Rauswurf aus der Zweitwohnung
Warum ein Nutzungsverbot vom Infektionsschutzrecht nicht gedeckt und unverhältnismäßig ist
Auch wenn sich die Bundesländer mittlerweile auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt haben, finden sich im Kampf gegen das Coronavirus weiterhin regionale und kommunale Sonderregelungen. Das ist keineswegs per se zu kritisieren, wird vielmehr der auch dem Grundgesetz zugrunde liegenden föderalen Idee gerecht und ermöglicht es, die Maßnahmen auf die konkrete Situation vor Ort anzupassen. Insofern zeigt auch die medial vielfach verbreitete Kritik am „föderalen Flickenteppich“ vor allem eines: ein wenig ausgeprägtes Verständnis bundesstaatlicher Strukturen.
Gleichwohl bedeutet das natürlich nicht, dass sämtliche der ergriffenen Maßnahmen damit auch per se rechtmäßig wären. Selbstverständlich gelten die Vorgaben der Verfassung auch im Krisenfall und auf ihre Einhaltung gerade in solchen Zeiten zu pochen ist keine lässliche (oder gar nervige) Haarspalterei, sondern eine unbedingte Notwendigkeit. Schon weil die Exekutive hier über weitreichende Befugnisse verfügt, ist eine rechtswissenschaftliche Begleitung, die aber die Rationalitäten des Krisenfalls berücksichtigt und angemessen verarbeitet, von besonderer Bedeutung. Anders gewendet: Not kennt sehr wohl ein Gebot und auch wenn es rückblickend immer wieder verklärt wird – der starke Mann (oder die starke Frau), der (die) im Katastrophenfall alles an sich reißt, einfach mal handelt, Gesetz hin der her – man denke an Helmut Schmidt in der Flutkatastrophe – , ist vor allem eines: eine Katastrophe für den demokratischen Rechtsstaat.
Betrachtet man das bisherige Vorgehen der Behörden besteht bisher allerdings kein grundsätzlicher Kritikbedarf. Sowohl die Bundes- als auch vor allem die Landesregierungen, die hier primär zuständig sind, haben bisher großen Wert vor allem auf Transparenz und Erläuterung ihres Vorgehens gelegt. Dass man sich an der einen oder anderen Stelle etwas mehr oder eine Form gewünscht hätte, sei dahingestellt. Demgegenüber werfen aber einige Maßnahmen auf kommunaler Ebene durchaus normative Fragen auf, denen es sich bereits im Krisenfall und nicht erst in dessen Anschluss zu widmen lohnt.
Denn der Staat ist für die Wirksamkeit und Effektivität seiner Maßnahmen darauf angewiesen, dass diese im Regelfall freiwillig befolgt werden. Das aber setzt das Verständnis der Bevölkerung für die ergriffenen Maßnahmen voraus. Wo dieses fehlt, die Maßnahmen nicht mehr nachvollziehbar erscheinen und der Staat sie nicht ansprechend erklären kann, riskiert der Staat seine Legitimität; er ist dann möglicherweise zukünftig nicht mehr in der Lage, auch an sich gut begründete Entscheidungen effektiv zu vollziehen. Wenn entsprechende Entscheidungen von der Rechtswissenschaft ermittelt, analysiert und letztlich kritisiert werden, ist das also alles andere als ein ungehöriger Eingriff in die Funktionsfähigkeit der zuständigen Behörden. Im Gegenteil: Die Kritik ist es, die diese Funktionsfähigkeit mittelfristig aufrechterhält. Wo Legitimität verloren ist, wird sie so schnell nicht wiederkehren.
Verbot der Nutzung von Zweitwohnungen
Vor diesem Hintergrund wirft die Allgemeinverfügung des Landkreises Aurich vom 21.3.2020 Fragen auf. Darin untersagt dieser ab sofort und bis zum 18.4.2020 die Nutzung von Nebenwohnungen (sog. Zweitwohnungen) im Sinne des Bundesmeldegesetzes. Hiervon ausgenommen sind lediglich die Nutzungen aus zwingenden beruflichen sowie aus ehe-, sorge- und betreuungsrechtlichen Gründen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Personen, die sich bereits in einer Nebenwohnung im Gebiet des Landkreises Aurich befinden, haben daher ihre Rückreise unverzüglich, spätestens bis einschließlich 22.03.2020, vorzunehmen.
Diese Regelung stellt ohne Zweifel einen erheblichen Eingriff in verschiedene Grundrechte dar. Zu nennen ist Art. 11 Abs. 1 (Freizügigkeit) aber auch Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) ist zumindest mittelbar betroffen. Hinzu kommen mittelbare Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht – etwa wenn dadurch der Kontakt zu Familienmitgliedern erschwert wird und Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Normativ stellen sich damit zwei zentrale Fragen: die nach der Rechtsgrundlage und die nach der Verhältnismäßigkeit.
Zunächst zur Frage nach der Rechtsgrundlage, die bei einem solch gravierenden Eingriff alles andere als nebensächlich ist. Der Landkreis Aurich hat sich ausdrücklich auf § 28 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) berufen. Dabei handelt es sich um eine im mit „Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ überschriebenen 5. Abschnitt des IfSG befindliche Regelung, nach der die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen treffen kann, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.“
Im Anschluss an diese Generalklausel listet der folgende § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG einige konkrete Maßnahmen auf, die unter diesen Voraussetzungen erlassen werden können. Die zuständige Behörde kann danach Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Zahl von Menschen beschränken oder verbieten sowie Badeanstalten oder Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Zudem hat sie die Möglichkeit, Personen zu verpflichten, den Ort an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Die Möglichkeit, Personen aus ihrer Zweitwohnung zu verweisen, nennt dieser Satz explizit nicht.
Keine Rechtsgrundlage
Damit aber stellt sich die Frage, ob für eine solch weitreichende Maßnahme der Rückgriff auf die Generalklausel des Satzes 1 überhaupt noch möglich ist. Die Frage so zu stellen, heißt sie letztlich zu verneinen. Das folgt letztlich aus dem generellen Verhältnis von Generalklauseln zu Standardmaßnahmen und den sich daraus ergebenden Bestimmtheitsanforderungen.
Hier gilt insoweit, dass die Nutzung der Generalklausel grundsätzlich nur für solche Maßnahmen in Betracht kommt, deren Eingriffsintensität unterhalb derjenigen liegt, für die der Gesetzgeber eine explizite Standardmaßnahme für nötig hielt. Dahinter steht vor allem der Aspekt der Vorhersehbarkeit: Die BürgerInnen sollen vorhersehen können, was ihnen in Zukunft möglicherweise blüht, um sich darauf in ihrem Verhalten frühzeitig einstellen zu können. Gerade das wird man hier aber nicht sagen können: Die Differenzierung zwischen Haupt- und Zweitwohnung ist im Gesetz nicht angelegt und ist auch sonst keine typische Maßnahme, mit der irgendjemand hätte rechnen können. Jemand, der sich bereits seit einigen Wochen darauf einstellt, sein Leben – aus welchen Gründen auch immer – in der Zweitwohnung zu verbringen, ist nun gezwungen, seine gesamte Planung rückgängig zu machen. Hinzu kommt: Es ist keineswegs zwingend, dass davon allein der Inhaber bzw. Mieter der Zweitwohnung betroffen ist. Eventuell finden sich hier noch weitere Personen, die plötzlich – und ohne jede Vorwarnung – gehalten sind, innerhalb von gerade einmal zwei Tagen irgendwo anders unterzukommen.
Nun ist es zutreffend, dass die Rechtsprechung bisweilen für einen gewissen Zeitraum gestattet, auch eingriffsintensivere Maßnahmen auf eine Generalklausel zu stützen, sofern es sich um neuartige Gefahren handelt, um auf diese Weise die Handlungsfähigkeit der Behörden aufrecht zu erhalten. Dabei ist allerdings unumstritten, dass diese Rechtsprechung nicht extensiv interpretiert werden darf – sie würde das Zusammenspiel von Generalklausel und Standardmaßnahme andernfalls völlig aushöhlen. Man wird daher zumindest verlangen müssen, dass entsprechende Maßnahmen zumindest für einen gewissen Zeitraum bereits in der Öffentlichkeit diskutiert werden, damit wenigstens auf diesem Wege die Möglichkeit eröffnet wird, sich als mögliche(r) Betroffene(r) darauf einzustellen. Exakt so verhielt es sich etwa mit den Ausgangsbeschränkungen, die dann nach einigen Tagen erst erlassen wurden (deren Rechtmäßigkeit allerdings gleichwohl umstritten ist und nach meiner Ansicht jedenfalls von § 28 Abs. 1 IfSG nicht gedeckt waren). Eine Debatte über die mögliche Begrenzung der Nebenwohnungsnutzung hat – soweit ersichtlich – aber überhaupt nicht stattgefunden. Die Überraschung war denn auch, so scheint es zumindest, bei den betroffenen Personen vergleichsweise groß.
Im Ergebnis kommt daher nach meiner Ansicht jedenfalls § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG als Rechtsgrundlage nicht in Betracht. Inwieweit eine andere griffe – etwa aus dem Katastrophenschutzrecht – soll an dieser Stelle nicht vertieft werden; die Behörde hat das ja selbst nicht in Erwägung gezogen. Vieles spricht aber dafür, dass eine derartige Maßnahme auch unter diesem Rechtsregime nicht möglich wäre. Die Ausrufung des Katastrophenfalls würde also vermutlich (normativ) nichts ändern.
Unverhältnismäßig
Selbst wenn man aber anderer Ansicht sein sollte, änderte dies freilich nichts am Erfordernis der Verhältnismäßigkeit. Hier gelten vor dem Hintergrund der betroffenen Grundrechte strenge Maßstäbe. Sowohl Art. 11 Abs. 2 GG als auch Art. 13 Abs. 7 GG nennen als mögliche Gründe für eine Begrenzung insofern zwar ausdrücklich auch die Bekämpfung von Seuchengefahr, erlauben gleichwohl nicht jede Maßnahme, die in irgendeiner Form (auch) diesem Ziel dient. Gerade weil in diesen Fällen so bedeutende Rechtsgüter im Raum stehen – es geht letztlich um Lebensschutz – besteht die Gefahr, hier allzu schnell allzu viel zu gestatten. Normativ gilt es insoweit die Entscheidung des Verfassungsgebers ernst zu nehmen, der Eingriffe in diese Grundrechte nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich machen wollte. Das aber heißt nicht zuletzt: Die Begründungsanforderungen für den Staat, der einschränkt steigen an und die konkreten Erwägungen unterliegen einer strengen externen (gerichtlichen) Kontrolle.
Um verhältnismäßig zu sein, müsste die Nutzungsuntersagung damit einen legitimen Zweck mit einem legitimen Mittel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Form zu erreichen suchen. Die Probleme beginnen dabei schon – und das ist durchaus ungewöhnlich – beim legitimen Zweck. Die vom Landkreis gelieferte Begründung ist hier außerordentlich spärlich, um nicht zu sagen völlig unzureichend. Immerhin lassen sich mit etwas Wohlwollen zwei Zwecke entdecken.
Zunächst scheint es dem Landkreis um die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gehen. Insoweit dürfte wohl die Sicherstellung einer ausreichenden Kapazität der Intensivmedizin in Aurich gemeint sein. Das ist zweifellos ein berechtigtes Anliegen des Landkreises. Inwieweit allerdings ein Zusammenhang zwischen der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und der Nutzung von Nebenwohnungen besteht, ist nicht umgehend ersichtlich und wird vom Landkreis auch nicht näher ausgeführt. (Fair wäre es im Übrigen gewesen, zumindest zugleich alle Bewohner mit Erstwohnsitz in Aurich aufzufordern zurückzukehren – oder sollen jetzt andere Landkreise die ganze Last einschließlich der Erstwohninhaber Aurichs tragen?). Aber dieses etwas seltsame Verständnis der kommunalen Lastenteilung sei hier nicht weiter vertieft. Normativ ist vielmehr überaus fraglich, ob ein solcher Zweck eigentlich gerade von § 28 IfSG gedeckt ist, der ja – wie alle Normen dieses Abschnitts – der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dienen soll. Das aber wird auf diesem Weg jedenfalls nicht unmittelbar erreicht. Tatsächlich erweist sie sich dafür sogar als kontraproduktiv, wie gleich zu zeigen ist.
Immerhin der zweite Zweck, nämlich die Verzögerung der Ausbreitungsdynamik und der Unterbrechung von Infektionsketten ist eindeutig vom Zweck des § 28 Abs. 1 IfSG gedeckt. Allerdings stellt sich hier dann doch die Frage, wie ausgerechnet die plötzliche Ortsverlagerung einer großen Zahl von Personen diesem Ziel dienen soll. Und in der Tat: Es wird hier unvermeidlich zu Kontakten mit Personen kommen, die ansonsten vermutlich unterblieben wären. Das Ganze soll zwar bis zum 22.3.2020 schnell abgeschlossen sein. Aber genau das ist ja das Problem: Es werden alle gleichzeitig die Ortsveränderung wahrnehmen, wodurch sich unerkannt Infizierte in ganz Deutschland verteilen – und mit ihnen das Virus. Spätestens bei der Erforderlichkeit aber stellt sich die Frage: Warum sollte es für die Ausbreitung nicht ausreichend sein, wenn die Personen sich an die für alle gültigen Beschränkungen halten? Sind Nebenwohnungsinhaber besonders infektiös oder verhalten diese sich generell weniger vernünftig?
Damit bleibt letztlich nur der (vermutlich ohnehin unzulässige) Zweck der Funktionsfähigkeit des Auricher Gesundheitssystems, um den es wohl auch primär gegangen sein dürfte. Um das damit einhergehende beachtliche und vor allem zusätzliche Infektionsrisiko einzugehen (man denke an die Notwendigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder das Auto zu tanken) hätte der Landkreis die konkreten Gefahren zumindest deutlich und umfassend darlegen müssen: Inwiefern droht bereits eine Überlastung? Um wieviele Personen geht es eigentlich? Und warum ließe sich das Problem nicht durch eine Verlegung von Patienten lösen, sofern diese tatsächlich erkranken sollten? Wäre es nicht sinnvoller, zur Verhinderung möglicher Infektionsrisiken mit den anderen Kommunen zu vereinbaren, dass alle Personen am Ort bleiben (egal ob Erst- oder Nebenwohnung), um wahrlich irrsinnige Nachahmereffekte anderer Kommunen zu verhindern?
Damit aber hilft letztlich auch der Versuch wenig, über die Ausnahmebestimmungen die Angemessenheit der Allgemeinverfügung zu sichern – zumal hier erneut Fragen aufgeworfen werden. So sind etwa Lebenspartnerschaften nicht genannt, was einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, 3 GG begründen dürfte. Und wie ist es mit nichtverheirateten Paaren, die teils am Nebenwohnsitz und teils am Hauptwohnsitz gemeinsam leben?
Insgesamt bleiben damit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Allgemeinverfügung. Gleichwohl hat ein Verwaltungsgericht in Schleswig-Holstein heute einen Eilantrag bzgl. einer ähnlichen Verfügung aus Schleswig-Holstein abgewiesen: Das Gericht konnte insoweit „weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Verfügungen“ feststellen und entschied daher nach einer allgemeinen Interessenabwägung zugunsten der Behörde. Hier könnte sich aber vielleicht eher ein allgemeines Rechtsschutzdefizit in Krisensituationen offenbart haben: Gerichte schrecken (durchaus nachvollziehbar) davor zurück, sich vermeintlich bedeutenden Entscheidungen in den Weg zu stellen, um die Verantwortung für eine gescheiterte Krisenbewältigung nicht (partiell) übernehmen zu müssen. Umso wichtiger wäre dann aber die kritische Begleitung durch die Rechtswissenschaft.
Soweit ich das aus einem Nachbarlandkreis beurteilen kann, geht es in erster Linie um die Nordseeinseln, die tatsächlich sehr begrenzte medizinische Kapazitäten haben und auf denen Urlauber aus was weiß ich für Gründen oft einen Zweitwohnsitz in ihrer Eigentumsferienwohnung haben. Durch Urlauber werden auf den Inseln gerne mal die Einwohnerzahlen, gerade vor Ostern, um ein Vielfaches erhöht.
Ich bin leider Eigentümer eines Hause in Nidersachsen. Da in dem Haus auch von der Gemeinde bestimmte Zweitwohnung ist, habe ich Post vo