Religionsfreiheit unter dem Vorbehalt der Verwirkung?
Jüngst hat die Bundestagsfraktion der AfD den Entwurf einer Verfassungsänderung in den Deutschen Bundestag eingebracht: das „Gesetz zur Erweiterung der Verwirkungsregelung des Artikels 18 des Grundgesetzes um die ungestörte Religionsausübung des Artikels 4 Absatz 2 des Grundgesetzes“ (Bundestags-Drucksache 19/4484). Ziel der angestrebten Verfassungsänderung ist es, die Freiheit der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) in den Kanon der verwirkbaren Grundrechte in Art. 18 GG aufzunehmen. Diese Bestimmung lautet:
„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“
Art. 18 GG als Angstklausel
Bei Art. 18 GG handelt es sich um eine wenig bekannte Bestimmung im Grundrechtsteil, die – wie viele andere normative Entscheidungen des Verfassungsgebers auch – Erfahrungen mit der in den Unbilden eines aggressiven anti-demokratischen Kampfes sturmreif geschossenen Verfassungsordnung der Weimarer Republik im Blick hatte. Das Grundgesetz als Transformationsverfassung des Misstrauens setzte zunächst auf staatstragende Resilienz; die heute etablierte liberale Deutung ist erst allmählich nicht zuletzt durch das BVerfG errungen worden. Art. 18 GG ist eine Angstklausel, der die Annahme zugrunde lag, dass ein Staatsstreich im Kern das Werk einzelner Agitatoren und geschickter (Ver-)Führer sei. Für eine tief in Schuld verstrickte Nachkriegsgesellschaft im Schlussstrich-Rausch mag diese implizite Individualisierung von Systemversagen entlastend gewesen sein. Als staatliches Reaktionsmuster auf die Risiken einer freiheitlichen Verfassungsordnung war die hinter Art. 18 GG stehende Erwartung indes von Anfang an naiv.
Die nun vorgeschlagene Ergänzung des Art. 18 GG hat offensichtlich keine ersthaften Aussichten, die notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) zu erlangen. Der Antrag zielt daher als politischer „Stunt“ lediglich darauf, der antragstellenden Fraktion Aufmerksamkeit zu verschaffen und den anderen Fraktionen eine Debatte aufzudrängen, bei der diese nur verlieren können. Das ist für eine Oppositionsfraktion natürlich legitim. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bleibt der konkrete Entwurf aber sinnlos. Art. 18 GG ist eine praktisch bedeutungslose Verfassungsbestimmung. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist sie in keinem Fall zur Anwendung gekommen. Dies liegt schon am Verfahren: Die Feststellung der Verwirkung wurde (vergleichbar dem Parteiverbot) nach Art. 18 Satz 2 GG beim BVerfG monopolisiert, was einen aufwändigen Prozess nach sich zieht, der dem Strafverfahren nachgebildet ist (§§ 13 Nr. 1, 36 ff. BVerfGG). Als Reaktionsmittel auf kommunikativen Freiheitsmissbrauch ist dies zu schwerfällig.
Filigrane Schrankendogmatik als Alternative
Demgegenüber wurde unter dem Grundgesetz eine filigrane Schrankendogmatik ausgeformt, die differenzierte und sehr spezifische Antworten auf Gefahren bietet, die von der Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit ausgehen. Freiheitsgrundrechte sind einerseits durchweg beschränkbar, Beschränkungen andererseits an die Verhältnismäßigkeit gebunden. Gemessen hieran ist die Verwirkung eines Grundrechts schlichtweg nicht notwendig, um den verfassungsfeindlichen Missbrauch eines Freiheitsrechts angemessen einzudämmen. Etwa politische Agitation wird verfassungskonform durch Straftatbestände wie z. B. Volksverhetzung, Verunglimpfung von Verfassungsorganen, öffentliche Aufforderungen zu Straftaten oder (im Extremfall) Hochverrat eingehegt. Die legale Ausnutzung dieser Grenzen muss dann in einer freiheitlichen Rechtsordnung um ihrer Freiheitlichkeit willen einfach ausgehalten werden. Systemdestabilisierend werden verfassungsfeindliche Aktivitäten in erster Linie erst dann, wenn das demokratische Verfahren gekapert wird, um durch Wahlen Mehrheiten für einen faktischen Staatsstreich zu organisieren. Dies setzt aber eine parteipolitische Organisation voraus, was wiederum Thema des Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 2, 4 GG ist, nicht der Grundrechtsverwirkung. Die Koordinaten für ein Parteiverbot, das auch einer verfassungsfeindlichen Religions-Partei gelten kann, hat das BVerfG in seinem NPD-Urteil vom Januar 2017 (BVerfGE 144, 20) überzeugend abgesteckt.
Rückblickend hat Art. 18 GG nur insoweit überhaupt verfassungsrechtliche Relevanz erlangt, als diese Bestimmung Zitationsketten schmückt, die in einer „Zusammenschau“ die Entscheidung des Grundgesetzes für eine „wehrhafte Demokratie“ belegen. Das Konzept der „militant democracy“ (Karl Loewenstein) versucht eine Antwort auf die Herausforderung moderner Massendemokratien zu formulieren, wie mit Feinden der Demokratie umzugehen ist, die demokratische Formen (Meinungsfreiheit, Wahlen, Abstimmungen) missbrauchen, um gezielt demokratische Verfassungsstrukturen zu überwinden. Demokratietheoretischer Relativismus zwingt nicht zur Selbstaufgabe, schon weil eine solche nicht ohne Ausschaltung des gleichermaßen demokratieimmanenten Anspruchs auf gleiche Freiheit aller möglich wäre. Aus solchen abstrakten (verfassungstheoretisch-deskriptiven) Leitbildern lassen sich freilich kaum verfassungsdogmatische Aussagen für die Anwendung konkreter Verfassungsbestimmungen gewinnen. Etwa das Parteiverbot, die nachrichtendienstliche Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen (Verfassungsschutz nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG) oder das Staatsschutzstrafrecht betreffen sehr unterschiedliche verfassungsrechtliche Aspekte demokratischer Wehrhaftigkeit. Die optionale Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG vermag zur Bestimmung von Grund und Grenzen dieser etablierten und wirksamen Instrumente nichts beizutragen. Zudem dürfte jedenfalls ein Minimum öffentlichen Entfaltungsraumes für Religion (forum externum) zum Menschenwürdekern des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 2 GG zu rechnen sein, der als Teil der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) änderungsfest und damit auch einer Verwirkung von vornherein entzogen ist.
Auch die Religionsfreiheit unterliegt, soweit sie die Sozialsphäre berührt, selbstverständlich Beschränkungen, die das BVerfG kollidierendem Verfassungsrecht entnimmt, dessen Wertungen der Gesetzgeber nachzeichnet. So erlaubt die Religionsfreiheit beispielsweise keine Verletzung von Leben, Gesundheit oder Freiheit Dritter (Art. 2 Abs. 2 Sätz 1-2 GG). Bei anderen Konflikten mit verfassungsrechtlich nicht per se vorrangigen Gütern bedarf es zumindest einer Interessenabwägung, in deren Rahmen die Religionsfreiheit keinen schematischen Vorrang beanspruchen kann. Schlichte Glaubensinhalte müssen nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kompatibel sein. Das Grundgesetz ist kein säkularreligiöses Gebetsbuch, niemand muss an den demokratischen Verfassungsstaat „glauben“. Und jede Religion hat einen inhärenten transzendenten Wahrheitsanspruch, der sich nach dem eigenen Selbstverständnis nicht irdischer Rechtsetzung unterordnen kann. „Es gibt nur so viel Gott, wie die Verfassung zulässt“ kann keine Religion als inneren Glaubenssatz akzeptieren. Erforderlich daher ist kein religiöser Gesinnungsgehorsam, sondern lediglich die Akzeptanz der staatlichen Rechtsordnung als verbindlich. Nicht jeder legitime Glaubensinhalt lässt sich daher auch in eine legale staatspolitische Agenda übersetzen. Dass irdische Konflikte auf der Grundlage weltlichen (demokratisch gesetzten) Rechts entschieden werden und die Religionsfreiheit, deren Grund und Grenzen sich aus ebendiesem positiven Recht ergeben, hiervon nicht dispensiert, ist unverbrüchliche verfassungsrechtliche Geschäftsgrundlage. „Staatsgefährdende“ Aktivitäten, die die praktische Beseitigung der Verfassungsordnung anstreben, können in diesem Rahmen unterbunden werden. Eine „absolute Religionsfreiheit“ – so die Begründung des Gesetzentwurfs – gibt es also nicht. Dass der „Staat gegenüber aktuellen, unerwünschten gesellschaftspolitischen Entwicklungen schutzlos“ sei, ist Unsinn.
Das relative Schutzniveau der Religionsfreiheit absenken?
Verfassungspolitisch streiten könnte man allerdings darüber, ob die konkreten Schranken der Religionsfreiheit sinnvoll austariert sind. Art. 140 GG, der die Bestimmungen des staatskirchenrechtlichen Kompromisses der Weimarer Verfassung von 1919 (WRV) als vollgültiges Verfassungsrecht in das Grundgesetz inkorporiert, verweist auch auf Art. 136 Abs. 1 WRV: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“ Nicht zuletzt das BVerwG hat diese Bestimmung als Vorbehalt allgemeiner (religionsneutraler) Gesetze interpretiert (BVerwGE 112, 227 [231 f.]). Das BVerfG ist dem freilich nicht gefolgt, vor allem weil die Religionsfreiheit im Grundrechtsteil bewusst unter keinen Vorbehalt gestellt worden sei. Ob diese verfassungssystematisch plausible Auslegung verfassungspolitisch noch zeitgemäß ist, mag man hinterfragen. Einerseits ist die Religionsausübungsfreiheit gerade in einer Gesellschaft, die sich immer stärker kulturell säkularisiert und religiöse Vorbehalte (gleich welcher Konfession) immer weniger zu akzeptieren bereit ist, besonders schutzbedürftig. Andererseits bleibt das allgemeine, demokratisch gesetzte Recht in einer pluralistischen Gesellschaft im Wesentlichen die einzige Grundlage, die für alle Menschen verbindliche Gemeinsamkeit stiften kann. Ein friedliches Miteinander kann kaum gelingen, wenn nur auf der Grundlage religiöser Maximalforderungen verhandelt wird. Es entspräche daher durchaus der freiheitlichen Grammatik von Vielfalt und Toleranz, das relative Schutzniveau der Religionsfreiheit graduell abzusenken und (wie im Rahmen der Meinungsfreiheit) unter einen Vorbehalt allgemeiner – religionsneutraler, inhaltlich verhältnismäßiger – Gesetze zu stellen. Vielleicht lernt unsere Gesellschaft aber einfach nur wieder, Religion als störende Gegenöffentlichkeit zu den Rationalitätsansprüchen des demokratischen Rechtsstaats selbstbewusster auszuhalten. Neu wäre das nicht. Das funktionslose Rudiment des Art. 18 GG kann man hingegen getrost streichen.
> anderen Fraktionen eine Debatte aufzudrängen, bei der diese nur verlieren können.
Das ist glaube ich die Kernaufgabe einer Oppositionspartei. Wie relevant Art. 18 GG ist oder zukünftig sein wird, soll doch bitte nach der Debatte das Parlament entscheiden.
Im übrigen wurde Art. 18 bereits viermal angewendet, aber noch nie vollzogen.
Andere Artikel, beispielsweise Art. 146, wurden auch noch nie vollzogen, obwohl dazu seit 30 Jahren Gelegenheit ist.
Getrost streichen?
In Chemnitz war die AfD, wie teils gefilmt, zusammen mit Personen marschiert, welche den Hitlegruß zeigten, “Adolf-Hitler-Widerstand” skandierten usw. Genügend klare Distanzierung von AfD-Seite eher noch fragwürdig. Sollte die AFD jetzt damit ihre Meingungsgrundrechte auf Antrag verwirkt haben und gar nicht berechtigt sein, mehr solch Gesetzesvorhaben einbringen zu dürfen? Dies soweit niemand vom Verfassungschutz etc. zur Seite steht?
Eine Beitrag, dessen wirre Semantik an einen Mail-Bot erinnert.
Im übrigen hatte einer der zwei mir bekannten Hitler-Grußonkels von Chemnitz ein RAF-Tätowierung.
Nichts leichter als eine friedliche Demo mit hunderten Teilnehmern durch einen Hitlergruß, der von den dankbaren Systemmedien schnellstens vervielfältigt wird, zu diskreditieren.
Was friedliche Demo mit Hitlergruß etc. und wo genügende Distanzierung und was Mail-Bot? Klick.
Bei den Beratungen des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates1948 wurde eine Aufnahme der Religionsfreiheit in den Kreis der verwirkungsfähigen Grundrechte erwogen:
Vors. [Dr. v. Mangoldt]: „An sich ist es möglich, daß die Religionsfreiheit zum Kampf gegen die Verfassung ausgenutzt wird, vor allen Dingen wenn man darunter auch das weltanschauliche Bekenntnis versteht. Mit dem weltanschaulichen Bekenntnis kann man geradezu einen
neuen Nazismus aufmachen. Es könnte eine neue Weltanschauung sein, die sich religiös tarnt und auf Grund dieser Tarnung nachher die Verfassung bekämpft.“
Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hält die Aufnahme der Religionsfreiheit in den Kreis der verwirkungsfähigen Grundrechte für möglich und begründet das auch überzeugend.
Der vom Autor zur Diskussion gestellte Gedanke, das Schutzniveau der Glaubensfreiheit zu senken und unter dem Vorbehalt allgemeiner Gesetze zu stellen, erscheint mir für die Glaubensfreiheit als um ein Vielfaches gefährlicher als der AfD-Antrag.
Reigions- und Gewissensfreiheit sollte persönliche Daseinsgrundüberzeugungen berühren. Dies sollte daher einen engeren näher Persönlichkeitskern betreffen. Dies eventuell grundsätzlich eher als allgemeinere Meinungsfreiheitsrechte. Religions- und Gewissensfreiheit ist im Rahmen verfassungsmäßiger Ordnung gechützt. Wer gegen solche Ordnung kämpft, bewegt sich grundsätzlich weniger noch im geschützten Bereich. Dies bereits ohne Verwirkung.
Im grundsätzlich geschützten Bereich im Rahmen verfassungsmäßiger Ordnung sollte zunächst wegen grundsätzlicher verfassungsmäßiger Ordnungsgemäßheit weniger eine Verwirkung begründbar sein können. In solch grundsätzlich geschütztem Bereich sollte Freiehit besonders einen engeren Persönlichkeitskern betreffen. Weitergehende Freiheitsverwirkung im Bereich solch wesentlich engeren Persönlichkeitskernbereiches innerhalb verfassungsmäßiger Ordnung sollte grundsätzlich weniger erforderlich angemessen und damit weniger verhältnismäßig wirken und daher eher unzulässig scheinen.
Kampf gegen verfassungsmäßige Ordnung sollte demnach bereits ohne Verwirkung außerhalb von geschützter Religionsfreiheit liegen. Weitere allgemeine Einschränkung von Religionsfreiheit im grundsätzlich geschützten Bereich schiene danach dagegen eher unverhältnismäßig und unzulässig. Dies, weil weitergehende Verwirkung hier in besonders erheblicher Form und in weniger erforderlicher und angemessener Weise Freiheit in einem wesentlichen engeren Persönlichkeitsbereich aufheben müsste.
Meinungsfreiheit dagegen schiene zunächst ebenso nur im Rahmen verfassungsmäßiger Ordnung geschützt. Wer gegen solche Ordnung kämpft, sollte sich damit außerhalb eines geschützten Bereiches befinden.
Wer innerhalb des geschützten Bereiches ist, sollte damit Freiheit grundsätzlich zunächst ansich nicht verwirken können. Meinungsfreiheit scheint nur gegenüber Religions- und Gewissensfreiheit grundsätzlich allgemeiner und weniger einen engeren wesentlichen Persönlichkeitskernbereich betreffend. Insofern sollte hier eher eine Freiheitsverwirkung ebenso im zunächst grundsätzlich ansich geschützten Bereich in Betracht kommen können. Wer gegen eine verfassungsmäßige Ordnung kämpft, kann in seiner Freieheit eher ebenso im ansich geschütztem Bereich bei ansich zulässigen Äußerungen beschränkbar sein. Dies muss grundsätzlich nicht stets einen engeren wesentlichen Persönlichkeitkern von Daseinsgrundüberzeugungen betreffen, wie eventuell bei Beschränkungen der Religionsfreieheit.
Danach scheint eine Verwirkung von Äußerungsfreiheiten eher möglich, als von Religions- und Gewissensfreieheit. Verwirkung geschützter Freiheit von grundlegenden religiösen und gewissensmäßigen Überzeugungen im engeren Persönlichkeitskernbereich sollte weniger verhältnismäßig scheinen können als etwa Verwirkung von geschützten allgemeineren Äußerungsfreiheiten.