Rezension: Paul Collier, Gefährliche Wahl
Heute im DRadio:
Paul Collier: „Gefährliche Wahl. Wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Erde gelingen kann.“ Siedler Verlag, 265 Seiten.
Von Maximilian Steinbeis
(Sprecher) Afghanistan. Angola. Äquatorialafrika. Aserbeidschan. Äthiopien. Benin. Bhutan. Bolivien. Burkina Faso. Burundi. Dschibuti. Elfenbeinküste… (fade out)
(Autor) Die Liste ist lang. Von Afghanistan bis zur Zentralafrikanischen Republik umfasst sie 58 Länder, die ärmsten der Erde. Paul Collier hat sie aufgestellt, der Entwicklungsökonom aus Oxford, dem vor zwei Jahren mit dem Titel „Die unterste Milliarde“ ein Welterfolg gelang. Die unterste Milliarde ist auch Gegenstand des neuen Buchs von Paul Collier:
(Sprecher) In unserer Zeit hat eine große politische. Veränderung stattgefunden: die Verbreitung der Demokratie in den Ländern der untersten Milliarde.
(Autor) Diese große Veränderung – das ist Colliers provokante, ja schockierende Hauptthese – war allerdings vielfach ein weit weniger erfreuliches Ereignis, als man glauben möchte. Was sich so spektakulär verbreitet habe, seien Wahlen gewesen, aber nicht unbedingt Demokratie. Und Wahlen, so Collier, seien unter den Bedingungen von zerrütteter Wirtschaft, ethnischer Diversität und Rohstoffreichtum nicht selten das Schlechteste, was der Bevölkerung passieren könne.
(Sprecher) Wenn der Macht der Sieger keine Grenzen gesetzt sind, werden Wahlen zu einer Frage von Leben und Tod. Ist dieser Kampf selbst keinen Verhaltensregeln unterworfen, sind die Beteiligten letztlich genötigt, zu extremen Mitteln zu greifen. Das Ergebnis ist keine Demokratie, sondern, wie ich sie bezeichne, eine democrazy, also eine Demokratie im Delirium.
(Autor) Ein Beispiel: Die Präsidentschaftswahl in Kenia 2007 brachte das Land an den Rand eines Bürgerkriegs. Nach Colliers Analyse lag dies nicht nur am schlechten Charakter der beteiligten Politikern. Kenia ist stark von ethnischen Identitäten geprägt: Kikuyu wählen erfahrungsgemäß fast ausschießlich Kikuyu, Luo nur Luo. Amtsinhaber Kibaki hatte vor der Wahl relativ erfolgreich regiert, die kenianische Wirtschaft wuchs. Aber als Kikuyu half ihm das bei den Luo-Wählern überhaupt nichts. Deshalb setzte er in großem Stil auf Stimmenkauf und Wahlfälschung. Sein Gegenkandidat Raile Odinga mobilisierte dagegen seine Anhänger, indem er zur Gewalt gegen die Kikuyu aufstachelte und für den Fall seines Wahlsiegs eine Art ethnischer Säuberung versprach. Mit Erfolg:
(Sprecher) „Odinga erhielt wahrscheinlich die meisten Stimmen. Dass er die Wahl trotzdem verlor, ist vermutlich auf Wahlfälschung zurückzuführen. Aber wenn dem so war, dann wurde er um einen Sieg betrogen, der mit einer Strategie erkämpft worden war, die in einer richtigen Demokratie verboten gewesen wäre.“
(Autor) Collier ist Ökonom. Sein Metier ist es, Kosten und Nutzen bestimmter Handlungsoptionen zu untersuchen. Er fragt nicht, welches Regierungssystem gut und gerecht ist, sondern nach den Anreizen, die eine Regierung hat, zum Wohl des Landes zu regieren. Er versetzt sich die Lage eines Autokraten, dessen Hauptinteresse es ist, an der Macht zu bleiben. Wahlen, das zeigt Collier, sind dazu nicht das schlechteste Mittel, zumal wenn der Autokrat es in der Hand hat, durch allerlei unsaubere Taktiken das Ergebnis zu steuern. Man kann diese Einfühlung in die Interessenlage von Tyrannen zynisch finden, zumal Collier mit der macchiavellistischen Kühle seines Ansatzes auf bisweilen etwas penetrante Weise kokettiert. Aber diese ökonomische Denkweise hat den großen Vorteil, gegen Tabus und falsche Rücksichtnahmen immun zu sein. Wenn man beispielsweise weiß, dass ein Militärputsch im statistischen Mittel sieben Prozent des Volkseinkommens kostet, dann wird plötzlich manches denkbar:
(Sprecher) Hätten die Iraker sieben Prozent des Volkseinkommens gezahlt, um Saddam Hussein zu stürzen und auf diese Weise einen Krieg zu verhindern? Würden die Simbabwer diesen Preis zahlen, um Mugabe aus dem Amt zu jagen und auf diese Weise den Zusammenbruch der Wirtschaft und den Massenexodus der Bevölkerung zu verhindern?
(Autor) Wohlgemerkt, sieben Prozent sind teuer genug, zumal die nackte Zahl kaum ahnen lässt, wie viel Blut und Elend sich dahinter verbergen. Aber auch der Status Quo trägt ein Preisschild, und andere Optionen – ein Volksaufstand etwa – ebenso. Patentrezepte lasse sich auf diese Weise natürlich nicht gewinnen: Den Kongo zu demokratisieren, ist kein Shoppingausflug. Was Colliers mitreißend und voller Enthusiasmus geschriebenes Buch so wertvoll und seine Lektüre unbedingt empfehlenswert macht, ist etwas anderes: Es ermutigt, dem Entstehen von Staatenruinen wie Somalia oder dem Kongo nicht tatenlos zuzusehen, sondern gezielt die Voraussetzungen für stabile Demokratie zu verbessern – beispielsweise durch militärische Schutzgarantien gegen Putsche und Aufstände, die als Gegenleistung an kontrollierte saubere Wahlen geknüpft sind. Das Buch könnte der obersten Milliarde erkennen helfen, dass die Demokratisierung der untersten Milliarde an ihrem Anfang steht und nicht an ihrem Ende.