„Prüffall“ revisited?
Im Februar 2019 hatte die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine inzwischen rechtskräftige einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts Köln gegen die Bundesrepublik Deutschland nach § 123 VwGO erstritten (VG Köln, Beschluss vom 26. Februar 2019 – 13 L 202/19). Das Gericht hat seinen Beschluss wie folgt tenoriert:
„Dem Bundesamt für Verfassungsschutz [BfV] wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, in Bezug auf die Antragstellerin zu äußern oder verbreiten, diese werde als ‚Prüffall‘ bearbeitet“.
Der aktuellen Presseberichterstattung ist zu entnehmen, dass sich die AfD erneut gerichtlich dagegen wehren wolle, als „Prüffall“ des Verfassungsschutzes bezeichnet zu werden. Angeblich habe der Staatssekretär des Bundesinnenministeriums Hans-Georg Engelke im April in einer schriftlichen Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von einer „weiteren Bearbeitung des Prüffalls“ gesprochen. Zuvor soll sich zudem der dortige Parlamentarische Staatssekretär Marco Wanderwitz ähnlich geäußert haben.
Kein Verstoß gegen die einstweilige Anordnung
Sollten die fraglichen Äußerungen tatsächlich gefallen sein, würden diese zunächst einmal nicht Verpflichtungen verletzten, die sich aus dem unanfechtbar gewordenen Beschluss des VG Köln ergeben. Allerdings ist auch eine Entscheidung nach § 123 VwGO durch Beschluss (§ 123 Abs. 4 VwGO) der Rechtskraft fähig. Zwar nennt die Bestimmung über die Rechtskraft (§ 121 VwGO) nur „Urteile“; auf § 121 VwGO verweist der für Beschlüsse geltende § 122 Abs. 1 VwGO nicht. Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass auch Beschlüsse materielle Rechtskraftwirkung entfalten, wenn sie einen der Rechtskraft fähigen Inhalt haben. Jedenfalls bei Beschlüssen nach § 123 VwGO ist dies der Fall (statt vieler OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Juli 1997 – 19 E 169/97, OVGE MüLü 46, 136; Happ, in: Eyermann, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 75; Rennert, in: Eyermann, ebd., § 121 Rn. 6). Denn einstweilige Anordnungen sollen im Rahmen ihrer gegenständlichen Reichweite Rechte sichern, wozu es aber einer Bindungswirkung bedarf.
Personal gebunden wird durch den Beschluss des VG Köln die Bundesrepublik Deutschland, die Partei des Prozesses war (§ 121 VwGO). Inhaltlich beschränkt sich die Bindungswirkung jedoch auf das, was im Tenor angeordnet wurde. Das VG Köln hatte es aber ausdrücklich nur dem BfV untersagt, die AfD als „Prüffall“ zu bezeichnen. Andere Organe des Bundes sind zwar an diesen Beschluss gebunden, werden aber durch seinen Inhalt nicht verpflichtet. Die Begrenzung des Tenors auf das BfV war durchaus konsequent, weil das Gericht seine Entscheidung im Wesentlichen – und meines Erachtens nicht durchweg überzeugend – darauf gestützt hatte, dass die Kommunikationsermächtigung des § 16 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) eine Bezeichnung als bloßer „Prüffall“ nicht decke.
Verletzen die bezeichneten Äußerung durch Amtswalter, die allenfalls für andere Behörden des Bundes getätigt wurden, nicht den Verpflichtungsgehalt des verwaltungsgerichtlichen Tenors, sind weder die Voraussetzungen des festgesetzten Ordnungsgeldes erfüllt, noch kommt eine Vollstreckung nach den §§ 167 ff. VwGO in Betracht.
Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit
Dies entbindet natürlich nicht von der Frage, ob die Bezeichnung als „Prüffall“ durch einen Staatssekretär oder einen Parlamentarischen Staatssekretär nach materiellen Recht zulässig ist. Immerhin ermächtigt die Rechtsgrundlage des § 16 BVerfSchG ausschließlich das BfV und keine anderen Bundesbehörden. Zwar mag – in den vom BVerfG herausgearbeiteten Grenzen – die Bundesregierung insoweit eine Sonderstellung einnehmen, als deren Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit vom BVerfG unmittelbar Art. 65 GG entnommen wurde (BVerfGE 105, 279, 301 ff. – Osho). Gerade in Bezug auf negative Äußerungen über Parteien, die im politischen Wettbewerb stehen, gelten dann aber im Wesentlichen die gleichen inhaltlichen Grenzen. Die Rechtsprechung des BVerfG ist hierbei sehr restriktiv (vgl. BVerfGE 113, 63 ff. – „Junge Freiheit“; BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2018 – 2 BvE 1/16, NJW 2018, 928 ff. – „Rote Karte für die AfD“).
Kein Totalverbot abwertender Äußerungen
Hieraus folgt jedoch kein Totalverbot von negativ wertenden Äußerungen gegenüber Parteien. Die Rechtsprechung des BVerfG hat jeweils der Exekutive im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit enge Ketten angelegt, um zu verhindern, dass eine demokratisch nur auf Zeit legitimierte Regierung ihre Verfügungsgewalt über die Machtmittel der Exekutive dazu missbraucht, politische Opposition zu drangsalieren und insoweit die Chancen des eigenen Machterhalts mit illegitimer Hoheitsgewalt zu erhöhen. Auch Fraktionen im Deutschen Bundestag unterliegen aus ähnlichen Gründen Schranken, ihre staatliche Finanzierung (§ 50 Abs. 1 Abgeordnetengesetz [AbgG]) zu parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen (§ 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG). Dies beschränkt allerdings – im Unterschied zur Bundesregierung – nicht die Inhalte freier Kommunikation durch die Abgeordneten, deren Kernaufgabe die politische Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner im Parlament ist, die aber hierzu über keine exekutivischen Machtmittel verfügen.
Notwendige institutionelle Differenzierung
Notwendig ist daher eine präzise institutionelle Differenzierung, wer in welcher Konstellation welche Äußerung tätigt. Auch nach der Rechtsauffassung des VG Köln darf das BfV durchaus weiterhin prüfen, ob und inwieweit die AfD als Gesamtpartei die Voraussetzung einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach §§ 3 f. BVerfSchG erfüllt. Erlaubt das geltende Recht anderweitig eine Äußerung hierüber, verletzt dies keine Rechte der AfD.
So wäre beispielsweise ein Beschäftigter des BfV gegenüber einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss – vorbehaltlich zulässiger Aussageverweigerungsgründe – verpflichtet, auf Fragen wahrheitsgemäß zu antworten (Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG, §§ 20, 22, 24 PUAG, §§ 153, 162 Abs. 2 StGB), was dann auch zutreffende Aussagen über Prüfvorgänge im Fall der AfD einschließt. Die „Ermächtigung“ der Regierung folgt hier schlicht der Zeugnispflicht der einzelnen Amtswalter. Antwortet ein Behördenvertreter wiederum wahrheitsgemäß auf Presseanfragen, erfüllt er Auskunftsansprüche nach Landespresserecht oder in Bezug auf Bundesbehörden (nach der Rechtsprechung des BVerwG) unmittelbar aufgrund der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG). Dies soll nach der – gewiss: inhaltlich angreifbaren – Rechtsprechung des BVerwG sogar zu mit der Auskunft einhergehenden Grundrechtseingriffen ermächtigen (BVerwGE 151, 348, Rn. 41). Manchmal muss eben nur der oder die Richtige das Richtige fragen.
Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen
Antwortet die Bundesregierung (vorliegend durch einen beamteten Staatssekretär) auf eine parlamentarische Anfrage, erfüllt sie eine Pflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag. Im Parlamentsverfassungsrecht ist inzwischen anerkannt, dass Abgeordneten mit dem Interpellationsrecht ein Informationsanspruch im weiteren Sinne zusteht, um die mit dem Mandat einhergehenden – wissensabhängigen – Aufgaben der parlamentarischen Staatswillensbildung und der Regierungskontrolle wirksam erfüllen zu können (BVerfGE 139, 194, 223). Namentlich ist ein Fragerecht mit korrespondierender Antwortpflicht notwendig, um Kontrollfunktionen effektiv ausüben zu können (BVerfGE 139, 194, 224).
Rechtsgrundlage für eine (wahrheitsgemäße) Aussage über die – rechtlich zulässige – Prüfung der AfD (sprich: die fortgesetzte Bearbeitung eines Aktenvorganges, der der Klärung dient, ob die AfD beobachtet werden darf) ist daher der korrespondierende Anspruch der fragenden Abgeordneten. Gerade eine Auskunftsverweigerung würde Informationsrechte der Abgeordneten verletzen, zumal die Bundesregierung hier nicht plausibel Geheimhaltungsgründe (z. B. Persönlichkeitsschutz oder Funktionsbedingungen wirksamer nachrichtendienstlicher Aufklärung) geltend machen kann. Dass geprüft wird, ist bereits öffentlich bekannt geworden und im Übrigen auch nicht geheimhaltungsbedürftig. Daher durfte Hans-Georg Engelke als Staatssekretär auf eine parlamentarische Anfrage Auskunft über den laufenden Prüfvorgang geben.
Der Parlamentarische Staatssekretär als Abgeordneter
Schwieriger zu beurteilen ist dies für einen Parlamentarischen Staatssekretär. Zu deren Status bestimmt § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre (ParlStG): „Mitgliedern der Bundesregierung können Parlamentarische Staatssekretäre beigegeben werden; sie müssen Mitglieder des Deutschen Bundestages sein, bei der Ernennung eines Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundeskanzler kann von diesem Erfordernis abgesehen werden“. Parlamentarische Staatssekretärinnen und Staatssekretäre sind also weiterhin Mitglieder des Deutschen Bundestags und dürfen sich als solche innerhalb wie außerhalb des Parlaments selbstverständlich politisch wertend oder kritisch über andere Parteien äußern. Dies gilt außerhalb des weitreichenden Schutzes durch die Indemnität nach Art. 46 Abs. 1 GG jedenfalls auch für wahrheitsgemäße Tatsachenbehauptungen. Dass die AfD weiterhin als „Prüffall“ vom BfV geführt wird (wovon auszugehen ist), muss sie sich also von Abgeordneten (wie im Übrigen auch von Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen ihrer Äußerungsfreiheit) entgegenhalten lassen.
Der Parlamentarische Staatssekretär als Parlamentarischer Staatssekretär
Unklar bleibt, was für einen Parlamentarischen Staatssekretär gilt, wenn er als solcher gehandelt hat. Dies liegt daran, dass die Rolle der Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatssekretäre in ihrer Relaisfunktion zwischen Parlament und Regierung bis heute ambivalent geblieben und mit funktionsbezogenen Unsicherheiten belastet ist. In welchem Kontext sich Marco Wanderwitz vorliegend entsprechend geäußert haben soll, lässt sich der Presseberichterstattung nicht entnehmen.
„Die Parlamentarischen Staatssekretäre unterstützen die Mitglieder der Bundesregierung, denen sie beigegeben sind, bei der Erfüllung ihrer Regierungsaufgaben“, so bestimmt es § 1 Abs. 2 ParlStG. Richtigerweise wird jedoch auch ein Parlamentarischer Staatssekretär durch diese Unterstützung nicht zum funktionalen Amtswalter innerhalb der Bundesregierung. Die Freiheit des Abgeordnetenmandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) bleibt uneingeschränkt erhalten; die damit verbundene Weisungsfreiheit steht einer Zurechnung zur Bundesregierung entgegen. Ein Parlamentarischer Staatssekretär spricht daher auch nicht im engeren Sinne als Amtswalter für die Regierung, sondern als Abgeordneter, der die Regierung unterstützt. Richtigerweise ergeben sich daher die Grenzen zulässiger Inhalte der getätigten Äußerungen aus dem Abgeordnetenmandat, nicht hingegen aus den Restriktionen für Regierungsmitglieder. Auch Marco Wanderwitz hätte sich daher zum „Prüffall“ der AfD einlassen dürfen.