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Die Asyl- und Abschiebepolitik zu Afghanistan zu Zeiten von Covid-19
Dieser Beitrag erscheint auch auf FluchtforschungsBlog.
An diesem Mittwoch, den 7. April wird vom Flughafen in Berlin-Schönfeld eine weitere Sammelabschiebung nach Afghanistan stattfinden. Diese Sammelabschiebungen sind zur Normalität geworden und in der Berichterstattung kaum mehr der Rede wert. Ebenso wenig die regelmäßigen Anschläge in dem Land, das sich in einer katastrophalen humanitären Situation befindet. Nach den Erhebungen des Global Peace Index ist Afghanistan derzeit das gefährlichste Land der Welt. In keinem anderen Staat weltweit sterben mehr Menschen aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen. Zugleich ist das Land auch als Folge der jahrzehntelangen Gewalt eines der ärmsten Länder der Welt. Die Notlage hat sich durch Corona-Pandemie nochmals massiv verschärft. Afghanistan wird vom Robert-Koch-Institut als Hochinzidenzgebiet eingestuft.
Angesichts der Gefahren, der Versorgungslage und der Lebensbedingungen in Afghanistan kann es eigentlich nur ein Gebot geben: Einen bedingungslosen und für alle Schutzsuchenden geltenden Abschiebungsstopp. Dieser ist aber politisch nicht gewollt. Statt dem Primat der Menschenrechte zu folgen, praktizieren das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit 2015 mit zweifelhaften rechtlichen und tatsächlichen Argumenten eine Politik der Abschreckung und Abschottung, mit einem schlichten Motiv: Geflüchtete aus Afghanistan, einem der Hauptherkunftsländer, sind in Deutschland nicht erwünscht. Der Rechtsstaat und die Rechtsprechung können und wollen diese restriktive Politik nur bedingt kompensieren.
Restriktive Maßstäbe im Asylverfahren
Die Chancen, als afghanische*r Staatsangehörige*r in Deutschland durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Schutz zu erhalten sind keineswegs sicher: 2020 lag die sogenannte – von formalen Entscheidungen – ‚bereinigte Schutzquote‘ bei 62 Prozent. Bereits diese Zahl erscheint nochmals in schlechterem Licht, wenn man berücksichtigt, dass ein Großteil der Schutzzuerkennungen – die Zahlen liegen hier erst für das erste Halbjahr 2020 vor – von anderen Familienangehörigen abgeleitet wurde und insbesondere Kinder von bereits Schutzberechtigten betrifft.
Die hohe Zahl von Ablehnungen haben zunächst mit einer besonderen Lesart des Asylgesetzes (AsylG) zu tun, in welchen Fällen Menschen Schutz gewährt wird, wenn in ihrem Herkunftsland ein bewaffneter Konflikt stattfindet: Gemäß § 4 AsylG wird der sogenannte subsidiäre Schutz gewährt, wenn im Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ vermutet werden muss (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG). Diese individuelle Bedrohung setzt, gestützt durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, eine Gefahrendichte voraus, in der praktisch jede Zivilperson einer Bedrohung ausgesetzt ist. Das wird wiederum in der Regel nur dann bejaht, wenn die Gesamtzahl der in der Region lebenden Menschen in Beziehung zu der Häufigkeit willkürlicher Gewaltakte und der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten eine Schwelle von 1:800 erreicht. Dieser „body-count-Index“ würde bei einer statistischen Betrachtung etwa während der Bombardierung des Zweiten Weltkriegs auch für die Bewohner*innen von Coventry oder Dresden eine individuelle Gefahr verneinen. Für die Bewohner*innen Afghanistans, wo zweifelsohne ein für alle Menschen gefährlicher und landesweiter Konflikt herrscht, ist der subsidiäre Schutzstatus nach diesem vom BAMF und der deutschen Rechtsprechung praktizierten Maßstab praktisch ausgeschlossen. Da dieser Maßstab vor allem europarechtliche Zweifel aufwirft und fraglich ist, ob er mit den Vorgaben zum subsidiären Schutz nach der EU-Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg diese Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. Der zuständige Generalanwalt des EuGH, Priit Pikamäe, ist in seinem Schlussantrag zu dem Ergebnis gekommen, dass eine derart starre Betrachtung dem Europarecht widerspricht. Stattdessen müsse eine Gesamtwürdigung vorgenommen werden, die neben einer rein quantitativen Betrachtung die Intensität und die Dauer des Konflikts, den Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und ihre Methoden und Taktiken in den Blick nimmt. Eine Entscheidung des EuGH steht noch aus.
Dass viele afghanische Staatsangehörige keinen Schutz durch das BAMF erhalten – in Form einer Flüchtlingsanerkennung bei politischer Verfolgung, durch subsidiären Schutz oder in Form von Abschiebungsverboten – hat einen weiteren Grund: Es ist politisch nicht gewollt, Menschen aus einem der Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden ein sicheres Bleiberecht zu verschaffen. Dieser politische Unwille wird durch fragwürdige juristische Konstruktionen und zweifelhafte tatsächliche Argumente gestützt. So formulierte ein Beschluss der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD von 2015 die neue Vision der Asylpolitik zu Afghanistan: „Wir wollen zur Schaffung und Verbesserung innerstaatlicher Fluchtalternativen beitragen und vor diesem Hintergrund die Entscheidungsgrundlagen des BAMF überarbeiten und anpassen. Dies ermöglicht auch eine Intensivierung der Rückführungen.“ Dabei stand nicht ernsthaft eine Verbesserung der Bedingungen in Afghanistan im Mittelpunkt.
Darauffolgend wurden 2016 die Herkunftsländerleitsätze, die maßgeblich für die Entscheidungspraxis des BAMF herangezogen werden müssen, geändert. Seitdem werden insbesondere junge gesunde Männer in den Entscheidungen des BAMF darauf verwiesen, dass ihnen ein Leben jedenfalls in einzelnen Großstädten wie Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif zugemutet, beziehungsweise diese Orte als inländische Schutzalternative vorrangig in Anspruch genommen werden können, was den Schutz in Deutschland ausschließt. Diese Maßgabe trifft zunehmend auch afghanische Schutzsuchende, die als Minderjährige eingereist und einen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben. Mit Erreichen der Volljährigkeit werden sie mit einem Widerrufsverfahren konfrontiert, weil ihnen ebenfalls eine inländische Schutzalternative zugemutet werden könne. Sie gilt auch bei einer geltend gemachten Verfolgung, etwa durch die Taliban. Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann weist verschiedentlich darauf hin, dass insbesondere Personen, die nach Afghanistan zurückkehren, schnell in den Fokus der landesweit vernetzten Taliban gelangen und aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa als Spione oder Verräter bedroht und verfolgt werden. Diese Gefahr schmälert zugleich die Möglichkeiten, auf ein familiäres Netzwerk zurückzugreifen – eine Möglichkeit, auf die das BAMF regelmäßig verweist – wenngleich die Familien ebenfalls Angst haben, sich durch die Unterstützung von Rückkehrer*innen in die Gefahr einer Verfolgung zu bringen.
Die restriktive Linie des BAMF und des Bundesinnenministeriums steht in engem Zusammenhang mit den Diskursen zu den politischen Konsequenzen aus dem Sommer der Migration 2015 und dem Bestreben der Bundesregierung, Fluchtbewegungen und Schutzmöglichkeiten von Geflüchteten in Deutschland aus den Hauptherkunftsländern einzuschränken. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière formulierte den Primat der Politik vor dem Recht ganz plakativ, indem er sagte: „Unsere […] Sorge ist im Moment in Europa die große Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan. Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: ‘Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa […] direkt nach Afghanistan zurück!‘“ Dieses Mantra ist seitdem nicht in Frage gestellt worden – trotz aller Berichte, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan seitdem eher noch verschlechtert als verbessert hat.
Regelmäßige Abschiebungen
Zugleich forcierte das Bundesinnenministerium 2016 seine Bemühungen, Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen und schloss im Februar 2016 ein bilaterales Rückführungsabkommen mit der afghanischen Regierung. Es folgte im Dezember 2016 eine erste Sammelabschiebung nach Kabul mit 34 Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden waren. Bis zum März 2020 wurden insgesamt 907 Menschen von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben, bis die Abschiebungen pandemiebedingt ausgesetzt wurden. Diese Pause währte jedoch nur neun Monate, der nächste Abschiebflug fand im Dezember 2020 statt. Die nächste Sammelabschiebung wird an diesem Mittwoch von Berlin aus starten.
Die Abschiebungen sind dabei keineswegs – und entgegen anderslautender Aussagen der einschlägigen Innenpolitiker*innen – auf Straftäter*innen und Gefährder*innen beschränkt. Betroffen sind vielmehr, insbesondere in Bayern, auch solche Menschen, die bereits jahrelang in Deutschland leben, einer Ausbildung oder Arbeit nachgehen, und keinerlei Straftaten aufweisen.
Die Abschiebepraxis wird flankiert von einer Politik der freiwilligen Rückkehr durch das, durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) koordinierte StarthilfePlus-Programm, das finanzielle Anreize – in Höhe von 1.000 € für sechs bis acht Monate – für eine Rückkehr auch nach Afghanistan bietet. Das Programm hat allerdings wenig mit Freiwilligkeit zu tun, wenn alternativ eine Abschiebung droht, und finanzielle Mittel zudem nicht vor den Gefahren schützt, die allen Menschen in Afghanistan drohen.
Deutschland ist nicht allein mit seinem Bestreben, Schutzsuchenden aus Afghanistan mit einer Politik der Abschottung und Abschiebung zu begegnen: Ebenfalls bereits 2016 war zwischen der EU und der afghanischen Regierung ein Abkommen namens „Joint Way Forward“ geschlossen worden, in dessen Zentrum der Ausbau der Abschiebungskooperationen stand. Bis 2020 wurden daraufhin unter der Ägide von Frontex zusätzlich nochmal fast 2.000 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben. Das Abkommen wurde gerade durch die sogenannte Joint Declaration on Migration Cooperation abgelöst, wobei zwei Punkte bemerkenswert sind: Erstens findet sich in dem Abkommen keine Reaktion auf die sich stetig verschlechternde Sicherheits- und humanitäre Lage, sondern wird vielmehr eine Verschärfung vorgenommen, indem auch bei besonders schutzbedürftigen Personen nur im Ausnahmefall von Abschiebungen abgesehen werden soll. Zweitens wurde das Abkommen allein durch den Rat und die Kommission ausgehandelt und beschlossen, wohingegen das Europäische Parlament außen vorgelassen wurde – eine Politik der undemokratischen Rechtssetzung, die ausweislich des EU-Türkei-Deals keine Seltenheit in der europäischen Migrationspolitik ist.
Zu berücksichtigen ist schließlich, dass zahlreiche abgelehnte Schutzsuchende aus Afghanistan nicht abgeschoben werden, und eine Abschiebung angesichts der Praxis einiger Bundesländer, die nicht oder nur in wenigen Einzelfällen nach Afghanistan abschieben, auch kurzfristig nicht befürchten müssen. Nichtsdestotrotz leben auch diese Menschen zum einen in ständiger Angst, zum anderen bietet das Aufenthaltsrecht und seine Praxis auch im Fall einer Arbeit oder Ausbildung keineswegs sichere Perspektiven, die ein richtiges Ankommen ermöglichen.
Korrekturen durch die Rechtsprechung
Die strenge Linie des BAMF und des Bundesinnenministeriums wurden durch die Verwaltungsgerichte über die letzten Jahre nur teilweise bestätigt. Während zwar große Teile der Rechtsprechung die Maßstäbe des BAMF zum Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative bis dato gestützt haben, finden in zahlreichen Fällen gerichtliche Korrekturen statt: Nach Angaben der Bundesregierung sind von Januar bis September 2020 fast 60 Prozent aller Entscheidungen des BAMF zu Afghanistan durch die Verwaltungsgerichte aufgehoben worden. 2019 lag die Aufhebungsquote bei 48,7 Prozent, und 2018 bei 57,6 Prozent.
Hinzu kommen zunehmende Tendenzen in der Rechtsprechung, aufgrund der massiven Verschlechterungen der medizinischen und ökonomischen Situation durch die Corona-Pandemie in Afghanistan Abschiebungen zu untersagen. In einer bemerkenswerten Entscheidung vom Dezember 2020 (Az. A 11 S 2042/20) hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg seine bisherige Rechtsprechung revidiert und in besonderer Ausführlichkeit dargelegt, dass auch die Abschiebung eines alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen Mann derzeit in der Regel gegen Art. 3 EMRK verstößt, da „die afghanische Wirtschaft von den Auswirkungen der Pandemie schwer und nachhaltig getroffen worden“ und es ohne versorgendes Netzwerk nicht möglich sei, auf „legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen.“ Indem das Gericht demnach eine Abschiebung nur dann menschenrechtskonform erachtet, wenn ein familiäres oder soziales Netzwerk die Versorgung sicherstellen kann, verlangt es vom BAMF, und nicht von den Antragsteller*innen, eine Darlegung, dass ein ebensolches Netzwerk existiert. Auch das Oberverwaltungsgericht Bremen hat in zwei Entscheidungen aus dem September und November 2020 ausgeführt, dass ein alleinstehender, gesunder junger Mann regelmäßig „im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan [nicht] in der Lage sein wird, dort wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen“.
Zugleich ist es in der Vergangenheit in Einzelfällen gelungen, eine Abschiebung durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verhindern. In einem kürzlich ergangenen Beschluss vom 09.02.2021 hat das BVerfG dabei ebenfalls auf die medizinischen und ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie verwiesen. So habe das zuständige Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht seine aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleitete Pflicht zur Aufklärung des Sachverhaltes verletzt, „denn es beschäftigt sich nicht damit, wie sich die COVID-19-Pandemie auf das afghanische Gesundheitssystem auswirkt.“ Darüber hinaus habe sich das Verwaltungsgericht „nicht damit auseinandergesetzt, ob es dem Antragsteller praktisch überhaupt möglich sein wird, nach seiner Ankunft in Kabul auf ein familiäres Netzwerk zurückzugreifen.“ Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte ein Mann gestellt, der auf eine Drogen- und Substitutionstherapie angewiesen ist, die insbesondere in der derzeitigen Situation nicht zugänglich sein dürfte. Diese Ausführungen sind zum einen ein formaler Hinweis auf die gerichtlichen Aufklärungspflichten und knüpfen damit an vormalige Entscheidungen des BVerfG an, in denen die Verwaltungsgerichte an ihre Pflicht zur „tagesaktuellen“ Erfassung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage erinnert werden – anstatt, insbesondere in schnell zu entscheidenden Eilverfahren, allein auf die eingefahrene Rechtsprechung oder gar nur auf den Bescheid des BAMF zu verweisen. Zum anderen muss die Entscheidung als klarer Fingerzeig gedeutet werden, dass sich das BVerfG der Sichtweise etwa des VGH Baden-Württemberg anschließt und angesichts der derzeitigen Situation jedenfalls erhebliche grundrechtliche Bedenken gegenüber Abschiebungen nach Afghanistan hat.
Die neuerlichen Tendenzen in der Rechtsprechung, unter Verweis auf die massive Verschlechterung der humanitären Situation Abschiebungsverbote zu verlangen und eine neue Bewertung vorzunehmen, sollten auch dazu führen, abgeschlossene Verfahren einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
Lücken des Rechtsstaats
Die weitreichenden Korrekturen der Entscheidungspraxis des BAMF durch die Verwaltungsgerichte und einzelne Entscheidungen des BVerfG, könnten zu einem vorsichtig positiven Fazit verleiten: Der Rechtsstaat funktioniert. Diese Schlussfolgerung wäre allerdings zu kurz gegriffen. Denn ein kompletter Abschiebungsstopp nach Afghanistan ist nicht die Aufgabe von Gerichten, er muss durch die Politik erfolgen.
Wenn eine Behörde in mehr als der Hälfte der Verfahren falsche Entscheidungen trifft, ist die Rechtmäßigkeit der Verwaltung in Gefahr, wenn sie ihre Entscheidungspraxis nicht in Frage stellt. Wenn Abschiebungen in Einzelfällen erst kurz vor dem wörtlichen Abflug durch das BVerfG gestoppt werden können, werden all diejenigen Menschen ausgeschlossen, denen ein solch aufwendiges Verfahren in der Kürze der Zeit nicht möglich ist. Wenn eine rechtlich fragwürdige Praxis erst in einem langwierigen Verfahren vor dem EuGH in Frage gestellt wird, verbleiben viele Menschen über lange Jahre in Angst und Unsicherheit, bevor ihre Rechte abschließend geklärt sind.
Die rechtliche Behandlung von Schutzsuchenden aus Afghanistan offenbart damit ein Grundproblem des Flüchtlingsrechts: Dass eine restriktive Politik der Abschottung und Abschreckung legislative und exekutive Fakten schafft, die durch den Rechtsstaat nur bedingt kontrolliert und kompensiert werden können. Es ist an sich nicht bedenklich, sondern einem System von Gewaltenteilung und hierarchisierter Verwaltung inhärent, wenn exekutive Vorgaben in eine Verwaltungspraxis münden, die erst nach geraumer Zeit durch die Judikative geprüft wird. Bedenklich sind die Vorgaben des Bundesinnenministeriums und des BAMF zum Umgang mit Schutzsuchenden aus Afghanistan aus einem anderen Grund: Sie folgen nicht dem Primat des Rechts und der Menschenrechte, sondern sie wollen die Gewährung von Menschenrechten verhindern.
“Dieser „body-count-Index“ würde bei einer statistischen Betrachtung etwa während der Bombardierung des Zweiten Weltkriegs auch für die Bewohner*innen von Coventry oder Dresden eine individuelle Gefahr verneinen.”
Solche Vergleiche sind der Argumentation eher abträglich. Sie wirken deplaziert und sind zudem auch in der Sache unrichtig. (Die Luftangriffe auf Dresden etwa “forderten zwischen 22.700 und 25.000 Todesopfer”. Dies würde bei der vom BVerwG geforderten Quote von 1:800 und der vom Autor vertretenen Auffassung bedeuten, dass in Dresen mehr als 18 Millionen Menschen gelebt hätten. )
Diese Ausführungen sind tatsächlich unklar und irreführend – und ganz schlicht darauf zurückzuführen, dass ich spezifierende Ausführungen im Rahmen der Redaktion misslicherweise rausgekürzt, und damit den Inhalt verdreht habe.
Um das Ganze noch einmal umfassender zu erläutern:
Die Rechtsprechung ist keinesfalls so klar, wie suggeriert. Die besagte Quote von 1:800 bzw. im Promillebereich ist ein Ausgangspunkt (vgl. etwa BVerwG, U. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 45), der sich an sich u.a. aus der Rechtsprechung des EGMR (Sufi und Elmi, Urteil vom 28.06.2011 – 8319/09, 11449/07) ergibt – und die freilich zahlreiche Szenarien und erst recht auch das zitierte Beispiel von Dresden einschließt. Das BVerwG und die sonstige Rechtsprechung lassen diese Schwelle – und das ist der wirkliche Kritikpunkt – allerdings nicht allein genügen (vgl. zB (BVerwG, U. v. 13.2.2014 a. a. O. Rn. 24), sondern es wird verlangt, dass entweder besondere gefahrerhöhende Umstände vorliegen, (zB in der Person des*der Kläger*in liegende Momente die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe; schlechte medizinische Versorgungslage u.a.), oder es muss ansonsten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit vorliegen, die gemeinhin auf 50 % quantifiziert wird bzw. einen so hohen Gefahrengrad verlangt, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, U. v. 17.11.2011 a. a. O. Rn. 19; siehe zB auch:
VGH München, Beschluss v. 17.01.2017 – 13a ZB 16.30182,
https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2017-N-100999). Auf dieser Grundlage ist es denn auch nachvollziehbarer, dass eine individuelle Gefahr in Afghanistan praktisch ausgeschlossen ist, und auch eine Gefahr für die Bewohner*innen von Dresden, wo man den gängigen Statistiken zufolge von einer Gefahrendichte von 10,6 % ausgehen muss, ausgeschlossen wäre. Jedenfalls ist es äußerst wichtig, dass diese Fragen vom EuGH geklärt werden.
Zur weiteren Lektüre empfehle ich u.a. einen Aufsatz des Richters Paul Tiedemann von 2016 (Gefahrendichte und Judiz, ZAR 2016, 53, 60) sowie von Prof. Nora Markard von 2014 (Markard, Die Gefahrintensität im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt, NVwZ 2014, 565, 568).