Risikofaktor Cameron: die gewagte Datenschutz-Klage vor dem EGMR
Gegen Einladungen, die man lieber nicht erhalten hätte, hilft es regelmäßig, Krankheit, die Unverfügbarkeit des Babysitters oder Handwerkerbesuch vorzuschützen. Gegen Klagen, über die man lieber nicht entscheiden würde, hilft Gerichten bestenfalls der Einwand der Unzulässigkeit, der aber mit deutlich höherem Begründungsaufwand verbunden ist. Datenschützer haben jetzt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage gegen die Überwachung durch den britischen Geheimdienst GCHQ eingereicht – eine Einladung zur Auseinandersetzung mit der Regierung Cameron, für die man dem Gericht eine gute Ausrede wünschen möchte: Wenn es sich darauf einlässt, könnte es viel verlieren.
Im Überwachungsskandal sind die Gerichte dringend gefragt
Seit Edward Snowden die Machenschaften der National Security Agency (NSA) und der britischen Späh- und Lauschkollegen vom Government Communications Headquarters (GCHQ) enthüllt hat, hatten Gerichte in den USA und Europa wenig Gelegenheit, die aufgedeckten Überwachungspraktiken zu beurteilen. Allein in den USA läuft die Justiz langsam an. Während der nicht-öffentlich tagende „Foreign Intelligence Surveillance Court“ die Ermächtigung für das massenhafte Sammeln von Telefon-Verbindungsdaten durch die NSA unbeirrt erneuert, fällten Richter an US-amerikanischen District Courts im vergangenen Dezember gegensätzliche Urteile zur Verfassungsmäßigkeit des Programms. So können sich sowohl die Kritiker des Programms als auch die US-Regierung langsam zum Supreme Court hocharbeiten.
Es ist höchste Zeit, dass sich die Rechtsprechung auch außerhalb der USA in die Überwachungsdebatte einmischt. Das läge im Interesse der Datenschutz-Aktivisten, aber auch im Eigeninteresse der Gerichte. Für die transnationale Datenschutz-Koalition bietet die Rechtsprechung einen Weg um die Überwachungspraxis einzudämmen, wo sich die Bevölkerung nicht ausreichend mobilisieren lässt: In Großbritannien etwa ist laut einer YouGov-Umfrage aus dem Oktober 2013 nur 19% der Bevölkerung der Meinung, die Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste seien zu umfangreich. Ein Gerichtsurteil, das die enthüllten Praktiken wenigstens teilweise für rechtswidrig erklärt, könnte das Whistleblowing außerdem auch in den Augen von Bürgern rechtfertigen, die darin bislang eher Vaterlandsverrat sehen.
Für die Gerichte sind die Klagen eine Möglichkeit, sich in der Überwachungsdebatte zurückzumelden und den Eindruck abzuwehren, dass sie sich vor allem mit Kleinkram beschäftigen. Für die dogmatischen Mühen, mit denen Richtergenerationen staatlicher Überwachungslust Grenzen gesetzt haben, werden viele Bürger dankbar sein. Doch was ist es wert, wenn der Verfassungsschutz beim Sex das Tonband ausschalten muss, „Partnerdienste“ aber gleichzeitig Terabytes von Daten in sich hineinschlürfen? Das Vertrauen der Bürger in die Rechtsprechung könnte Schaden nehmen, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass ihre Freiheit beim „Chaos Computer Club“ besser aufgehoben ist als beim Bundesverfassungsgericht.
Die Datenschützer klagen vor einem Gericht mit Autoritätsproblemen
Es gibt im Grunde also viel zu gewinnen, für Datenschützer wie für Gerichte, wenn diese endlich über Klagen gegen die aufgedeckten Überwachungspraktiken entscheiden können. Leider liegt es im Falle der Klage gegen Großbritannien vor dem EGMR anders, denn gegenüber dem Vereinigten Königreich hat der EGMR seit einiger Zeit ein Autoritätsproblem.
Konkret berufen sich die Kläger – die Nichtregierungsorganisationen Big Brother Watch, Open Rights Group und die englische Sektion der Schriftstellervereinigung PEN, sowie die deutsche Datenschutzaktivistin Constanze Kurz, auf ihr Recht auf Achtung der Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK. Dieses Recht verletze Großbritannien durch das Abfangen von elektronischer Kommunikation durch den GCHQ, aber auch, indem der Geheimdienst sich von der NSA mit Daten versorgen lässt. Das Ausmaß der britischen Datensammelei sei unverhältnismäßig, zudem sei die gesetzliche Grundlage dafür zu unbestimmt. Für die Entgegennahme von Daten von Partnerdiensten fehle die gesetzliche Grundlage ganz.
Am liebsten würde man an alles, was die Kläger vorbringen, ein Häkchen machen. Was aber wird die britische Regierung mit einem EGMR-Urteil anstellen, das ihre Überwachungspraktiken in die Schranken weist? Vielleicht wird die britische Regierung das Urteil brav befolgen. Gut möglich ist es aber auch, dass sie es beiseitelegt – oder sich ein paar Krampen daraus bastelt und nach Straßburg zurückschnippt.
Goodbye, EMRK: Stimmungsmache gegen den Gerichtshof
Insgesamt ist die Compliance des Vereinigten Königreich mit Entscheidungen des EGMR hoch: In der Regel werden die Urteile umgesetzt. Manchmal aber auch nicht, vor allem wenn es weh tut. Im Fall Hirst etwa weigern sich die britische Regierung und das Unterhaus seit acht Jahren, das Urteil des EGMR umzusetzen, wonach Strafgefangenen nicht kategorisch das aktive Wahlrecht entzogen werden darf. In der Sache Hirst sind sich die Schotten übrigens einig mit Rest-Britannien: Auch beim Referendum über die schottische Unabhängigkeit werden Strafgefangene nicht mit abstimmen dürfen.
Weite Teile der britischen Boulevardpresse und viele Politiker dürften dem EGMR für das Hirst-Urteil ebenso dankbar sein wie der EU für ihre Gurkenverordnung. Es ist erstklassiges Material für die Story von den regelverrückten Bürokraten auf dem Kontinent, die ihre Tage abwechselnd mit der Normierung von Gemüse und der Beglückung von Kriminellen verbringen. Zwar nicht im populistischen Ton, aber in der Stoßrichtung wird die Kritik am EGMR auch von der ehrenwerten britischen Tradition der Parliamentary Sovereignty getragen, der die richterliche Kontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen fremd ist.
Diese Kampagne gegen die EU und den europäischen Menschenrechtsschutz scheint Früchte zu tragen. Der Aussage “Human Rights have become a charter for criminals and the undeserving” stimmten 2012 in einer repräsentativen YouGov-Umfrage 72% der Befragten stark oder teilweise zu. Da ist es konsequent, wenn David Cameron ankündigt, dem EGMR “die Flügel stutzen” zu wollen und Justizminister Chris Grayling die Beziehung Großbritanniens zum EGMR zum Wahlkampfthema bei den Unterhauswahlen 2015 machen will.
Ein Urteil gegen Großbritannien könnte Cameron herausfordern
In der Affäre um die Aktivitäten von NSA und GCHQ hat sich die Regierung Cameron bisher genauso wenig bewegt wie in der Sache Hirst. Seit den Enthüllungen von Edward Snowden hat sie keinen Finger gerührt, um der Überwachung durch die Geheimdienste rechtsstaatliche Grenzen zu setzen. Warum sollte die Regierung dem Urteil eines Gerichtshofs folgen, dessen Autorität sie zu Wahlkampfzwecken ungeniert beschädigt? Stattdessen könnte ein Urteil des Gerichtshofs gegen Großbritannien der Regierung ein Anlass sein, den Tatenschützern aus Straßburg die Stirn zu bieten – oder sich ganz aus der Menschenrechtskonvention zu verabschieden und der Wählerschaft den EMRK-Austritt als kleinen EU-Austritt zu verkaufen.
Wenn sich Großbritannien einem EGMR-Urteil zur Überwachung durch den GCHQ entzöge, würde dies nicht nur den Menschenrechtsschutz in Europa beschädigen, sondern auch den Eindruck verstärken, dass die Datensammelei der Geheimdienste für die Einhegung durch die Rechtsprechung ein zu großes Ding geworden ist. Die mutwillig angesägte Autorität des EGMR in Großbritannien könnte so nicht nur dazu führen, dass die Klage der Datenschützer ins Leere läuft, sondern darüber hinaus dem Vertrauensverlust in die freiheitsschützende Kraft der Rechtsprechung Vorschub leisten. Derartig enttäuscht geht der überwachte Bürger dann lieber zur Kryptoparty statt zum Rechtsanwalt.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.
Naja, aber der Unterschied zu Hirse ist doch dass Hirse nur Grossbritannien betraf während NSA/GCHQ auch direkt die direkten Beziehungen von britischen Geheimdiensten und anderen in der EU betrifft. Ich denke z.B. das eine Nichtbefolgung nach Verurteilung Grossbritanniens in diesem Falle auch weitreichende Konsequenzen zur Datenübertragung aller Art auf die Insel hat, sowohl von Regierungen wie auch Privatorganisationen