Verfassungsstreitigkeiten jenseits von Chinas Regulierung terroristischer Online-Äußerungen
Die Unterdrückung von Äußerungen im Internet durch die chinesische Regierung ist fast schon legendär. Sie wird mit Kritik und Flüchen überhäuft. Sie ist im In- und Ausland auf Widerstand gestoßen. Sie hat in der ganzen Welt Aufmerksamkeit, Forschung, Untersuchungen und Literatur hervorgerufen. Dennoch ist es ihr gelungen, zusammen mit der Militärmacht der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) einen unüberwindlichen Eckpfeiler dessen zu schmieden, was der Oxford-Professor Stein Ringen als “perfekte Diktatur” des Parteistaats bezeichnet hat. Im Grunde genommen sind alle autoritären Staaten besorgt über unkontrollierte Äußerungen im Internet und die Bedrohung, die sie für die monopolistische Herrschaft dieser Regierungsform und ihre Führung darstellen könnten. Bereits 2009 hat die Shanghai Cooperation Organisation in einem Abkommen, das autoritäre Staaten zusammenführt, einen “Informationskrieg” vorhergesagt. Im Jahr 2015 erließ China das nationale Sicherheitsgesetz, den National Security Act (NSA), dessen Art. 25 “Cyber-Souveränität” vorschreibt. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die anmaßende Behauptung staatlicher Souveränität in einer virtuellen Umgebung und die Bewaffnung des Internets. Vermutlich zielt ein solcher umfassender Informationskrieg auch auf terroristische Äußerungen ab. In der Tat legt Art. 19 des Anti-Terror-Gesetzes den Grundsatz dar, terroristische Äußerungen im Einklang mit den einschlägigen Vorschriften für Online-Äußerungen zu bekämpfen. Um Chinas Herangehensweise an terroristische Äußerungen zu verstehen, ist es daher unabdingbar, über terroristische Äußerungen hinauszugehen und das Gesamtbild der sich in China entwickelnden Agenda zur Unterdrückung von Äußerungen im Internet zu verstehen.
Ein Regelungsrahmen mit vagem Sprachkonsequentialismus
Auf einer bahnbrechenden Plenartagung im Jahr 2014 verpflichtete sich die KPC, ihren Beschluss zur Neudefinition und Umgestaltung der Parteistaatsstruktur in nationale Gesetze umzusetzen. In den darauffolgenden sieben Jahren wurden Chinas Gesetze und Vorschriften zu Äußerungen im Internet in beispielloser Weise ausgeweitet, insbesondere durch die Verfassungsänderung von 2018, die die Disziplinarorgane der KPC zu einer verfassungsmäßigen Macht aufwertet und ihnen erlaubt, Äußerungen aller Staatsbediensteten zu überwachen. Der derzeitige Rechtsrahmen für die Regulierung von Äußerungen im Internet stützt sich in erster Linie auf eine Reihe von Rechtsquellen, darunter die chinesische Verfassung, vom Nationalen Volkskongress (Chinas zentraler Legislative) erlassene Gesetze, vom Staatsrat und den ihm angehörenden Ministerien und Abteilungen (Chinas Zentralregierung) erlassene Verordnungen sowie die gerichtlichen Auslegungen des Obersten Volksgerichts (SPC/Chinas höchster Gerichtsinstanz). Dieser Flickenteppich der Regulierung von Online-Äußerungen beruht im Wesentlichen auf Chinas verfassungsmäßigen Mandaten zum Schutz von Äußerungen einerseits und deren Einschränkungen andererseits. In einem marxistisch-leninistischen Einparteienstaat liegt der Schwerpunkt jedoch immer auf der regulatorischen Seite. In China gibt es drei Arten von verfassungsrechtlichen Vorbehalten gegen den “Missbrauch von Äußerungen im Internet”, die jeweils mit verschiedenen Formen von sprachrepressiven Vorschriften gespickt sind, die auf Sprachkonsequentialismus ausgerichtet sind.
Der erste und wichtigste Vorbehalt sind nationale Interessen, mit “nationaler Sicherheit” an erster Stelle. Alle neueren Gesetze, einschließlich des NSA, des Cybersecurity Act (2016), des Anti-Espionage Act (2017) und des Counterterrorism Act (2018), beziehen sich auf dieses grundlegende, jedoch unklar definierte Konzept. In den meisten Fällen erfasst der Begriff “nationale Sicherheit” Online-Äußerungen, die die Regierung, ihre Beamten und ihre Politik kritisieren, was als Aufwiegelung oder Subversion gewertet werden könnten. Alternativ dazu können auch Äußerungen, die angeblich “nationale Geheimnisse preisgeben”, als potenzielle Bedrohung für das Regime angesehen werden. Außerdem definiert der Counterterrorism Act den Begriff “Terrorismus” im Sinne von “das Ziel, politische, ideologische und andere Zwecke zu verwirklichen”. So vage diese Anschuldigungen auch sein mögen, die Strafen sind in jedem Fall klar: Online-Redner können mit Geldstrafen, Verwarnungen, Verwaltungshaft oder anderen Strafen belegt werden.
Der zweite Vorbehalt betrifft gesellschaftliche Interessen. Alle Online-Äußerungen, die das Potenzial haben, soziales Chaos, Verwirrung und letztlich kollektives Handeln auszulösen, werden als sozial und politisch schädlich angesehen. Dies ist auch ein Fall, der durch den Counterterrorism Act definiert ist. Solche Redner riskieren eine Straftat mit der Bezeichnung “Streit suchen, um Ärger zu provozieren”. Strategisch gesehen ordnen Zensoren und Staatsanwälte auch die meisten Online-Äußerungen im Zusammenhang mit Aufwiegelung und Volksverhetzung in diese offene Kategorie ein, um größere Aufmerksamkeit und Kritik an der Verfolgung politisch Andersdenkender zu vermeiden. Zu den “sozialschädlichen Äußerungen” können Massenproteste und die Beleidigung von Nationalflaggen gehören. Aber auch Pornografie und Online-Gerüchte können darunterfallen. Letzteres ist eine der jüngsten rechtlichen Entwicklungen Chinas zur Kontrolle der “unverantwortlichen Verbreitung von Online-Äußerungen”. In der Praxis werden Whistleblower von den Behörden jedoch häufig durch diese sprachbeschränkende Vorschrift zum Schweigen gebracht, insbesondere im Falle einer Pandemie, die auf die Unfähigkeit der Regierung zurückgeführt werden könnte.
Der letzte Vorbehalt betrifft die Interessen Einzelner. Diese Art der Regulierung von Online-Äußerungen zielt darauf ab, Redefreiheit im Namen des Schutzes des eigenen Rechts auf Gleichberechtigung, des Rufs, der Privatsphäre und des Urheberrechts einzuschränken. Der Counterterrorism Act hebt vor allem die Bedrohung durch Online-Hass und extremistische Äußerungen hervor. Die Regulierung kann zur Verfolgung von Äußerungen führen, die oft die radikale Reaktion der Regierung auf ethnische Spannungen, religiöse Feindseligkeiten, regionale Konfrontation oder Geschlechterdiskriminierung auslösen. Solche Vorschriften könnten aber auch auf Verleumdung und üble Nachrede abzielen. In Fällen, in denen die Meinungsäußerung nicht direkt in Verbindung zu staatlichen Belangen steht, kann die Rechtsdurchsetzung an materielle Verluste geknüpft werden, z. B. an wirtschaftliche Verluste aufgrund von Rechtsverletzungen. Eine bemerkenswerte Form der Verleumdung wird durch das chinesische Gesetz zum Schutz von Helden und Märtyrern aus dem Jahr 2018 geschaffen, das jede angebliche Beleidigung oder Verleumdung von Personen verbietet, die der Staat als Helden oder Märtyrer definiert. Unter diesem Gesetz wurde sogar schon eine Online-Parodie einer solchen Person strafrechtlich verfolgt.
Extraterritorialität: Wie lang kann ein autoritärer Langarm sein?
Mit einem derartigen sprachrepressiven Regime will Chinas autoritärer Staat seinen globalen Einfluss durch eine weitreichende Regulierung von Meinungsäußerungen im Internet, einschließlich terroristischer Äußerungen, ausweiten. Auf ihrem 19. Parteitag erklärte die KPC, sie wolle “ins Zentrum der Weltbühne rücken”. Dies war ein klarer Aufruf, der in allen Bereichen des Internets nachhallt, von politischen bis hin zu kommerziellen und akademischen Äußerungen. Während die zeitgenössische Regulierung von Online-Äußerungen von einem koexistenten Dreieck aus Staaten, Plattformen und Endnutzern ausgeht, macht Chinas autoritäres Modell der Sprachregulierung sowohl Medienplattformen als auch Nutzer zu passiven Empfängern seiner Befehle. Art. 43 des Cybersecurity Act, welcher dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) vorausgeht, legt die Notice-and-Takedown-Maßnahmen für Internet Service Provider (ISPs) in umfassender Weise fest. Tatsächlich handelt es sich hierbei lediglich um eine Ausweitung seiner etablierten Online-Zensurregelungen. In der Tat unterwirft Art. 49 dieses Gesetzes dieses System der Sprachüberwachung der staatlichen Aufsicht, und Art. 50 ermächtigt die Regierungsbehörden, die Übermittlung von Informationen ins Ausland zu blockieren, wenn sie Gefahr erkennen. Diese Grundsätze sind in Artikel 19 des Counterterrorism Act verankert und haben eine weltweit abschreckende Wirkung zur Folge.
Kürzlich hat die chinesische Cyberspace-Verwaltung neue Verordnungsentwürfe veröffentlicht, um die Nutzung von VPNs zum Besuch von Websites aus dem Ausland zu verbieten, und gleichzeitig die scheinheilige Geste gemacht, um “öffentliche Kommentare” zum Schritt des autoritären Regimes zu bitten, das Strafmaß für die Suche nach und den Empfang von Informationen aus dem Ausland zu erhöhen. Für einzelne Nutzer, deren Finger auf der Tastatur unter einer Vielzahl von drakonischen Zensurvorschriften zittern, ist dieser Entwurf lediglich ein letzter Nietschlag zur Versiegelung des Sarges. Diese Maßnahme könnte jedoch nur eine Ergänzung zu einer Reihe von Vorschriften gegen multinationale Internet- und Hightech-Unternehmen sein, die in der Vergangenheit lukrative Geschäfte in China getätigt haben. Die KPC ist sich der enormen Auswirkungen auf den digitalen Handel und den elektronischen Geschäftsverkehr auf der anderen Seite des Pazifischen Ozeans wohl bewusst: Wenn sie beschließt, Äußerungen im Internet zu regulieren und große inländische soziale Medien zu bestrafen, werden die Aktionäre an der Wall Street den Schmerz in ihren Büchern spüren, die National Basketball Association wird die Pille der Selbstzensur aus Angst, Marktanteile in China zu verlieren, schlucken, und Microsoft wird seine lokalisierte Version von LinkedIn schließen müssen.
Im Vergleich zu den USA scheint Europa sogar noch anfälliger für Chinas Online-Sprachregelungen zu sein. Die auffälligsten Beispiele für die abschreckende Wirkung kommen nicht aus der Wirtschaft, sondern aus den Bereichen Wissenschaft, Bildung und Kultur. Im Jahr 2017 wurde festgestellt, dass der weltweit größte akademische Buchverlag Springer den Zugang zu politisch sensiblen Titeln in China blockiert hatte, nachdem die Cambridge University Press von den chinesischen Behörden die Anweisung erhalten hatte, ähnliche Titel zu zensieren. In der Tat gibt es einige wichtige Stimmen, die die Frage stellen, ob sich China den Weg in die britischen Universitäten erkauft hat, wenn man die umfangreichen Bildungsdienstleistungen und Forschungspartnerschaften zwischen den beiden Ländern bedenkt. Vor kurzer Zeit lehnte ein Konfuzius-Institut an zwei deutschen Universitäten einen Buchvortrag über Chinas obersten Führer ab und löste damit eine Debatte darüber aus, ob die Freiheit der Lehre in Deutschland in Peking entschieden wird. In Frankreich mussten zwei Universitäten in Lyon ihre Partnerschaft mit dem Konfuzius-Institut früher beenden, als Beamte aus Peking von der französischen Seite verlangten, ihren Lehrplan zugunsten der Ideologie der chinesischen Regierung zu überarbeiten.
Der Aufstieg des chinesischen Konstitutionalismus: Ein Moment der Verfassungsfäule für westliche Demokratien?
Wie oben analysiert, ist ein umfassender Rahmen zur Regulierung von Online-Äußerungen, einschließlich terroristischer Äußerungen, in Chinas Verfassung verankert, und zwar seit der berühmten Verfassungsänderung von 2018, mit der die Amtszeitbegrenzung des Staatspräsidenten aufgehoben und der “Xi Jinping-Gedanke” als neue ideologische Leitlinie des Landes bestimmt wurde. Damit festigt die Verfassung die Infrastruktur des Parteistaats im Zeitalter einer durchweg digitalisierten Welt. Damit vollzieht der chinesische Staat eine verblüffende Wende hin zur Legalisierung eines politisch repressiven Regimes.
In gewissem Sinne sind diese Auswirkungen der chinesischen Online-Regelungen eine Folge des Aufstiegs des “chinesischen Konstitutionalismus“, eines in sich widersprüchlichen Begriffs, der in einem autoritären Staat entstanden ist und nicht viel Aufmerksamkeit erregte, als er gegen Ende der chinesischen Post-Deng-Reformära aufkam. Mit der Zunahme des selbstbewussten politischen Einflusses Chinas in der Welt hat er jedoch an Bedeutung gewonnen. In den Augen einiger chinesischer Verfassungsrechtler basiert der chinesische Konstitutionalismus auf der politischen Philosophie des deutschen Rechtswissenschaftlers Carl Schmitt, der Mitglied der Nazipartei war, ist mit dieser verbunden und ihr sehr ähnlich. Diese politische Theorie wurde unter anderem dafür kritisiert, dass sie totalitäre Macht unterstützt, indem sie den Feind des Regimes hervorhebt und das Recht zur Verwirklichung politischer Ziele instrumentalisiert.
Die oben erwähnte Rechtsagenda der KPC aus dem Jahr 2014 passt in diesen theoretischen Rahmen. Tatsächlich war “Herrschaft durch Recht” (Instrumentalisierung des Rechts für politische Ziele) anstelle von Rechtsstaatlichkeit die politische Weisheit der alten chinesischen Herrscher. Bereits im zweiten Jahrhundert v. Chr bemerkte ein chinesischer Politiktheoretiker, dass “Rechtschaffenheit und Güte die Schneide eines Fürsten sind, während Macht und Gesetze lediglich sein Messer und seine Axt sind” (夫仁義恩厚,人主之芒刃也;權勢法制,人主之斤斧也). Dieser Ansatz, Recht und Moral miteinander zu verbinden, um ein Land zu regieren, findet ein verblüffendes Echo in der Dichotomie von “Gesetz der Gerechtigkeit und Gesetz der Liebe” (loi de justice et loi d’amour), die letztlich dazu diente, die Pressefreiheit in Frankreich im 19. Jahrhundert einzuschränken. Diese dualistische Sichtweise von Recht und Politik wurde von Chinas ehemaligem Staatspräsidenten Jiang übernommen, doch die Rechtsauffassung des Vorsitzenden Xi ist eher nach innen gerichtet und grenzt an das, was ich “Ich bin das Gesetz” (le droit, c’est moi) nennen würde. Diese Version der Herrschaft-durch-Recht-Taktik ist noch weit von dem entfernt, was Friedrich der Große, ein aufgeklärter Despot Preußens im 18. Jahrhundert, als ersten Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit bezeichnete.
Wie Balkin argumentiert, kann jede liberale Demokratie in verschiedenen Stadien der politischen Stagnation eine Phase der “Verfassungsfäule” durchlaufen. Chinas blühendes autoritäres System der Sprachregulierung sieht zumindest für sich selbst eine rasch untergehende westliche Zivilisation vor, die es durch seinen Informationskrieg und seine Desinformationskampagnen zu erobern versucht. Vor diesem Hintergrund propagiert Chinas kriegerische “Wolfskrieger-Diplomatie” ihren Glauben in großem Stil. Chinesische Diplomaten führen diese Show auf verschiedenen Social-Media-Plattformen in liberalen Demokratien in immer heftigerer Form durch, obwohl es normalen Chinesen auf dem Festland verboten ist, ausländische Websites zu besuchen.
Die westlichen Länder wehren sich gegen diesen Online-Informationskrieg in einer Allianz. Australien sagt nein. Frankreich sagt nein. Deutschland sagt nein. Das Vereinigte Königreich sagt nein. Um nicht zu sagen, dass die Beziehungen zwischen China und den USA auf einem stetigen Weg zur Hölle sind – teilweise aufgrund dieses Online-Informationskriegs. Vielleicht gibt es keine sichtbaren physischen Konflikte. Vielleicht sind autoritäre und liberale Regeln zur Regulierung terroristischer Äußerungen auf technischer Ebene weitgehend identisch. Aber es gibt einen kaum zu vereinbarenden, grundsätzlichen Konflikt zweier Arten von Verfassungswerten, die die Meinungsfreiheit, die den zentralen Zugang zur politischen Teilhabe sichern soll, unterschiedlich behandeln: Das Überleben des einen Regimes hängt von einem florierenden Szenario von Äußerungen im Internet ab, das des anderen von einem erstarrten. Jeder, der dieses Recht am Leben erhalten will, sollte sich daran erinnern, was Platon uns gelehrt hat: “Eine der Strafen für die Weigerung, sich an der Politik zu beteiligen, besteht darin, dass man am Ende von den Unterlegenen regiert wird”. Auch die KPC hat sich vor 1949 an diese Worte erinnert. Nach 1984 wird man das kaum noch tun.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Beitrags, ‘Constitutional Battles beyond China’s Regulation of Online Terrorist Speech‘ , durch Felix Kröner.