26 August 2024

Pioniertat oder Bärendienst?

Das LG Erfurt über EU-Grundrechte für die Natur

Immer häufiger erkennen nationale Gerichte der Natur eigene subjektive Rechte zu, etwa in Kolumbien oder Peru. Inspiriert davon unternahm das Landgericht (LG) Erfurt in einem Urteil zu einem der sog. „Dieselfälle“ vom 2. August 2024 (8 O 1373/21) nun den wenig überzeugenden Versuch, „Eigenrechte der Natur“ aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCh) abzuleiten. Das Gericht erklärt, Rechte der Natur träten bei der Ermittlung der Höhe des dem Kläger zustehenden Schadensersatzes „schutzverstärkend“ hinzu (Rz. 29) (zu den gerichtlichen Ausführungen während der mündlichen Verhandlung, s. bereits Gutmann/García Ruales). Dabei ergeht sich das Gericht überwiegend in bloßen Behauptungen, während es konkrete Begründungen schuldig bleibt. Über zwölf Randziffern (29-40) der Entscheidungsgründe seines Urteils erweckt das Gericht fälschlich den Eindruck, die Betrachtung „der Natur“ als Rechtssubjekt sowie die Herleitung konkreter „Rechte der Natur“ aus der EU-GRCh seien bereits „common ground“. Damit trägt das LG Erfurt aber eher zum Gegenteil bei.

EU-Grundrechte für „ökologische Personen“?

Der Kläger in dem Fall hatte behauptet, das von ihm erworbene Fahrzeug enthielte eine (unionsrechtlich) unzulässige (Rz. 20) Abschalteinrichtung in Gestalt eines sog. „Thermofensters“. In diesen sog. „Dieselfällen“ sei Unionsrecht einschlägig, sodass auch die EU-GRCh gem. ihrem Art. 51 Abs. 1 Anwendung finde (Rz. 30). Das Gericht ist der Ansicht, „insbesondere“ aus Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 37 EU-GRCh ließen sich „Eigenrechte der Natur“ ableiten. Dabei geht das Gericht nicht darauf ein, dass nur Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 3 Abs. 1 (Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit) subjektive Rechte beinhalten, Art. 37 aber eher als „staatszielartige Bestimmung“ (Callies, Art. 37 EU-Grundrechtecharta, in Callies/Ruffert, EUV/AEUV/, 6. Aufl. 2022, Rn. 4) gilt und keinen subjektiv-rechtlichen Gehalt hat. „Diese Grundrechte“, so das Gericht aber dennoch weiter, seien „ihrem Wesen nach“ nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Natur oder einzelne Ökosysteme als „ökologische Personen“ anwendbar. Bereits aus der EU-GRCh ergebe sich ein umfassendes Existenzrecht dieser „ökologischen Personen“ (Rz. 30). Einer entsprechenden Deutung stünde nicht entgegen, so das Gericht, dass der Grundrechtekonvent, der im Jahr 2000 die EU-GRCh ausgearbeitet hatte, zum damaligen Zeitpunkt eine Einbeziehung der Natur in den Schutzbereich der EU-GRCh noch nicht mitgedacht hatte, der Grundrechtekonvent sei „für ökologische Belange und Anliegen durchaus aufgeschlossen“ gewesen (Rz. 31). Zudem sei es sogar „geboten“, dass die EU-GRCh als „living instrument“ auf „neue Gefährdungslagen angemessen“ reagiere (Rz. 32). Die „Gewährung von Rechtssubjektivität für ökologische Personen“ entspreche dabei „dem Menschenbild“ (sic!) der Charta (Rz. 33). Dieses Paradoxon, das dem LG offenbar entgangen ist, widerspricht bereits der dahinterstehenden – aus einer naturschutzorientierten Perspektive durchaus nachvollziehbaren – Logik.

„Wesensmäßige Anwendbarkeit“?

Zwar weist das Gericht nachvollziehbar darauf hin, dass der Wortlaut der EU-GRCh nicht per se einer Anwendung der Chartagrundrechte auf die Natur entgegenstehe. Denn um die Adressaten der Grundrechte zu charakterisieren, werde regelmäßig nicht der Begriff „Mensch“, sondern der „bedeutungsoffene Begriff ‚Person‘ (‚personne‘) verwandt“, der auch die Natur oder einzelne Ökosysteme umfasse (Rz. 34). Dem stehe, so das Gericht, auch nicht die Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 der EU-GRCh entgegen. Vielmehr verlange die Menschenwürde sogar, die Natur in den Schutzumfang der Charta einzubeziehen. Denn dies trage dazu bei, dass die Menschen auch in Zukunft ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und (damit) Würde führen könnten – eine Argumentation, die auch der UN nicht fremd ist (Report of the Secretary-General, Harmony with Nature, 26.07.2019, UN Doc. A/74/236, Rn. 5). Eine dogmatische Herleitung der „Eigenrechte der Natur“ aus der EU-GRCh unternimmt das LG damit allerdings nicht und bleibt eine solche auch in weiterer Folge schuldig. Es führt lediglich aus, es sei „kein Grund dafür ersichtlich, zwar juristische Personen […] umfassend grundrechtlich zu schützen, nicht jedoch ökologische Personen“; letztlich werde „nur eine ‚Waffengleichheit‘ hergestellt“ (Rz. 35). Auf die sich aufdrängende praxisrelevante Frage, warum und wie eine „wesensmäßige Anwendbarkeit“ von Chartagrundrechten auf die Natur möglich gemacht werden sollte, geht das Gericht nicht ein. Ausführungen über die Subjektqualität vom Gericht erwähnter, aber nicht definierter „ökologischer Personen“ (Rz. 30) fehlen ebenfalls. Künftig möchte das Gericht sogar Künstliche Intelligenz „umfassend grundrechtlich schützen“ (Rz. 35), begründet aber auch diesen (hier ohnehin nicht relevanten) Grundrechtsschutz nicht näher.

„Rechte der Natur“ als „Schutzverstärker“ – für wen?

Schließlich bleibt unklar, warum das Gericht in seinem Judikat überhaupt derart unvermittelt und vergleichsweise ausführlich darauf eingeht, ob die EU-GRCh potenziell auf die Natur anwendbar ist. Bei der Ermittlung der Höhe des Schadensersatzes in dem zu entscheidenden Fall seien die „Rechte der Natur“ unabhängig vom Parteivortrag „von Amts wegen“ zu berücksichtigen, so das LG Erfurt, das sich in diesem Zusammenhang (mehrfach, vgl. Rz. 29, 38, 39) auf das entsprechende Vorgehen von Gerichten in Südamerika beruft (Rz. 29). Dabei geht das Gericht aber mit keinem Wort darauf ein, dass keine umfassende Geltung der EU-Grundrechte im horizontalen Verhältnis privater (Grund‑)Rechtsträger zueinander angenommen (vgl. Art. 51 Abs. 1 EU-GRCh; EuGH, Urt. v. 6. November 2018 – C-569/16, Rz. 87) und lediglich eine „mittelbare“ Horizontalwirkung der Chartagrundrechte diskutiert wird (Jarass, Art. 51 EU-GRCh, in Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2021, Rz. 38). Warum dieses System jedoch plötzlich auch für – (noch) nicht etablierte – „Eigenrechte der Natur“ gelten sollte, zeigt das Gericht nicht auf. Diese begründungslosen Ausführungen verfehlen ihr Ziel, „Rechte der Natur“ richterrechtlich zu begründen.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Gericht, indem es den „Rechten der Natur“ im Kontext der individuellen Schadensbemessung eine „schutzverstärkende“ Wirkung zuschreibt, die ökozentrische Zielrichtung des Konzepts der „Rechte der Natur“ konterkariert. Die „Rechte der Natur“ laufen so Gefahr, zum bloßen Hilfsmittel einer zivilrechtlichen Anspruchsdurchsetzung (zugunsten eines menschlichen Klägers) zu verkommen. Dabei sollen (und wollen) „Rechte der Natur“, so wie sie gemeinhin im Anschluss an vorwiegend indigene Kosmologien verstanden werden, die Natur um ihrer selbst willen und gerade nicht in Abhängigkeit vom Menschen schützen. Ebenso wenig sollen die „Rechte der Natur“ allein den Menschen schützen.

Schluss

So ist dem LG Erfurt im Ergebnis zugute zu halten, dass es mit seinem Urteil den „Rechten der Natur“ und dem zugehörigen – wichtigen internationalen – Diskurs über die Integration ökozentrischer Schutzdimensionen in westlich geprägte Rechtssysteme eine Bühne gegeben hat. Dennoch ist zur Vorsicht zu mahnen, „Rechte der Natur“ durch allzu willkürliche richterliche Rechtsfortbildung etablieren zu wollen: Das (immer noch) neue Konzept der „Subjektivierung“ der Natur muss solide dogmatisch verankert werden, um effizient zu sein. Grundlegende Fragen wie jene, ob und wie sich westliche Rechtstraditionen und indigene Kosmologien kombinieren lassen und welche langfristigen Auswirkungen dies hätte, muss der (hier: EU-)Gesetzgeber klären (vgl. etwa die Beispiele der ecuadorianischen Verfassung (Art. 10, 71-74), des neuseeländischen „Te Awa Tupua Act“ oder des spanischen „Mar Menor Act“). Bis dahin hat die Zuerkennung von subjektiven Rechten natürlicher Ökosysteme durch (nationale) Gerichte vor allem einen symbolischen Wert.


SUGGESTED CITATION  Haake, Camilla: Pioniertat oder Bärendienst?: Das LG Erfurt über EU-Grundrechte für die Natur, VerfBlog, 2024/8/26, https://verfassungsblog.de/rechte-der-natur-erfurt/, DOI: 10.59704/27a13934eb591df8.

4 Comments

  1. cornelia gliem Mon 26 Aug 2024 at 15:34 - Reply

    ich kann Ihnen da nur zustimmen: wenn man “der Natur” gewisse Grundrechte zusprechen will (= und das wäre durchaus meine Ansicht), dann muss es besonders gut rechtlich abgesichert werden. hier klingt es doch nach “noch nicht gelungen”.
    vorallem gibt es ja durchaus gut formulierte und begründete text, z.B. von Carolin Raspé “Die tierliche Person” von 2013.

  2. Michael Schneider Mon 26 Aug 2024 at 21:52 - Reply

    Auch in prozessualer Hinsicht wirft das Urteil Fragen auf: Die Entscheidung stammt, wie aus dem Rubrum ersichtlich, von einem Einzelrichter. Dieser hätte die Sache wegen der (aus seiner Sicht bestehenden) grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 348 III 1 Nr 2 ZPO der Kammer zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen müssen. Hierzu lässt sich dem Urteil jedoch, soweit ersichtlich, nichts entnehmen.

    • Nina Kerstensteiner Mon 9 Sep 2024 at 17:00 - Reply

      Mit Beschluss vom 14. Juli 2021 lehnte die Kammer eine Übernahme ab (vgl. Rn. 63 des Hinweisbeschlusses vom 15.11.2021)

  3. Berndt Hess Mon 9 Sep 2024 at 12:05 - Reply

    M.E. ein Fall von Rechtsbeugung. Wenn der Landrichter Politik machen will, soll er das tun, aber dann bitte im Parlament und nicht von der Richterbank aus.

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