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06 September 2023

Parlamentarische “Entscheidungen in eigener Sache”

Demokratische parlamentarische Entscheidungen beruhen in einer idealtypischen Perspektive darauf, dass das Gemeinwohl durch den deliberativen politischen Prozess herausgearbeitet und verwirklicht wird. Anders als im Bereich der Administrative und Judikative soll die Gemeinwohlorientierung hier also gerade nicht durch eine Entpolitisierung, sondern umgekehrt durch eine umfassende Politisierung erreicht werden. Aufgrund der Pluralität des Gremiums sollen sich dabei die gegenläufigen politischen Interessen ausgleichen und insgesamt zu einem gemeinwohlförderlichen Ergebnis führen.

Dieses Modell der Gemeinwohlfindung im politischen Prozess kommt jedoch an seine Grenzen, wenn nicht über allgemeine gesellschaftliche Fragen, sondern spezifisch über die Bedingungen des politischen Systems selbst verhandelt wird. In der Regel haben hier alle Beteiligen unabhängig von einer individuellen persönlichen Betroffenheit ein strukturell gleichlaufendes Interesse, zugunsten bestimmter Eigeninteressen als politischer Akteure und gegen das Gemeinwohl zu entscheiden. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden diese Fallgruppen oft unter dem Stichwort der Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache diskutiert.

Dabei können die Interessen der politischen Akteure politisch übergreifend gleichlaufend sein, wie das etwa bei der Frage nach der Verkleinerung des Parlaments oder einer allgemeinen Erhöhung der Parteienfinanzierung, sie können sich gezielt gegen einzelne konkurrierende politische Akteure richten, etwa, indem, wie bei der 5%-Sperrklausel, kleine oder neue Parteien benachteiligt werden oder einzelne Akteure aus der Finanzierung der mit ihnen verbundenen politischen Stiftungen herausgehalten werden. Sie können aber auch möglicherweise politische Konfliktlinien im aktuellen Mehrheitssystem widerspiegeln, wie das in den USA seit Jahrzehnten bei der Gestaltung des Wahlrechts beobachtet wird und vereinzelt auch für die jüngste Reform des Bundeswahlgesetzes und die damit verbundene „Abschaffung“ der Grundmandatsklausel argumentiert wurde.

Wie sind solche Konstellationen der „Entscheidung in eigener Sache“ verfassungsrechtlich und politikwissenschaftlich zu analysieren und zu bewerten? Welche Bedeutung haben sie für die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Demokratie? Welche Mechanismen können den Konflikt entschärfen? Können aus der Verfassung bestimmte prozedurale Pflichten oder aber die Notwendigkeit der Einschaltung unabhängiger Akteure abgeleitet werden. Diesen Fragen will sich das Online-Symposium aus rechts- wie politikwissenschaftlicher Sicht widmen und dabei sowohl grundsätzlich Probleme als auch aktuelle Beispiele (Parteienfinanzierung, Wahlrecht, Stiftungsfinanzierung) ausloten.


SUGGESTED CITATION  Schönberger, Sophie: Parlamentarische “Entscheidungen in eigener Sache”, VerfBlog, 2023/9/06, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-entscheidungen-in-eigener-sache/, DOI: 10.17176/20230906-182917-0.

One Comment

  1. Thorsten Sterk Tue 8 Oct 2024 at 15:49 - Reply

    Die Befangenheit von Fraktionen und Abgeordneten bei Entscheidungen “in eigener Sache” sind tatsächlich evident. So bekommt der Deutsche Bundestag eine tragfähige Reform des Wahlrechts seit 2008 ebenso wenig hin wie das belgische Parlament seit 20 Jahren eine Reform der Parteienfinanzierung.

    In Bremen geht man den schon in Baden-Württemberg bewährten Weg, bei der Frage der Altersversorgung der Abgeordneten ein zufällig gelostes Bürgerforum Empfehlungen entwickeln zu lassen.

    Wahlrecht: Bundestag braucht Bürgers Rat: https://www.buergerrat.de/aktuelles/wahlrecht-bundestag-braucht-buergers-rat

    Belgischer Bürgerrat für Reform der Parteienfinanzierung: https://www.buergerrat.de/aktuelles/belgischer-buergerrat-fuer-reform-der-parteienfinanzierung/

    Bürgerversorgung zu Abgeordnetenversorgung in Bremen: https://www.buergerrat.de/aktuelles/buergerforum-zu-abgeordnetenversorgung-in-bremen/

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