Irritierend distanzlos
Zu Andreas Gutmanns Kritik der Kritik am LG Erfurt zu Rechten der Natur
Das LG Erfurt hatte in seinem knapp begründeten, gleichwohl mitunter als „historisch“ bezeichneten Urteil vom 2.8.2024 (8 O 1373/23) im stolzen Bewusstsein, Neuland zu betreten, erstmals Eigenrechte der Natur anerkannt. Rechten der Natur richterrechtlich Wirkmacht zu verleihen sei rechtsdogmatisch gerechtfertigt, insofern könne dem Beispiel „kolumbianischer oder peruanischer Gerichte“ gefolgt werden, die dies „auch ohne einschlägige Gesetzgebung“ aus einer „Gesamtschau ihrer Rechtsordnung“ abgeleitet hätten. In seinem Urteil vom 17.10.2024 (8 O 836/22) legt das LG Erfurt mit nunmehr ausführlicher Begründung nach. Zwar sei es aus Gründen der Gewaltenteilung wünschenswert, Rechte der Natur im Wege einer Vertragsreform oder über die unionale Gesetzgebung in das Unionsrecht einzuführen. Eine vorausgehende richterrechtliche Anerkennung hält das LG Erfurt gleichwohl nicht für unzulässig und verweist beispielhaft auf eine Entscheidung des kolumbianischen Verfassungsgerichts aus 2016. Ohnehin sei Europarecht maßgeblich Richterrecht.
Andreas Gutmann nimmt in seinem Beitrag vom 28. Oktober das zweite – ausführliche – Urteil gegen Kritik in Schutz, genauer: Er will einige der kritischen Einwände gegen das Urteil widerlegen. Er hält den kritischen Stimmen insbesondere vor, diese würden die Besonderheiten der Verfahrenskonstellation nicht ausreichend würdigen. Neuland würden die beiden Urteile nicht nur deshalb betreten, weil sie erstmals Rechte der Natur anerkannt hätten, sondern auch deshalb, weil sie diese Rechte schutzverstärkend in zivilrechtlichen Verfahren im Wege eines private enforcement (Rn. 30, 98) heranziehen würden. Dies haben Kritiker des Urteils nach Auffassung von Gutmann nicht hinreichend berücksichtigt.
Die Prämisse
Die Kritik an der Kritik geht meines Erachtens fehl. Zum einen richtet sich die Kritik am Urteil gegen die grundsätzliche Anerkennung von Rechten der Natur und die Annahme, die Grundrechtecharta berechtige auch ökologische Personen (Rn. 52 ff.), was Gutmann als, wenn auch „Mindermeinung“, so doch vertretbar bezeichnet und nicht weiter thematisiert. Ob und inwieweit aber diese Rechte der Natur im Wege des private enforcement, also der Verstärkung privatrechtlicher Ansprüche geltend zu machen sind, zu dieser logisch nachgeordneten Fragestellung gelangt man erst, wenn man die vorgehende Frage nach der Existenz dieser Rechte bejaht.
Das Landgericht Erfurt seinerseits, bzw. Richter Borowsky, der beide Urteile als Einzelrichter verfasst hat (siehe zur berechtigten Kritik daran den Beitrag von Andreas Funke), bejaht grundsätzlich und uneingeschränkt die erste Frage. Er beschränkt sich also gerade nicht darauf, die Rechte der Natur als Abwägungskriterium in die Schadensfeststellung und -bewertung einfließen zu lassen, etwa nach Art einer Staatszielbestimmung wie des Art. 20a GG. Um die angestrebte edukatorische Wirkung zu erzielen, was die Berücksichtigung der Belange der Natur im Delikts- und Schadensrecht und die vom Gericht intendierte Verhaltensänderung (Rn. 81) betrifft, bedurfte es nicht der durchaus fragilen Konstruktion auf der Grundlage der Grundrechtecharta. Gutmann ist zweifellos darin zuzustimmen, dass unter der Prämisse von EU-Grundrechten der Natur diese Rechte im Anwendungsbereic,h der Charta auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten zur Geltung kommen, ohne dass es einer unmittelbaren Drittwirkung bedarf – die Richter Borowsky ohne weitere Begründung gleichwohl bejaht, gestützt auf die Kommentierung der Charta durch Borowsky selbst (Rn. 95). Auch dies belegt den umfassenden, über die spezifische Verfahrenskonstellation hinausgreifenden Anspruch des LG Erfurt.
Das Problem der Repräsentanz
Allerdings weicht das Gericht dadurch, dass es die Rechte der Natur im Rahmen der Schadensbemessung von Amts wegen und ohne entsprechenden Parteivortrag „wie in zahlreichen anderen Rechtsordnungen, etwa in Südamerika“ (Rn. 94) berücksichtigen will (Rn. 73, 94), der praktisch nicht ganz irrelevanten Frage aus, wer denn stellvertretend bzw. in Prozessstandschaft für die jeweilige ökologische Person diese Recht geltend machen soll. Im ersten Urteil war dies angesprochen worden, die Kritik hieran weist Gutmann nun mit dem Hinweis auf eine Passage des zweiten Urteils zurück, wonach sich das immerhin als gewichtig gesehene „Problem der Repräsentanz – wer vertritt die Natur?“ im vorliegenden Fall ohnehin nicht stelle, da sie in der Konstellation des private enforcement schon von Amts wegen zu berücksichtigen seien. Sie lasse sich im Übrigen „ohne Weiteres rechtstechnisch lösen“ lasse (Rn. 78), je nach Bedarf durch Umweltverbände, besondere Gremien oder im Wege der Popularklage „wie in Ecuador“. Pauschal auf die Schwierigkeiten der Repräsentation zu verweisen, so wiederum Gutmann in seiner Entgegnung auf Kritik, blende die Fragen eher aus, als eine fruchtbare Diskussion anzuregen. Der Vorwurf trifft nicht weniger die pauschale Vorgehensweise, mit der das Gericht mit leichter Hand über dieses „gewichtige“ Problem der Repräsentanz hinweggeht. Denn auch wenn sich, in den Augen des Gerichts, die Frage der Repräsentanz in der konkreten Verfahrenskonstellation nicht stellt, beschränkt es sich in seinen Aussagen auch in diesem Punkt gerade nicht auf den konkreten Fall.
Defiziente Rechtsvergleichung
Dass rechtsvergleichende Bezugnahmen auf die Rechtsprechung in anderen Ländern, die beide Urteile in breitem Umfang bringen, nicht von vornherein deshalb zurückgewiesen werden sollten, weil es sich hierbei nicht um Mitgliedstaaten der EU handle, darin ist Gutmann sicher beizutreten, Ebenso ist der von ihm zitierten ehemaligen Richterin des Bundesverfassungsgerichts Susanne Baer zuzustimmen, wenn sie dazu aufruft, Rechts- und Verfassungsvergleichung „postkolonial informiert zu betreiben“ und nicht nur „beschränkt auf den ‚Westen‘ oder ‚globalen Norden‘“ (S. 34). Das LG Erfurt bezeichnet dies als „reverse legal transplant“ (Rn. 67). Zweifellos ist der rechtsvergleichende Blick über die Grenzen des europäischen Rechtsraums hinaus zu begrüßen. Das Landgericht begründet nun allerdings rechtsvergleichend die Anerkennung ökologischer Personen als Grundrechtsträger nach der Grundrechtecharta ohne unionsgesetzliche Grundlage auch im Wege einer vorgreiflichen richterrechtlichen Anerkennung – nicht etwa durch den EuGH, dem vorzulegen das Landgericht vermeidet (wie auch Funke überzeugend herausarbeitet) – lediglich mit dem Hinweis auf „wegweisende Entscheidungen von Gerichten im Global South, insbesondere in Kolumbien, Peru, Indien oder Bangladesch“. Deren Judikate könnten im Wege eines reverse legal transplant berücksichtigt werden (Rn. 67); konkrete Entscheidungen und deren Fundstellen nennt das Gericht nicht, sondern verweist pauschal auf Beispielsfälle in Agence française du Développement – open source. Dies greift entschieden zu kurz, wie auch der Hinweis auf die „Leitentscheidung des kolumbianischen Verfassungsgerichts zum Rio Atrato aus dem Jahr 2016“. Die Rechts- und Verfassungsordnungen des „Global South“ dürften auch dem Fachpublikum nicht in gleicher Weise vertraut sein wie die des europäischen Rechtsraums – auch nicht jeder Verfassungskundige verfügt über das umfassende Wissen eines Peter Häberle. Eben deshalb hätte es näherer Ausführungen dazu bedurft, welches die verfassungsrechtlichen Grundlagen wie generell die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen für diese Leitentscheidungen waren, welches die tragenden Erwägungen und Argumentationsmuster der Gerichte und wie diese Entscheidungen in der nationalen Rechtsordnung rezipiert wurden. Dass juristische Institute nie unbesehen von einer Rechtsordnung in eine andere übertragen werden können, konzediert Gutmann durchaus zu Recht und er sieht auch, dass dies Irritationen auslösen kann, er meint, „fruchtbare Irritationen“. Dies wären sie allenfalls dann, wenn der rechtsvergleichende Ansatz methodisch korrekt und inhaltlich substantiiert entwickelt würde. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Rechtsstaatliche Irritationen – Gewaltenteilung und gesetzlicher Richter
Damit vermag Gutmann die Kritik am LG Erfurt nicht zu entkräften, zumal auch weitere zentrale Begründungselemente des Urteils ausgespart bleiben. So ist die zentrale These des Urteils, dass die Charta nicht nur natürliche, sondern auch ökologische Personen berechtige, nach Gutmann „durchaus vertretbar“ – doch solle es darum nicht gehen. Mit dieser zentralen These aber steht und fällt das Urteil. Bewegt es sich bereits in diesem Punkt auf nicht tragfähiger Grundlage, kann es keine „fruchtbaren Irritationen“ auslösen. Dies betrifft vor allem die Herleitung der Existenz der ökologischen Personen auch aus dem Wortlaut der Charta. Der in der deutschen Fassung verwendete Begriff „Mensch“ sei nicht maßgeblich, denn der in der Charta in zahlreichen Sprachfassungen verwendete, deutungsoffene Begriff „Person“ umfasse – als weitere Rechtssubjekte neben dem Menschen – die Natur als solche oder Ökosysteme wie Flüsse und Wälder (Rn. 52). Dies belegt Borowsky mit einer vereinzelten Literaturstimme; im ersten Urteil hatte er noch das englische „everybody“ als ebenso deutungsoffen gesehen.
Zentrale Einwände betreffen weiterhin die Missachtung der Gewaltenteilung und die Gewährleistung von Rechtssicherheit – beides elementare Forderungen des Rechtsstaats, die das LG Erfurt als wünschenswert, aber durchaus verzichtbar sieht (Rn. 67). Europäisches Recht sei ohnehin zu einem guten Teil Richterrecht, weshalb der Richter hier die Kompetenz in Anspruch nimmt, seine Kommentierung – nur sie wird im Urteil zu den einschlägigen Bestimmungen der Charta zitiert – in Richterrecht zu gießen. Dem liegt ein richterliches Sendungsbewusstsein zugrunde, das sich entfernt vom Leitbild des gesetzlichen Richters in Art. 101 GG.
Das Grundgesetz fordert den unparteiischen Richter, der dem Fall in professioneller Distanz gegenübersteht und die Gewähr für Neutralität und Objektivität bietet, dessen Entscheidungen Rechtssicherheit fördern und dem es nicht darum geht, Irritationen zu erzeugen, wie fruchtbar er sie auch einschätzen mag.