25 June 2025

Piraterie in der Ostsee

Zu den weitreichenden völkerrechtlichen Eingriffsbefugnissen gegenüber der russischen Schattenflotte

Immer häufiger kommt es auf der Ostsee zu Sabotageakten und elektromagnetischen Signalstörungen, für die Schiffe der russischen Schattenflotte verantwortlich gemacht werden. Da sich diese Aktionen oft in internationalen Gewässern abspielen, herrscht unter manchen Rechtswissenschaftlern und Praktikern Skepsis, ob Marine und Küstenwache eingreifen können. Eine „schlafende“, aber immer noch gültige Norm des Anti-Piraterierechts bietet für die Ostsee-Anrainerstaaten allerdings sehr weitreichende Möglichkeiten, genau das zu tun.

Ein „gefährlicher geopolitischer Hotspot“

Als Bundesaußenminister Johann Wadephul vor wenigen Tagen die Kieler Sicherheitskonferenz eröffnete, nannte er die Ostsee einen „gefährlichen geopolitischen Hotspot“ (hier). Die Ostsee sei ein Gebiet geworden, „in dem die Gefahr einer militärischen Konfrontation real geworden“ sei. Wadephul bezog sich hierbei auf Russlands immer aggressivere hybride Aktivitäten in einer „Schlüsselregion für die Sicherheit Europas“.

In der Tat: Die Zerstörung der beiden Stränge der Nordstream-Pipelines im September 2022, deren Urheberschaft nach wie vor unklar ist, war der Auftakt zahlreicher Sabotageaktionen in der Ostsee: Am 17. November 2024 hat das unter chinesischer Flagge mit einem russischen Kapitän fahrende Schiff Yi Peng 3 mutmaßlich zwei Datenkabel jeweils zwischen Schweden und Litauen, sowie zwischen Finnland und Deutschland durchtrennt. Am 25. Dezember 2024 hat der Tanker EagleS mutmaßlich zwei weitere Datenkabel zwischen Estland und Finnland und ein Stromkabel zerstört. Das Schiff ist daraufhin von der finnischen Marine aufgebracht worden. Seitdem hat es zahlreiche weitere Fälle defekter Kabel in der Ostsee gegeben, die mit verdächtigem Verhalten von Schiffen der Schattenflotte korrelieren, (z.B. hier). Jüngst eilte ein russischer Kampfjet einem von der estnischen Marine angehaltenen Schiff der Schattenflotte „zu Hilfe“ und verletzte dabei sogar den Luftraum eines NATO-Staats.

Daneben berichten Seefahrer auf der Ostsee immer häufiger und schon seit Längerem von Störungen ihrer GPS-Empfänger (u.a. hier und hier) durch sogenannte Spoofer und Jammer. Die Störungen gehen nach einer aktuellen polnischen Studie von sehr starken auf Schiffen der russischen Schattenflotte montierten Störsendern aus (hier) und beeinträchtigen die sichere Navigation auf der Ostsee. Rechtlich gilt der Einsatz solcher Störsender als Waffengebrauch. Elektromagnetisch ist der erste „Schuss“ auf der Ostsee also längst gefallen.

Da sich diese Vorfälle meist in internationalen Gewässern ereignen, kommt es für ein rechtmäßiges resolutes Vorgehen gegen die Sabotage- und Störaktionen auf eine genaue Analyse des geltenden Seevölkerrechts an. In der medialen Diskussion überwiegen zumindest in Deutschland Stimmen, die argumentieren, dass Marine und Küstenwache jenseits des Küstenmeeres weitgehend die Hände gebunden seien: Den europäischen Ostsee-Anrainerstaaten fehlten jenseits ihrer Hoheitsgewässer die nötigen völkerrechtlichen Eingriffsbefugnisse (zuletzt hier, hier und hier), um effektiv gegen die russische Schattenflotte in der Ostsee vorzugehen.

Viele internationale Seevölkerrechtler sehen dies mit überzeugenden Argumenten allerdings anders: Der Grund ist eine alte seerechtliche Vorschrift, die zwar seit Langem allgemeine Geltung besitzt, aber noch nie angewandt worden und deshalb scheinbar in Vergessenheit geraten ist. Nach dieser Vorschrift ist die mutwillige Beschädigung von Seekabeln und anderer Infrastruktur auf hoher See und in der Ausschließlichen Wirtschaftszone ein Akt der Piraterie. Das räumt staatlichen Schiffen fast unbegrenzte Eingriffsbefugnisse ein.

Wie lässt sich jenseits der Hoheitsgewässer gegen Sabotageakte vorgehen?

Die Einschätzung, dass sich Angriffe auf Infrastruktur jenseits des Küstenmeeres unter den Tatbestand der Piraterie subsummieren lassen, ist erst einmal überraschend, weil sie von der allgemeinen und geläufigen Kurzdefinition der Piraterie abweicht. Nach dieser Definition liegt Seeräuberei nämlich nur dann vor, wenn private Schiffe zu privaten Zwecken rechtswidrige Gewalttaten begehen, die auf Hoher See oder in der Ausschließlichen Wirtschaftszone gegen andere Schiffe oder Luftfahrzeuge gerichtet sind. Sie erfasst also nur Angriffe auf Kabelleger, nicht aber auf Seekabel selbst.

Die Pirateriedefinition des 1994 in Kraft getretenen und von der überwältigenden Mehrheit der Staaten – darunter Russland – ratifizierten Seerechtübereinkommens enthält aber über diese geläufige Kurzdefinition hinaus noch einen zweiten Unterabsatz, der weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Nach diesem Absatz liegt Piraterie auch dann vor, wenn ein privates Schiff eine rechtswidrige Gewalttat an jedem anderen Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, gegen andere Vermögenswerte verübt. Zu solchen Vermögenswerten zählen auch Pipelines und Seekabel auf hoher See und in der Ausschließlichen Wirtschaftszone.

Der Grund dafür, dass diese Norm ein Schattendasein führt, liegt in ihrer Historie. Inspiriert wurde sie durch die Harvard Research Draft Convention on Piracy von 1932. Sie findet sich auch im Genfer Abkommen über die Hohe See von 1958, das wiederum auf die Arbeit der UN-Völkerrechtskommission zurückgeht. Daran  anschließend wurde sie nahezu unverändert ins Seerechtsübereinkommen übernommen.

Die Bestimmung hatte damals das Ziel, jenseits von angegriffenen Schiffen insbesondere jene Terra-Nullius-Inseln zu erfassen, die noch nicht von einer “Kulturnation” in Besitz genommen worden waren. Hierdurch sollten Handelsfahrer, die dort mit den indigenen Ureinwohnern Handel trieben, vor den Übergriffen landender Piraten geschützt werden. Mit dem Verschwinden der letzten Terra-Nullius-Inseln schien auch die Norm gegenstandslos geworden zu sein. Bestrebungen, die Klausel bei den Vorarbeiten zum Seerechtsübereinkommen zu streichen, blieben allerdings erfolglos. So scheiterte etwa ein Vorschlag Maltas aus den 70er Jahren, der die Pirateriedefinition auf Akte gegen Schiffe oder Flugzeuge beschränken wollte.

Dabei gab es schon viel früher Versuche, Kabelsaboteure explizit zu Piraten zu erklären: Bereits in den Vertragsverhandlungen zum Seekabelschutzvertrag von 1884 wurde erwogen, Akte der mutwilligen Kabelzerstörung als Piraterie zu behandeln. Dem Kabelschutzvertrag sind insgesamt nur 36 Staaten beigetreten – kein einziger in den letzten hundert Jahren. Damit bleibt seine Relevanz weit hinter dem Seerechtübereinkommen zurück. Und auch die Eingriffsbefugnisse gestalten sich weniger weitgehend als die gegen Piraten, weil der Flaggenstaat dem Eingriff stets zustimmen muss. Statt diesen Nischenvertrag weiter zu propagieren, entschied sich die Staatengemeinschaft also für eine grundlegende Kodifikation des gesamten Seerechts mit einer weitreichenden Pirateriedefinition, die auch Kabelsaboteure erfasst.

Piraten oder Korsaren?

Schiffe der Schattenflotte als Piratenschiffe zu behandeln, sieht sich dem Einwand ausgesetzt, dass es sich potentiell eben gerade nicht um private Schiffe handelt, die zu privaten Zwecken agieren – was das Seerechtsübereinkommen verlangt. Allerdings kennt das Seerecht auch Piraten, die im staatlichen Auftrag handeln, schon seit Menschengedenken. Seerechtler bezeichnen solche Seeräuberei unter der Autorität einer kriegführenden Macht als Kaperei und ihre Akteure als Korsaren. Polen etwa setzte im 16. Jahrhundert Korsaren gegen die Handelsschifffahrt ins kurz zuvor durch Russland eroberte Narva ein. Der Versuch Polens im 20. Jahrhundert, Übergriffe chinesischer Staatsschiffe auf polnische Handelsschiffe als Akte der Piraterie zu qualifizieren, fand international allerdings nur wenig Anerkennung: Akte staatlich autorisierter Kaperei sind nämlich streng von seeräuberischen Aktivitäten Privater zu unterscheiden.

In der Pariser Seerechtserklärung von 1856 einigten sich die Konfliktparteien des Krimkriegs – gefolgt von weiteren Staaten – auf die Abschaffung der Kaperei. Heute wird das völkerrechtliche Verbot der Kaperei von vielen als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts verstanden und Kaperei als ein Akt illegaler Kriegsführung eingeordnet.

Will Russland sich nicht vorhalten lassen, NATO- und EU-Staaten bereits illegal angegriffen zu haben, muss es die Autorität über jeden Sabotageakt abstreiten. Bestreitet ein Staat jedoch seine Verantwortung, wird ein solches Handeln in der Regel als Piraterie angesehen – denn ein Kaperschiff ohne Kaperbrief galt historisch stets als Piratenschiff. Während sich Korsaren auf dem internationalen Parkett bewegen durften, wurden Piraten seit dem 17. Jhd. als Hostis Generis Humani – Feind des Menschengeschlechts – bezeichnet. Als Kaperer qualifiziert zu werden, war also mit rechtlichen und gesellschaftlichen Privilegien verbunden und musste von den jeweiligen Korsaren bewiesen werden. Andernfalls waren sie als Piraten „vogelfrei“. Das gleiche galt für Personen, die auf Autorisation eines anderen als ihres Flaggenstaatstaats hin Kaperei betrieben oder die Befugnisse ihres Kaperbriefs überschritten: Auch diese galten als Piraten. Dieses überkommene Verhältnis zwischen Piraterie und Kaperei bildete auch die Grundlage der heutigen Pirateriedefinition des Seerechtsübereinkommens. Ein Schiff, das seeräuberische Handlungen ausübt, gilt so lange als Piratenschiff, bis sich der Flaggenstaat zu dessen Handlungen bekennt, indem er sich diese zurechnet oder der Kapitän nachweisen kann, nicht zu privaten Zwecken gehandelt zu haben.

Das vom Seerechtsübereinkommen vorausgesetzte Tatbestandsmal der privaten Zwecke wird überwiegend weit ausgelegt. Zu solchen „Zwecken“ zählen selbst Rache und Hass, wie die UN-Völkerrechtskommission bereits in den 50er Jahren feststellte. Auf den klassischen Willen zum Stehlen kommt es gerade nicht an. Nur Rebellen und Bürgerkriegsparteien werden aufgrund ihrer überwiegend politischen Motive nicht als Piraten bezeichnet. Da die Besatzungen der Schattenflotte aber auch wirtschaftliche Motive verfolgen dürften, zählen auch sie bei Sabotageakten als Piraten, Anderes mag allenfalls im Fall der Nord-Stream-Pipeline gelten, sofern sich die Urheber der Explosionen allein auf politische Motive berufen.

Rechte der Marine und Küstenwache gegenüber Piraten

Was folgt nun aus der Einstufung als Piratenschiff? Das Seerechtsübereinkommen ist hier eindeutig: Jeder Staat kann auf Hoher See oder an jedem anderen Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht – wie der Ausschließlichen Wirtschaftszone –  ein Seeräuberschiff oder -luftfahrzeug aufbringen, die Personen an Bord des Schiffes oder Luftfahrzeugs festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte beschlagnahmen. Darüber hinaus besitzen Staatsschiffe das Recht, ein verdächtiges Piratenschiff zu betreten. Der jeweilige Flaggenstaat muss dafür keine Erlaubnis erteilen. Es ist auch nicht als ultima ratio ausgeschlossen, ein Piratenschiff zu beschießen.

Die Behauptung, aus völkerrechtlichen Gründen nichts gegen die russische Schattenflotte und ihre Sabotageakte unternehmen zu können, ist also falsch. Im Gegenteil: Das internationale Seevölkerrecht gewährt den Staaten sehr weitgehende Befugnisse. Die International Law Association bestätigte dies auch in einem Gutachten von 2024:„Während diese Interpretation der Piraterie rechtlich plausibel ist, ist es ungewiss, ob die Staaten dieses Recht gegenüber der mutwilligen Zerstörung von Kabeln und Pipelines auch annehmen wollen.“ (Übersetzung des Autors) Es geht also weniger ums rechtliche Dürfen als ums politische Wollen. Es ist Zeit, dass sich die Ostseeanrainerstaaten nicht länger hinter einer vorgeschobenen Befugnislosigkeit verstecken, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht handeln: Dieses enthält im Seerechtsübereinkommen nämlich nicht nur das Recht zum Aufbringen von Piratenschiffen, sondern sogar die Pflicht aller Staaten, in größtmöglichem Maße bei der Bekämpfung der Seeräuberei zusammenzuarbeiten.


SUGGESTED CITATION  von Rochow, Moritz: Piraterie in der Ostsee: Zu den weitreichenden völkerrechtlichen Eingriffsbefugnissen gegenüber der russischen Schattenflotte, VerfBlog, 2025/6/25, https://verfassungsblog.de/piraterie-ostsee-volkerrecht/, DOI: 10.59704/e5182ec70120a041.

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