Obergefell: ein Gericht, zwei Verfassungen
Die Entscheidung des US Supreme Court, dass der Zugang gleichgeschlechtlicher Paare zur Ehe ein Gebot der Verfassung ist, ist nicht nur politisch eine Sensation, sondern auch verfassungsrechtlich ein hoch interessantes Dokument. Zwei Narrative prallen in dieser Entscheidung aufeinander, zwei Rekonstruktionen der Verfassungslage. Und was man aus diesem Aufeinanderprallen lernen kann, reicht weit über die Frage der Homo-Ehe hinaus.
Die Stunde der Politik
Narrativ A erzählen mit unterschiedlichen Nuancen, aber im Kern parallel die vier konservativen Richter Roberts, Scalia, Thomas und Alito in ihren jeweiligen Sondervoten. Aus ihrer Sicht kommen da Leute und wollen etwas. Diese Leute sehen die Heteros ihre Ehen führen und sagen, das wollen wir auch. Gut, sagen die vier Dissenter. Werfen wir einen Blick in die Verfassung und schlagen wir nach. In der Verfassung kann ja nur drinstehen, was ihre Autoren hineingeschrieben haben. Haben sie einen Anspruch für diese Leute hineingeschrieben? Da steht was von Liberty, aber damit ist nicht gemeint, dass wir jemand was geben müssen, sondern nur, dass jemand nicht was wegnehmen dürfen. Da steht auch was von Equality, aber das heißt nicht, dass wir aus etwas, das nun einmal keine Ehe ist, eine machen müssten. Von einem Recht für Schwule und Lesben, ihre Partner zu heiraten, steht da nichts.
Die Erzähler von Narrativ A sehen (jedenfalls Roberts, sofern er das aufrichtig meint) das Anliegen dieser Leute durchaus nicht ohne Sympathie. Aber ob man ihm Erfolg wünscht oder nicht, das ist eine politische Frage, keine rechtliche. Die politische Debatte ist ja auch bereits in vollem Gange, da ist ja gerade im Augenblick wirklich viel Bewegung vorhanden, die durch ein Urteil ex cathedra jäh beendet würde, und mit ihr die aufkeimende Sympathie auch im konservativen Lager.
Wenn, so Narrativ A, in öffentlicher Deliberation und demokratischer Mehrheitsbildung zuletzt der Gesetz- bzw. Verfassungsgeber zu dem Schluss kommen sollte, dass man den Leuten geben soll, was sie fordern, dann bitte sehr. So aber wäre es eine unerhörte Selbstermächtigung, ein Putsch geradezu, wenn eine Handvoll Juristen sich an die Stelle des Volkes setzt und aus eigener Machtvollkommenheit festlegt, was die Verfassung nun einmal offen hält. Zumal es ja auch noch andere gibt, die durch diese Festlegung ihrerseits in Nöte gerieten, diejenigen nämlich, die aus religiösen Gründen tatsächlich überzeugt sind, dass Schwule und Lesben nicht nur nicht heiraten, sondern überhaupt in der Hölle schmoren sollten. Denn, apropos Religion, zur Glaubensfreiheit steht in der Verfassung in der Tat etwas drin.
Die Stunde des Rechts
Narrativ B, erzählt von Anthony Kennedy und unterstützt von den vier liberalen Richter_innen Bader Ginsburg, Breyer, Kagan und Sotomayor, geht grob zusammengefasst so: Diese Leute, die da kommen, wollen nicht einfach nur irgendetwas. Ihnen wird schlimmes Unrecht zugefügt. James Obergefell aus Ohio darf auf dem Totenschein des Mannes, mit dem er über Jahrzehnte Tisch und Bett geteilt hat, nicht als Hinterbliebener auftauchen und muss sich behandeln lassen, als sei er einfach irgendein Fremder. April DeBoer und Jayne Rowse aus Michigan dürfen nicht die gemeinsame rechtliche Elternschaft für die beiden pflegebedürftigen Kinder übernehmen, die sie gemeinsam großziehen, als müsse man sie irgendwie von diesen Kindern fern halten.
In der Verfassung steht aber, dass der Staat seine Bürger nicht einfach so ihrer Freiheit (liberty) berauben dürfe, ihre intimsten Entscheidungen so zu fällen, wie sie es für richtig halten. Die Verfassung schützt sehr wohl das Recht, undiskriminiert mit seinem Lebenspartner zusammenzuleben, und das um so mehr, wenn es auch noch um Familien geht, in denen Kinder aufwachsen. Wenn zwei Menschen sich wechselseitig Unterstützung versprechen, dann schuldet ihnen die Gesellschaft ihrerseits Unterstützung, und zwar nicht, weil sie das so gerne wollen, sondern weil die Gesellschaft in ihrem Fortbestand von dieser Art der wechselseitigen Verantwortungsübernahme abhängt. Das ist es, worauf es ankommt und nicht das Geschlecht der beteiligten Personen.
Das Feld der Politik zu überlassen, so Narrativ B, und abzuwarten, bis sich die öffentliche Meinung entwickelt und der Gesetzgeber tätig geworden ist, hieße Menschen, die von eben diesem demokratisch legitimierten Gesetzgeber in ihren Grundrechten verletzt werden, im Stich zu lassen. James Obergefell hat überhaupt nichts davon, wenn sich irgendwann die Politik eines Besseren besinnt oder auch nicht: ihm wird jetzt, hier und heute Unrecht zugefügt. Grundrechte gibt es nicht nur, wenn und soweit die Politik das gut findet. Grundrechte sind gerade dazu da, den Menschen gegen die Macht, die Minderheit gegen die Mehrheit zu beschützen. Ihnen zur Geltung zu verhelfen, ist die vornehmste Aufgabe der Justiz, und daher ist es kein Staatsstreich, wenn jetzt fünf Richter_innen die Homo-Ehe in den USA durchsetzen, sondern ganz einfach ihr Job.
Was eine Verfassung leisten muss
Ich bin ja sonst immer gern dabei, wenn es darum geht, verfassungsgerichtliches Philosophenkönigtum zu geißeln, das so tut, als könne man die Antwort auf jede noch so politische Frage im Grundgesetz nachschlagen, und dabei nach und nach jedes Gefühl für die Grenzen der eigenen Entscheidungskompetenz verliert. Aber hier scheint mir tatsächlich um etwas anderes zu gehen, und zwar nicht, weil ich bei Narrativ B das Ergebnis lieber mag. Sondern weil ich die Verfassung, von der Narrativ B spricht, für um ein Vielfaches leistungsfähiger halte als die, von der Narrativ A spricht.
In den Dissenting Opinions im Fall Obergefell scheint mir sehr schön ins Relief zu treten, wie stumpf und blind die Verfassung von Narrativ A ist, wie wenig sie wahrnimmt und wie wenig gesellschaftliche Realität sich in ihr spiegelt. Narrativ A ist und macht blind für die gesellschaftliche Situation, in der erzählt wird, für die eigenen politischen Präferenzen derer, die es erzählen, und schließlich für die individuellen Menschen, deren Schicksal den Anlass der Erzählung überhaupt gibt.
Narrativ A tut so, als lebten wir in einer stabilen, von mythischen Verfassungsvätern vor 250 Jahren wohl geordneten Welt, wo die Ehe eben die Ehe ist, ein vorgefundenes gesellschaftliches Faktum, das seit Jahrtausenden besteht und auch noch weitere Jahrtausende fortbestehen könnte, wären da nicht bestimmte nicht verheiratete Leute, die den Verheirateten ihr Glück neiden und streitig machen. Wir leben aber in keiner wohl geordneten Welt. In den 250 Jahren, während der die von den Verfassungsvätern geordnete Welt existierte, wurden Schwule und Lesben diskriminiert, ausgegrenzt, verfolgt, kriminalisiert, bespuckt, geschlagen und getötet. Das ist ein gesellschaftliches Faktum, und das kommt nicht vor in Narrativ A. Genauso wenig kommt James Obergefell in diesem Narrativ vor, und was ihm angetan wird, wenn ihn die Behörde, die der Liebe seines Lebens den Totenschein ausstellt, als einen Fremden behandelt. Ihm wird damit ja nicht nur gesagt, dass er, was er gern hätte, leider nicht bekommen kann. Ihm wird gesagt: du zählst hier nicht, du kannst schon froh sein, wenn wir dich nicht gleich einsperren oder umbringen, denn du bist ein Schwuler. Auch das kommt nicht vor.
Narrativ A entgegnet darauf: Das mag schon sein, dass das nicht vorkommt, aber da können wir doch nichts dafür. Die Not von Schwulen und Lesben kommt halt nun einmal nicht vor in der Verfassung, solange sie niemand hineingeschrieben hat. Und hineinschreiben kann sie nur die verfassungsgebende bzw. -ändernde Gewalt – also die Politik.
Das ist wiederum eine sehr saubere, wohl geordnete Welt, die in diesem Argument gezeichnet wird. Aber auch hier: Das ist nicht die Welt, in der wir leben. Diese Art von Verfassungspositivismus macht nur blind gegenüber der Tatsache, dass Richter Entscheidungen treffen. Dass sie eine Wahl treffen zwischen Dies und Dies Nicht. Verbietet die Verfassung, das Wahlrecht in den Südstaaten unter den Vorbehalt zu stellen, dass es keine Schwarzen diskriminiert? Dies ja. Verbietet die Verfassung, den Einfluss von Milliardären auf den Wahlkampf zu regulieren? Dies ja. Verbietet die Verfassung, Amerikanern das Tragen von Waffen zu verbieten? Dies ja. Verbietet die Verfassung, gleichgeschlechtliche Paare den Zugang zur Ehe zu verwehren? Dies nicht.
Es weiß doch jeder, dass es kein Zufall ist, dass von den neun Richtern sich immer die gleichen vier zusammenfinden und mit ja bzw. nein stimmen, mit Richter Kennedy als Swing Vote, der den Aussschlag gibt (und dafür dann das Urteil schreiben darf). Wer behauptet, die eigene Wahl sei durch vorgelagerte politische Entscheidungen bzw. die eigene Rechtsprechungshistorie prädeterminiert, der macht sich bewusst und gezielt blind für die Selektionskriterien, die hier am Werk sind.
Diese Selektionskriterien sind sicherlich politisch, da haben die vier Dissenter völlig Recht. Aber sie sind nicht nur gesellschaftspolitisch i.S.v. Präferenzen für bestimmte gesellschaftliche Verteilungslagen gegenüber anderen. Sie sind auch verfassungspolitisch. Sie sagen etwas aus über das Verständnis von Verfassung und ihrer Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft, womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.
Verfassungen sind nicht einfach nur da, sondern sie sind für etwas da. Wer sich eine Verfassung gibt, der erlegt sich rechtliche Bindungen auf, um wahrnehmungsfähiger zu werden. Verfassungsrecht bindet die Eigenen, die Augen aufzumachen und sich konfrontieren zu lassen von den Anderen. Wahrzunehmen, was die meinen, die etwas Anderes meinen. Wahrzunehmen, was die glauben, die etwas Anderes glauben. Menschen- und Minderheitenrechte schränken die Macht ein, aber sie machen sie gleichzeitig wahrnehmungsfähiger, effektiver in der Verarbeitung gesellschaftlicher Realitäten und damit am Ende – mächtiger.
Gemessen an dieser Funktion ist es nicht allein politische Sympathie für die Homo-Ehe, die mich ins Lager des Narrativ B treibt. Ihre Rekonstruktion von Verfassung hat einfach mehr Power. Die Verfassung des Narrativ A taugt nicht viel. Sie ist stumpf und blind, die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt sich nur höchst selektiv in ihr, und die Selektionskriterien kriegt sie obendrein nicht richtig in den Blick. Sie ist in den Händen von Verfassungsrichtern das, was ein schartiges Skalpell in den Händen eines Chirurgen wäre (man lese nur das Votum von Scalia – der Mann ist ein Blogger, kein Richter!). Mit einer solchen Verfassung kann man, welche politischen Präferenzen auch immer man verfolgt, nicht zufrieden sein.
Auch ich habe durchaus mehr Sympathien für Narrativ B.
Besonders schön gefällt mir, dass den Erzählern von Narrativ A gar nicht bewusst wird, dass das, was sie zu vermeiden suchen, ihnen sowieso nicht gelingt: Auch wenn der supreme court sich genau anders herum entschieden hätte: Man hätte doch – in der exakt selben Besetzung – in der selben Frage eine Antwort gegeben. Nur halt die exakt andere (die man bislang für den Konsens hielt).
Wenn sich Scalia und Co eine solche Entscheidung nicht zutrauen, stellt sich doch die Frage, warum er eigentlich seinen Job hat…
@Max: “Ihre Rekonstruktion von Verfassung hat einfach mehr Power.” – Dafür hat der Verfassungsgeber weniger Power, richtig?
That’s right, sir! Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in den USA notorisch wenig Power, es ist ja faktisch so gut wie gar nicht möglich, die Verfassung zu ändern. Um so mehr kommt es darauf an, dass das Verfassungsgericht das Seine dazu tut, damit die Verfassung nicht stumpf und blind wird.
@Max: No further questions your Honor.
Nicht dass es mich stören würde, aber nach welchen Regeln werden eigentlich generisches Maskulinum und Gender Gap verwendet? (Bei namentlich aufgeführten Personen wird das soziale Geschlecht wohl bekannt sein, während anomyme “Richter” immer männlich sind?)
Das Urteil belegt auch und erneut, dass es eine neutrale oder gar unschuldige Methode in der Verfassungsinterpretation nicht geben kann. Die Grenzziehung zwischen “politisch” und “rechtlich” ist selbst schon immer politisch. Der Verweis auf eine versteinerte Verfassung, zu deren Auslegung nur der historische Originalsinn herangezogen werden darf, führt zu bestimmten Ergebnissen, die – das ist in den USA wie in Deutschland sehr deutlich – von politischen Interessen getragen sind.
Im aktuellen Urteil kann ich Roberts J. seine angebliche Neutralität nämlich nicht so recht abnehmen. Zwar schreibt er einerseits: “Whether same-sex marriage is a good idea should be of no concern to us.” (S. 2 seines Dissents) Doch schon bald schreibt er dann diese starken Sätze: “The premises supporting this concept of marriage are sofundamental that they rarely require articulation. The human race must procreate to survive. Procreation occurs through sexual relations between a man and a woman.When sexual relations result in the conception of a child,that child’s prospects are generally better if the motherand father stay together rather than going their separate ways. Therefore, for the good of children and society, sexual relations that can lead to procreation should occuronly between a man and a woman committed to a lasting bond.” (S. 5 seines Dissents) Dass hierin ein starkes politisches Statement, ja eine inhaltliche Überzeugung zum Ausdruck kommt, bedarf wohl kaum näherer Erläuterung.
Es ist im Übrigen eine ihrerseits interessante Beobachtung, wie selektiv bestimmte Neuerungen in der Verfassungsinterpretation für zulässig oder unzulässig gehalten werden. So darf man getrost für den Parlamentarischen Rat unterstellen, dass er im Traum nicht auf die Idee gekommen wäre, aus Grundrechten könne eine Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung (!) abgeleitet werden, um die Menschenwürde ungeborener Embryos zu schützen. Dass dies eine sicherlich nicht sehr originalistische Interpretation ist, die da der Menschenwürde völlig neue Gehalte abgewinnt, scheint aber offenbar für die subjektiv-historischen Auslegungsmethodiker kein allzu großes Problem darzustellen. Auch hier zeigt sich: There is no innocent method of interpretation.
Die wechselseitige Unterstützung der Menschen, mit der ihre Macht- und Interessenkämpfe auf friedliche Weise ausgetragen werden und die Menschen in Freiheit und Gleichheit solidarisch miteinander leben können, ist eine notwendige Bedingung für den Fortbestand ihres Zusammenlebens. Die hinreichende Bedingung für den Fortbestand zusammen lebender Gesellschaften, und damit jeder Gesellschaft, ist aber, dass sie sich reproduzieren (können).
Ohne wechselseitige Verantwortungsübernahme dafür gibt es ihren Fortbestand nicht. Die wechselseitige Unterstützung der Menschen endet dann, wenn sie damit ihren Fortbestand, und damit den ihres Zusammenlebens, nicht mehr sichern (können).
Solange ein „geklonter Fortbestand“ nicht Kultur wird, Recht wird, kommt es also für ihren Fortbestand auf unterschiedliches Geschlecht an.
Katharina Mangold hat zu recht darauf verwiesen: „There is no innocent method of interpretation.“ Nebenbei bemerkt: unschuldig ist auch das herrschende Verständnis nicht, jemand müsse auslegen, was der andere mit seiner Aussage meine, darin richtig sei oder nicht.
Dass Menschen nicht gleich sind, für diese Aussage braucht es keine Auslegung, was damit gemeint sei, ob mit ihr Richtiges ausgesagt wird oder nicht. Mit dem Wort Mensch wird ein erkanntes Merkmal des Lebens bezeichnet, mit dem ein erkannter Unterschied zu anderem Leben ausdrückt wird.
Mit dem Wort Ehe wurde zu einer bestimmte historischen Zeit, und wird auch heute noch, ein erkanntes Merkmal des Zusammenlebens von zwei Menschen, welche sich zur Reproduktion ihres Fortbestandes als dafür miteinander verbunden verstanden haben und verstehen, bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist das Wort Ehe ein Begriff und wurde und wird als Begriff verwendet.
Das historisch entstandene Wort Ehe und das damit begriffene Zusammenleben zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts ist Bestandteil einer bestimmten Kultur des Zusammenlebens geworden und ist es noch.
Das Wort Ehe ist also mit dem kulturellen Verständnis eines für den Fortbestand des Zusammenlebens wichtigen bestimmten Merkmals verbunden und wird deshalb in dieser Kultur allgemein als Begriff verwendet. Mit diesem bestimmten Merkmal wird mit „Ehe“ auch ein festgestellter Unterschied zu anderen (eingetragenen) Lebenspartnerschaften, verstanden, die nicht das gleiche Merkmal haben.
„Gleich vor dem Gesetz“ sind deshalb die Menschen nicht erst dann, wenn alle Menschen, die sich miteinander verbunden verstehen, so verbunden miteinander zusammen leben wollen, dafür das Wort Ehe wie ein Begriff verwenden können.
Der Kampf um die „Gleichheit vor dem Gesetz“, ist also nicht ein Kampf um ein Recht auf gleiche Bezeichnung, um die rechtliche Anerkennung und Verwendung eines Wortes (hier „Ehe“).
Die als Kampf bezeichnete Auseinandersetzung ist eine um das kulturelle Verständnis von „Ehe“, um das Verstehen von „Lebenspartnerschaft“, also einerseits um eine Veränderung des Verständnisses der notwendigen Bedingungen für den Fortbestand des Zusammenlebens und andererseits eine um die Bewahrung des Verständnisses der für den Fortbestand der Menschen hinreichend Bedingung.
Die notwendigen Bedingungen sind, und das auf keinen Fall unschuldig, auslegbar. Die hinreichende Bedingung nicht.
Ich weiß nicht so recht… Könnte man nicht auch Narrative A und B irgendwie zusammenführen oder so eine Art “arithmetischen Mittelwert” bilden? Also ich bin nicht 100%ig von der Argumentation überzeugt. Ich kann es nicht als “logisch zwingend” betrachten, die Ehe auch für Homosexuelle zu öffnen.
Ich bleibe auch wiedermal an der Grundsatzfrage stehen, was denn eigentlich “Diskriminierung” ist. Zumal die Ehe ja von Grund auf ein Konstrukt des Menschen ist und keineswegs lebensnotwendig… Und formal betrachtet ist in der Tat jeder vor dem Gesetz gleich: Jeder hat die Möglichkeit zu heiraten, nur eben nach der Spielregel, dass es jemand des anderen Geschlechts sein muss. Dass diese Spielregel nicht den Bedürfnissen von ca. 20% der Gesellschaft entspricht, kann als Missstand empfunden werden – aber ist das notwendigerweise als Diskriminierung zu betrachten? Haben Menschen mit “anderen Bedürfnissen” grundsätzlich den Anspruch, dass der Staat auf sie besonders eingeht und die Gesetze entsprechend anpasst?
Ich will mein Anliegen nicht mit dem von Homosexuellen gleichsetzen, aber als Gelegenheitskiffer müsste ich mir dann auch wegen “Diskriminierung” gegenüber Alkoholkonsumenten mehr Geltung verschaffen können. (Man nehme mal an, das sei für mich ein wichtiges und essentielles Bedürfnis. Der gelegentliche Joint sei ein bewusst gewählter und außerordentlich geschätzter Teil meines Lebens.)
Der Rollstuhlfahrer hat wiederrum das Bedürfnis, dass er in jeden Bus und jede Bahn ohne fremde Hilfe einsteigen kann.
Natürlich wäre eine solche Welt wünschenswert. Ich tue mich nur schwer damit, den Bahnsteig ohne Aufzug für Behinderte als “diskriminierend” zu empfinden.
Die erwähnte harte Lebensrealität für den schwulen Lebenspartner, der auf dem Totenschein nicht als “Hinterbliebener” eingetragen werden kann, könnte man auch aufheben, ohne gleich die Verfassung im Alleingang umzuinterpretieren. (Kann sowas nicht auch über die Patientenverfügung geregelt werden?)
@ Oliver Kascha: Exactly my point. Die “formale” Betrachtung, die “Spielregel”, wonach Ehe nur für Heteros ist, verschließt die Augen vor dem gesellschaftlichen Resonanzboden, auf dem die individuelle Situation von Leuten, die heiraten wollen, aufsitzt. Wenn man, um mal irgendein Beispiel zu wählen, es mit Kindern zu tun hat, die aus irgendeinem Grund finden, sie sollten auch heiraten dürfen, dann könnte man mE problemlos sagen, tut uns leid, aber die Ehe ist nicht für euch, die ist für andere gemacht als für euch, und das wäre nicht diskriminierend. Wenn man das aber gegenüber Schwulen und Lesben tut, dann versetzt man damit diesen gesellschaftlichen Resonanzboden in Schwingung, der in jahrhundertelanger Verfolgung und gesellschaftlicher Exklusion von Schwulen und Lesben besteht. Dann nimmt die scheinbar so harmlose Aussage, dass hier ja nur neutrale Spielregeln und ein vorgefundener Ehe-Begriff angewandt werden, den Charakter einer Aussage iSv “Du zählst nicht, weil du ein Schwuler bist” an, und zwar unabhängig von der Intention des Äußernden.
Um bei Ihren zwei Beispielen zu bleiben: Bei Kiffern könnte ich mir ggf. einen solchen gesellschaftlichen Resonanzboden vorstellen, ganz bestimmt aber bei Rollstuhlfahrern. Natürlich diskriminiert ein fahrstuhlloser Bahnsteig Rollstuhlfahrer, aus genau dem gleichen Grund, nämlich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bis vor kurzem und eben zT auch noch heute Menschen mit Behinderungen ignoriert, ausgegrenzt, institutionalisiert und in der Entfaltung ihrer Lebenschancen “behindert” werden, als gezielte und sehr robuste gesellschaftliche Strategie im Umgang mit der Differenz zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.
Harte Lebensrealität? You bet. Narrativ A sagt, tough luck, aber nicht unser Problem. Narrativ B sagt, so etwas machen wir nicht. Dazwischen einen Mittelweg? Wüsste nicht, welchen.
Haben die demnach wohl fünf Richter des Narrativs B denn konkret über die Aufnahme in den Totenschein entschieden und damit der Grundrechtseinschränkung direkt abgeholfen?
Oder könnten sie eventuell, wie die Richter des Narrativ A demnach eventuell zu vermeiden suchen, evt. Drittbelastend weitergehend als erforderlich und damit kompetenzüberschreitend geurteilt haben?
Ein vermittelnder Weg könnte sich doch vielleicht andenken lassen, selbst wenn dies Betroffenen als zu wenig erscheinen könnte, wie etwa mit Anerkennung eines ähnlich gleichberechtigten Status beispielsweise in Form einer “Lebenspartnerschaft” o.ä.?