„Regelbasierte Weltordnung“ unter Beschuss
Die Invasion der Türkei in Nordsyrien verstößt gegen Völkerrecht
Am 9. Oktober 2019 hat die Türkei ihre lang geplante Militäroffensive in Nordsyrien begonnen. Das ist nach ihren Invasionen in Dscharablus 2016 und Afrin 2018 das dritte Mal, dass die Türkei unilaterale Militäroperationen in Nordsyrien durchführt. Auf syrischem Gebiet will die türkische Regierung eine knapp 500 Kilometer lange und 30 Kilometer tiefe “Sicherheitszone” schaffen. Außerdem sollen dort syrische Flüchtlinge aus Lagern in der Türkei angesiedelt werden. Die Türkei setzt mit diesem Vorgehen ihre völkerrechtswidrige Interventions- und Besatzungspolitik in Nordsyrien fort.
Während aus türkischer Sicht die Prinzipien von territorialer Integrität, Souveränität und Nichteinmischung höchsten Rang genießen, ist die staatliche Souveränität Syriens im Laufe der vergangenen Kriegsjahre immer durchlässiger geworden und bietet keinen Schutz mehr vor geostrategischen Einmischungen der Türkei. Gleichzeitig spielt völkerrechtliche Rhetorik für die Türkei eine nicht zu unterschätzende Rolle, vor allem wenn es um die Rechtfertigung von Interventionen und militärischer Gewaltanwendung geht.
Die Rechtfertigung der Türkei
So berief sich der türkische Außenminister Çavuşoğlu via Twitter am 9. Oktober 2019 zur Rechtfertigung der „Operation Friedensquelle“ auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Art. 51 UN-Charta. Die gleiche Argumentationslinie hat die Türkei bereits zur Rechtfertigung der Militäroperationen in Afrin im März 2018 genutzt: Damals erklärte die Türkei, dass sie sich gegen terroristische Angriffe nur dann wirksam verteidigen könne, wenn sie die Region – auf Dauer – kontrolliere, von dem aus kurdische Geschütze die türkischen Siedlungen beschossen hätten. Seither beruft sich die türkische Regierung vor allem auf eine andauernde Bedrohung durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG und die Notwendigkeit sicherer türkischer Staatsgrenzen, da die Türkische Republik auch weiterhin von kurdischen Terroristen bedroht werde. Auch der türkische Präsident Erdogan rechtfertigte die jüngste Militäroperation mit der „terroristischen Bedrohung“. Die Voraussetzungen von Art. 51 UN-Charta sieht die Türkei demnach als erfüllt an, trotz entgegenstehender Positionen Russlands und Syriens.
Nach derzeitigem Völkerrecht kann diese Argumentation nicht überzeugen. Bereits die Bombardierung sowie das Betreten syrischen Territoriums durch die türkischen Soldaten verstößt gegen das Gewaltverbot i.S.d. Art. 2 Nr. 4 UN-Charta. Dass sich die syrischen Streitkräfte der Invasion nicht widersetzt haben, ändert hieran nichts. Anders wäre es nur dann, wenn die syrische Regierung ausdrücklich zugestimmt hätte. Anders als Russland kann sich die Türkische Republik jedoch nicht auf eine solche Zustimmung berufen. Stattdessen hat die syrische Regierung den Militäreinsatz der Türkischen Republik als Völkerrechtsverstoß verurteilt und die türkischen Streitkräfte aufgefordert, sich von syrischem Territorium zurückzuziehen und die Besatzung zu beenden.
Gleiches gilt für die (fehlende) Legitimität der Staatsgewalt, die für die Anwendbarkeit des Gewaltverbotes keine Rolle spielt. Die Legitimität des syrischen Regimes angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen steht zwar massiv in Frage, aber Baschar Al-Assad ist nach wie vor der amtierende Präsident Syriens, und das Gewaltverbot ist für staatsinterne Vorgänge blind.
Auch das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect) führt hier nicht weiter: Dessen Kerngedanke ist es, Souveränität nicht als bedingungslos zu definieren, sondern an den Zweck des Schutzes der Bevölkerung zu koppeln. Aber es schafft keine neuen Handlungsinstrumente, sondern verlangt auch bei humanitären Militärinterventionen entweder eine Autorisierung des UN-Sicherheitsrates oder das in Art. 51 UN-Charta verankerte Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung als Rechtsgrundlage. Beide Ausnahmen zum Gewaltverbot greifen hier nicht.
Kein bewaffneter Angriff, ergo kein Recht auf Selbstverteidigung
Das gilt auch für das Recht auf Selbstverteidigung. Die Türkei hat bislang keinerlei Beweise für eine Selbstverteidigungslage angeführt. Ein Staat, der sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft, muss ein Mindestmaß an Substantiierungspflichten erfüllen und Tatsachen vortragen und beweisen, die den Tatbestand des Selbstverteidigungsrechts erfüllen, u.a. dass überhaupt ein bewaffneter Angriff i.S.v. Art. 51 UN-Charta stattgefunden hat und ein weiterer vorliegt oder bevorsteht. Diesen Darlegungs- und Beweispflichten ist die Türkei (bislang) nicht nachgekommen. Sie hat gar nicht erst den Versuch dazu unternommen.
Im Gegenteil spricht viel dafür, dass es die behaupteten Angriffe nie gegeben hat. In der internationalen Presse wurde im Vorfeld der so genannten “Operation Friedensquelle“ über nichts dergleichen berichtet. Die Türkei behauptet die kurdischen Angriffe lediglich pauschal, ohne deren Zeitpunkt, Intensität und Häufigkeit mit Datum, Uhrzeit und entstandenen Sach- oder Personenschäden zu belegen. Auch dem UN-Sicherheitsrat wurde dazu nichts vorgelegt.
Doch selbst wenn die Behauptung der Türkei von der „terroristischen Bedrohung“ durch die YPG zuträfe, ist fraglich, ob die mutmaßlichen Angriffe auf türkisches Gebiet überhaupt die von Art. 51 UN-Charta gestellten Intensitätsanforderungen erfüllen. Unabhängig von der seit Jahren leidenschaftlich geführten Debatte darüber, ob das Selbstverteidigungsrecht auch gegen nicht-staatliche Akteure wie die YPG greift, müssen die Angriffswirkungen ein bestimmtes Ausmaß erreichen. Die Intensitätsanforderungen des „bewaffneten Angriffs“ sind restriktiv auszulegen. Nach Ansicht des IGH fallen darunter sogar „nur die schwerwiegendsten Formen der Gewaltanwendung“ („most grave forms of the use of force“), weshalb einzelne terroristische Anschläge oder Grenzscharmützel zwischen staatlichen Streitkräften (sog. „action short of war“), auch wenn sie vergleichsweise wenige Menschenleben kosten, die Schwelle unterschreiten (vgl. hier, Rn. 191 und hier, Rn. 51, 54).
Problematisch ist hierbei, dass terroristische Anschläge häufig punktuell erfolgen und schnell beendet sind und damit isoliert betrachtet regelmäßig nicht schwerwiegend genug sind. Diskutiert wird daher, ob mehrere Angriffe über einen längeren Zeitraum auch kumulativ zu einem Angriff zusammengefast werden können. Diese sog. accumulation of events-Doktrin wird insbesondere auf Fälle angewandt, wo terroristische Gruppen über einen längeren Zeitraum hinweg mit einer militärischen Nadelstichstrategie operierten. Ihre Befürworter, etwa Israel oder die Türkei, argumentieren, dass betroffene Staaten wehrlos gestellt wären, wenn sich dagegen nicht zur Wehr setzen dürften. Völkerrechtlich kann dies jedoch nicht überzeugen. Zwar besteht Anlass bei Terrorstrategien über einen solchen Ansatz nachzudenken. Es gibt hierzu jedoch keine einheitliche Staatenpraxis, und der UN-Sicherheitsrat hat sich oft gegen einen solchen Ansatz ausgesprochen (UNSC Res. 490 v. 21.7.1981; UNSC Res 501 v. 25.2.1982; UNSC Res 509 v. 6.6.1982), was angesichts der Missbrauchs- und Eskalationsgefahren von Militäreinsätzen auf internationaler Ebene auch geboten erscheint.
Die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ ist unverhältnismäßig
Selbst wenn eine Selbstverteidigungslage bestünde, müsste die Militäroperation als Ausnahme vom Gewaltverbot verhältnismäßig sein (IGH, Legality Nuclear Weapons, S. 245), also erforderlich (necessary) und angemessen (proportionate).
Über ersteres kann man reden. Zwar bietet es sich bei einem nicht-staatlichen Angreifer wie der YPG für den angeblich Angegriffenen zunächst an, die syrische Regierung aufzufordern, weitere Angriffe zu verhindern oder zumindest einer grenzüberschreitenden Gegenwehr zuzustimmen, wie es im Rahmen einer zeitlich nicht drängenden Verteidigungshandlung möglich gewesen wäre. Das ist nicht passiert. Allerdings wäre Syrien aufgrund der fehlenden Zentralgewalt über den Norden des Landes gar nicht in der Lage gewesen, eine vermeintliche Bedrohung durch die YPG aus der Region effektiv zu unterbinden.
Keine Zweifel bestehen jedoch bezüglich der Unangemessenheit der türkischen Militäroperationen. Zwar darf eine Verteidigungshandlung grundsätzlich auch über das Maß des Angriffs hinausgehen, soweit dies zu seiner Beendigung notwendig erscheint. Insbesondere ist der sich verteidigende Staat bei seinen Militäraktionen nicht darauf beschränkt, gegnerische Streitkräfte von seinem eigenen Territorium zurückzudrängen, sondern darf mit eigenen Streitkräften auch auf gegnerisches Territorium vorrücken. Aber die anschließende Besetzung und Einrichtung einer 30 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ geht in jedem Fall über das zur Abwehr bevorstehender Angriffe erforderliche Maß hinaus.
Die türkischen Militäroperationen im Norden Syriens können sich durchaus auf die Substanz des Friedensvölkerrechts auswirken. Schließlich bilden das Gewaltverbot und seine Ausnahmen die zentralen Eckpfeiler der Friedenssicherung. Sie zu verteidigen dürfte im Interesse der deutschen Bundesregierung sein, die sich sowohl für ihre bis 2021 andauernde Amtszeit als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen als auch im Rahmen des Koalitionsvertrages eine „regelbasierte Weltordnung“ ins Logbuch geschrieben haben (hier mehr dazu).
Daher ist es wichtig, dass Handlungen und Behauptungen, die die unbestrittenen Grundprinzipien der Völkerrechtsordnung berühren, ohne Scheu als das bezeichnet werden, was sie sind: Völkerrechtsverstöße. Als NATO-Partner der Türkei täte die deutsche Bundregierung gut daran, auf einem begrenzten Anwendungsbereich des Selbstverteidigungsrechts zu bestehen und seinen Bündnispartner auf Art. 1 des NATO-Vertrages hinzuweisen, in dem sich die vertragsschließenden Staaten verpflichten „gemäß den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sein mögen, durch friedliche Mittel in der Weise zu regeln, dass Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit unter den Völkern nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeglicher Drohung oder Gewaltanwendung zu enthalten“. Damit würde Deutschland auch der eigenen Treue zum Völkerrecht einen Dienst erweisen.
Zweifelsohne, sobald wir unseren Bündnispartner auf Artikel 1 des NATO Vertrages hingewiesen haben, wird alles gut werden. Die Wahrheit ist, dass die derzeitige türkische Regierung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt und dass es ihr völlig egal ist was ihre Verbündeten dazu meinen, gerade weil wir es bei bloßen Hinweisen, hohlem Gerede und inhaltslosem Salbadern belassen. Gerade weil die türkische Führung weiß, dass wir in keinster Weise ernsthafte Handlungen durchführen werden, kann sie diese völkerrechtswidrige Militäroperation durchführen.
Recht das nicht durchgesetzt wird aber, erübrigt sich selbst und wird in sich selbst sinnlos. Wenn wir das Völkerrecht und die Menschenrechte tatsächlich ernst nehmen würden und all dieses Hochpreisen derselben nicht einfach nur eine ebenso heuchlerische wie verlogene wie perverse Farce wäre (was es ist), dann müssten wir schlicht und einfach jedweden Handel mit der Türkei sofort einstellen, als mindestes.
Da wir aber aufgrund unserer eigenen Inkompetenz und Schwäche in der Flüchtligsfrage nach Belieben durch die türkische Führung erpressbar sind, können wir uns nicht einmal zu ernsthaften Sanktionen im Bereich von Waffenlieferungen durchringen.
Dahin hat also unser Versagen in der Flüchtlingsfrage geführt: dass Menschenrechte und das Völkerrecht nach Belieben mit Füßen getreten werden können.