Stets bemüht …
Das Ergebnis der Wahl im September 2021 ist ein Bundestag mit 736 Abgeordneten und damit das größte demokratische Parlament weltweit, deutlich größer als die gesetzlich in § 1 BWahlG vorgesehene „Regelgröße“ von 598 Abgeordneten. Bei einem etwas anderen Wahlergebnis hätte der Bundestag durchaus auch auf über 800 Abgeordnete anwachsen können. Schuld daran sind Überhangmandate, die dadurch entstehen, dass einzelne Parteien (besonders die CSU) mehr Wahlkreise gewinnen, als es ihrem Zweitstimmenanteil entspricht. Dafür erhalten die anderen Parteien dann Ausgleichsmandate, damit das durch die Zweitstimme ermittelte Verhältnis wieder korrekt abgebildet wird. Ein übermäßig großer Bundestag ist nicht nur teuer, sondern erschwert auch dessen Arbeitsfähigkeit.
Daher bemüht sich die Politik schon lange, durch eine Wahlrechtsreform den Deutschen Bundestag deutlich zu verkleinern. Der letzte Versuch kurz vor der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag ist nicht wirklich geglückt, politisch umstritten und rechtlich fragwürdig. Dieser Versuch war eine von der großen Koalition nur für die Wahl 2021 als vorläufige „Minireform“ gedachte Notlösung zur Begrenzung eines weiteren Anwachsens des Bundestages. Die damalige Opposition hat die Wahlrechtsänderung im Normenkontrollverfahren vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Zwar blieb der verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zunächst noch erfolglos, da im Eilverfahren allein eine Folgenabwägung geboten ist1), aber explizit mahnte das Bundesverfassungsgericht erneut an, das „kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“2).
Für die regulär im Jahr 2025 anstehende Wahl gehen die Bemühungen um eine Wahlrechtsreform mit dem klaren Ziel, den Bundestag deutlich zu verkleinern, daher in die nächste Runde. In einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben die drei Obleute von SPD, Grünen und FDP in der Wahlrechtsreformkommission ihre Pläne skizziert, die mit einer strikten Begrenzung auf die gesetzlich festgelegte Mitgliederzahl zu einer radikalen Verkleinerung des Bundestages führen würden. Das Ziel ist gut, der Weg dahin durchaus problembehaftet.
Zu erreichen versuchen die Autoren des Gastbeitrages ihr Ziel, indem sie durchgreifende Änderungen in dem in den Wahlkreisen vorgesehenen Wahlsystemteil der Mehrheitswahl vorsehen. Diese soll nicht mehr für sich genommen zum Wahlerfolg führen, sondern der Einzug in den Bundestag stünde unter dem Vorbehalt, dass die Partei des siegreichen Wahlkreisbewerbers kein Überhangmandat erzielt und dass der Wahlbewerber nicht der am wenigsten erfolgreiche Kandidat der Partei ist. Anders gewendet: Ein Wahlkreisbewerber mit den relativ meisten Stimmen in seinem Wahlkreis erhält sein Direktmandat dann trotzdem nicht, wenn seine Partei mehr Direkt- als Listenmandate errungen hat und er im Vergleich mit den anderen Direktkandidaten seiner Partei am schlechtesten abgeschnitten hat. In dem Fall soll das auf diese Weise wundersam wieder frei gewordene Direktmandat an einen der anderen Wahlkreiskandidaten in seinem Wahlkreis vergeben werden. Wer von diesen siegreich ist, soll dann unter Einbeziehung sogenannter Ersatzstimmen ermittelt werden, die Wähler bei der Wahl als zweite Präferenz für einen (anderen) Wahlkreiskandidaten – in der Summe also als dritte Stimme – abgeben können.
… aber nicht zur Zufriedenheit
Das mutet nicht nur auf den ersten Blick irritierend an. Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass danach nicht nur – wie bei der Mehrheitswahl üblich – die Stimmen ohne Erfolgswert bleiben, die auf die nicht siegreichen Kandidaten abgegeben werden. Bezogen auf die Erstpräferenz der Wähler bei der Erststimme für einen Wahlkreiskandidaten ist es sogar so, dass den erfolgreichen Stimmen ihr Erfolgswert wieder aberkannt wird. Diese Stimmen, die auf den Kandidaten mit dem bei der Erstauszählung relativ meisten Stimmen abgegeben wurden, bleiben in jedem Fall ohne jeglichen Erfolgswert. Sie fallen schlicht weg, weil der Erfolg der betroffenen Wahlkreiskandidaten aufgrund der von ihrer Partei erzielten Überhangmandate keinen Bestand haben darf: Diesem Wahlkreissieger wird kein Mandat zugeteilt.
Um einen Wahlkreis nicht unrepräsentiert zu lassen, soll nicht der Wahlkreisgewinner, sondern der Zweitplatzierte zum Zuge kommen. Wer das ist, soll durch Berücksichtigung der abgegebenen Ersatzstimmen in dem Wahlkreis ermittelt werden. Ob der „Zweitpräferenz“ (also der Ersatzstimme) der Wähler Erfolgswert zukommt, hängt davon ab, für welchen anderen Kandidaten – dessen politische Heimat jedenfalls nicht diejenige seiner Erstpräferenz sein kann – sie oder er sich entschieden hat. Das Rennen macht dann jedenfalls nicht der (eigentlich) Erstplatzierte, sondern ein (zunächst) unterlegener Wahlkreiskandidat.
Das Ersatzstimmensystem hat auch Folgen für den Erfolgswert der Stimmen derjenigen Wähler, die sich in der Erstpräferenz für einen unterlegenen Kandidaten entschieden haben. Während üblicherweise und in allen anderen nicht betroffenen Wahlkreisen diesen Stimmen keinerlei Erfolgswert zukommt, erhalten sie hier eine zweite Chance. Sollte sich diese zweite Chance aber bei der nun folgenden Auszählung unter Berücksichtigung der Ersatzstimmen als erfolgswertverschaffend erweisen, ist damit nicht garantiert, dass es so bleibt. Führte die Berücksichtigung dieses (bzw. generell weiterer) Zweitplatzierter dazu, dass eine Partei infolgedessen Überhangmandate erringt, könnten auch diese wieder wegfallen. Mangels weiterer Ersatz-Ersatzstimmen stellt sich die Frage, wie dann ein siegreicher Kandidat in dem betroffenen Wahlkreis ermittelt werden soll. Konsequenz wäre aber jedenfalls, dass sowohl die Erstpräferenzstimmen Wähler als auch die Ersatzstimmen für den dann zweitplatzierten Wahlkreiskandidaten am Ende gänzlich ohne Erfolg blieben.
Verfassungsrechtlich ist dies in mehrerlei Hinsicht fragwürdig. Gerichtlich wie auch rechtswissenschaftlich hat das Ersatzstimmenproblem bislang nur mit Blick auf die an der 5%-Hürde gescheiterten Parteien (also mit Blick auf die insoweit erfolglosen Zweit- oder Listenstimmen) Beachtung gefunden. Die in diesem Zusammenhang diskutierte Einführung einer Ersatzstimme (synonym vielfach Eventual-, Alternativ-, Neben- oder Hilfsstimme) ist auf zahlreiche Bedenken gestoßen.
Unmittelbarkeit der Wahl
Zum einen wird der Wahlrechtsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gegen eine Ersatzstimme in Stellung gebracht. Danach darf die Wahlentscheidung nicht durch eine zwischengeschaltete Instanz verfremdet werden. Unzweifelhaft erstreckt sich der Gewährleistungsgehalt der Unmittelbarkeit darauf, dass der Wähler vor dem Wahlakt erkennen können muss, wer sich um ein Mandat bewirbt und wie sich die Stimmabgabe auf den Mandatserwerb auswirkt3). Manche4) schließen daraus, dass sich der Wähler vorbehaltlos und bedingungsfrei entscheiden muss und halten die Ersatzstimme schon deshalb für verfassungswidrig. Andere heben hervor, dass die Auswirkungen der Stimmabgabe auf den Mandatserwerb erkennbar sind: Weder zwischen Erstpräferenzstimme noch – soweit sie zum Zuge kommt – zwischen Zweitpräferenzstimme und Gewähltem trete ein Mechanismus, der die Wahlentscheidung verfremden könne.5) Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung dieser Frage offengelassen.6)
Soweit das Problem der Ersatzstimme nicht als Anwendungsfall der Unmittelbarkeit der Wahl begriffen werden sollte, stellt sich – wie auch dem Bundesverfassungsgericht – allerdings die Frage nach einer möglichen Unvereinbarkeit eines bedingten Votums mit dem Demokratieprinzip. Das Problem ist der Sache nach also nur seinem verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt nach „verschoben“. Als Problemfall der Unmittelbarkeit der Wahl oder des Demokratieprinzips ist die Ersatzstimme jedenfalls insofern kritisch zu sehen, als dass – trotz Erkennbarkeit der Auswirkungen der eigenen Stimmabgabe – jedenfalls eine Zwischeninstanz, nämlich gegebenenfalls der Wahlgesetzgeber durch das geschaffene Sitzzuteilungsverfahren, die ursprüngliche mit Erfolgswert versehene Wahlentscheidung aufhebt und eine andere Wahlentscheidung zum Zuge kommen lässt. Ob darin eine „Verfremdung“ zu erblicken ist, ist Wertungsfrage.
Gleichheit der Wahl
Problematisch ist die Ersatzstimme auch mit Blick auf den Grundsatz der Gleichheit der Wahl: Die oben geschilderten Rechtsfolgen der geplanten Ersatzstimmenregelung weisen auf eine Ungleichbehandlung der Wähler hin. Nur der Zählung nach schlägt im Wahlergebnis zwar nach wie vor nur eine Stimme pro Wähler zu Buche. Im Verhältnis zu den Wählern in anderen Wahlkreisen wird aber zum einen die für einen nachträglich gestrichenen Wahlkreisbewerber abgegebene Erstpräferenzstimme vollständig entwertet, zudem schlägt sich die Zweitpräferenzstimme nicht zwangsläufig in Wahlerfolg nieder und sie entspricht – inhaltlich – auch nicht der eigentlich gewünschten Wahlentscheidung.
Zum anderen erhalten die Erstpräferenzstimmen derjenigen Wähler eine zweite Erfolgschance, die ihre Stimme für zunächst erfolglose Kandidaten abgegeben haben, anders als in den Wahlkreisen, die nicht von der Überhangmandatsstreichung eines erfolgreichen Bewerbers betroffen sind. Den tatsächlichen, mehrheitlichen Wählerwillen spiegelt die Zusammensetzung des Bundestages dann jedenfalls nur noch in Teilen.
Nicht mehr nachvollziehbar
Das entscheidende Argument gegen die Ersatzstimmenregelung ist aber die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte und verfassungsrechtlich gebotene Praktikabilität und Nachvollziehbarkeit des Wahlsystems. Das ohnehin schon komplexe Erst- und Zweitstimmensystem um eine Ersatzstimme zu erweitern, deren Auszählung die Wahlvorstände vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten stellt und bei der die ggf. erforderliche Nachauszählung weitere Fehlerquellen für die korrekte Ermittlung des Wahlergebnisses bereithält, spricht deutlich gegen die Einführung einer Ersatzstimme.
Bedenken bestehen deshalb auch vor dem Hintergrund der Öffentlichkeit der Wahl, die es den Wählern ermöglichen muss, die Ergebnisermittlung nachvollziehen zu können. Es ist ein Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie, dass nicht nur Wahlrechtsexperten, sondern allen Wählern grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet sein muss, das demokratische Legitimation verschaffende Wahlsystem zu verstehen. Für eine Demokratie ist es wenig hilfreich, wenn das „Betriebssystem“ ausschließlich den Betriebsadministratoren zugänglich ist. Ein allzu voraussetzungsreiches und mit Vorbehalten versehenes Wahlsystem trägt nicht dazu bei, die Bevölkerung für die Demokratie zu begeistern.
References
↑1 | dazu Bäcker, ZRP 2021, 165 |
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↑2 | BVerfG, Beschluss v. 20.7.2021 – 2 BvF 1/21, Rn. 99 |
↑3 | BVerfGE 95, 335 [350] |
↑4 | Strelen, BWahlG 2017, § 6 Rn. 37; Boehl, BWahlG 2021, § 6 Rn. 67 |
↑5 | Damm, DÖV 2013, 913 [919] |
↑6 | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 19. September 2017 – 2 BvC 46/14, Rn. 80 |
Ich teile eher die Ansicht des Kommentars, der hier gestern an derselben Stelle erschienen ist. Manches mag verfassungswidrig sein – aber genau wissen es auch die beiden Autorinnen nicht. Zudem messen sie der Direktwahl der Kandidat:innen mehr Wert zu, als ihnen nach anderer Einschätzung zukommt. Man sollte nicht vergessen, dass jene Kandidat:innen, die trotz „gewonnenem“ Wahlkreis nicht zum Zuge kommen, jene sind, die vielleicht 25% der Stimmen bekommen haben. Eine echte Legitimation mag ich da nicht erkennen, wenn 75% der Stimmen unter den Tisch fallen. Nach wie vor bleibt der Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht zusammengesetzt. Wie stand es daher gestern hier? „Einfach mal machen“.
Mich läßt der Artikel unbefriedigt. Sind es nicht die kritischen Beobachter und die Verfassungs- und Wahlrechtsexperten, die seit lange hätten verstehen müssen, wie und wo die Denkfehler im deutschen Wahlsystem und in der Wahlrecht-Debatte erzeugt wurden und repliziert werden, und damit Ansätze für eine verfassungskonforme Lösung hätten vorschlagen können und müssen? Sind nicht die Expert:innen und Kommentator:innen zusammen mit den Verfassungsrichtern wenigstens so viel Schuld an der bestehenden überkomplizierten Sackgasse als die hilflosen Gesetzgeber? Mein (über das positive Recht hinausschauender) Beitrag kann hier nachgelesen werden: https://www.academia.edu/53289018/Ein_Blick_von_au%C3%9Fen_Rechtliche_und_logische_Schw%C3%A4chen_des_zu_komplizierten_Bundeswahlgesetzes