21 July 2022

Rückkehrhilfen gegen alsbaldige Verelendung

Wie nachhaltig muss die Rückkehrförderung bei Abschiebungsverboten sein?

Rückkehrprämien werden in asylgerichtlichen Entscheidungen immer häufiger bei der Bewertung der Gefahr einer humanitären Notlage angeführt. Das Bundesverwaltungsgericht hat nun den Volltext einer Grundsatzentscheidung zu diesem Thema veröffentlicht: Maßgeblich ist danach, ob Rückkehrhilfen eine „alsbaldige“ Verelendung verhinderten; eine nachhaltige Existenzsicherung sei unerheblich. Zugleich gesteht das Bundesverwaltungsgericht indirekt ein, dass die langfristige Wirkung der Hilfen berücksichtigt werden muss.

Seit dem „Sommer der Migration“ 2015 wurden in Deutschland und Europa Maßnahmen der Rückkehrförderung abgelehnter Asylsuchender intensiviert. Die alimentierte Ausreise wird politisch als freiwillige Rückkehr und damit als humanere und kostengünstigere Alternative zu Abschiebungen gerahmt. Durch eine finanzielle Förderung der Reisekosten in Verbindung mit einer Starthilfe werden Anreize gesetzt, dass Menschen Deutschland verlassen, bevor sie zwangsweise zurückgeführt werden. 125.229 Menschen erhielten seit 2016 Rückkehrprämien im Rahmen des umfassendsten Programms REAG/GARP, das 2017 erweitert wurde durch StarthilfePlus. Die genauen Fördersätze hängen vom Herkunftsstaat ab und werden jedes Jahr aktualisiert. Derzeit erhalten Rückkehrer:innen bis zu 2.700 Euro, fallabhängig kommen Mittel für medizinische Zusatzkosten und eine Wohnhilfe hinzu. Flankiert werden die Prämien durch die „gemeinsame Rückkehrinitiative“ der Bundesministerien des Innern und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMI und BMZ), die den Ausreisefokus der Innenpolitik um die Reintegration der Betroffenen ergänzt, die mithilfe von Entwicklungszusammenarbeit gelingen soll.

Diese Rückkehrmaßnahmen verschieben sich immer mehr vor oder in das Asylverfahren: So erhalten Asylsuchende bereits vor der Antragsstellung Rückkehrinformationen in den Unterkünften und die Prämie fällt höher aus, wenn man im noch laufenden Verfahren zurückkehrt. Ein weiteres, bisher kaum beachtetes Beispiel für diese Verschiebung ist, dass die Verwaltungsgerichte Rückkehrhilfen in den Entscheidungsgründen zu nationalen Abschiebungsverboten zunehmend berücksichtigen. Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im April eine wegweisende Entscheidung getroffen, deren Begründung nun veröffentlicht wurde (BVerwG 1 C 10.21).

Abschiebungsverbote und Rückkehrhilfen

Das nationale Abschiebungsverbot ist ein ergänzender Schutzstatus neben der Flüchtlingseigenschaft und dem subsidiären Schutz. Bei Letzteren ist (zielgerichtetes) menschliches Handeln als Ursache einer Menschenrechtsverletzung die zentrale tatbestandliche Voraussetzung, etwa eine Verfolgungshandlung aufgrund eines individuellen Merkmals der Verfolgten beim Flüchtlingsstatus. Im Gegensatz dazu schützt das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch vor extremer materieller Not ohne direkte Akteursverursachung. Ausgangspunkt ist Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Schutz vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Bedingung ist laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte „ein sehr außergewöhnlicher Fall, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind“. § 60 Abs. 7 schützt außerdem vor erheblicher konkreter Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, spielt in der Entscheidungspraxis aufgrund des dafür geltenden strengeren Maßstabs aber nur noch eine Nebenrolle. Aus beiden Normen folgt der gleiche Schutzstatus.

Ausgehend von dieser Rechtsprechung nehmen die Gerichte eine Gesamtbetrachtung der humanitären Lage im Herkunftsland vor und bewerten insbesondere den Zugang zu Unterkunft, Nahrungsmitteln und sanitärer bzw. medizinischer Versorgung („Bett, Brot, Seife“). In dieser Konkretisierung der abstrakten Maßstäbe des EGMR fließt zunehmend die „Berücksichtigung von Rückkehrhilfen“ ein. Viele Verwaltungsgerichte nennen dann kurz die einschlägigen Rückkehrprämien und -programme und argumentieren, dass nicht zuletzt aufgrund dieser Hilfen ein Leben am Rande des Existenzminimums möglich und die Rückkehr deshalb zumutbar ist. Mit der konkreten Umsetzung oder der Wirksamkeit der Programme setzen sie sich in der Regel nicht auseinander.

Eine Ausnahme dazu stellt das Afghanistan-Urteil des VGH Baden-Württemberg von Dezember 2020 (A 11 S 2042/20) dar, das nun vom Bundesverwaltungsgericht revidiert wurde. In einer im Vergleich zu anderen Tatsachengerichte differenzierten Argumentation stellte der VGH fest, dass Rückkehrhilfen zwar den „unmittelbaren Eintritt einer unmenschlichen Behandlung“ verhindern mögen, ihnen dahingehend allerdings „keine nachhaltige Bedeutung“ zukomme (Rn. 111). Der Aufbau einer eigenständigen Existenz, um langfristig einer materiellen Notlage zu entgehen, sei durch sie nicht möglich. Darüber hinaus setzte sich das Gericht mit einer Evaluation der Rückkehrprämien auseinander und schließt daraus, dass insbesondere für Afghanistan die reibungslose Auszahlung der Gelder alles andere als gesichert ist (Rn. 97).

Auf der Suche nach dem Maßstab: „alsbaldige“ Verelendung vs. nachhaltige Existenzsicherung

Die Antwort des Bundesverwaltungsgerichts auf diese Argumentation lässt sich kurz und knapp so zusammenfassen: Ob Rückkehrhilfen zu einer nachhaltigen Existenzsicherung beitragen, spiele bei der rechtlichen Bewertung materieller Notlagen keine Rolle. Maßgeblich sei allein, ob die Hilfen verhinderten, dass die Rückkehrer:innen „alsbaldig“ verelenden. Die Gefahr eines schutzrelevanten Schadens sei nicht schon dann gegeben, „wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht“ (Rn. 25). Es gehe lediglich darum, dass Rückkehrer:innen ihre „elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum“ befriedigen könnten. „Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist“ (Rn. 25).

Das Gericht schließt mit dieser Begründung an die bereits länger bestehende Dogmatik eines „Zurechnungszusammenhangs“ (Rn. 21) zwischen Abschiebung und Verelendung an: Nur Menschenrechtsverletzungen, die sich in unmittelbarer Folge der Rückkehr realisieren, sind bei der Bewertung humanitären Schutzes zu berücksichtigen. Formelhaft steht dafür das Wörtchen „alsbald“, das sich spätestens seit den späten 1990er Jahren in der höchstgerichtlichen deutschen Rechtsprechung zu Abschiebungsverboten festgesetzt hat. Es geht wiederum zurück auf die Metapher des Gerichts, ein Abschiebungsverbot könne nur erteilt werden, wenn ein Mensch ansonsten „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde. Die Logik lautet also: Nur, was im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der Rückführung liegt, kann das „sehende Auge“ noch erfassen.

Mit dieser buchstäblich kurzsichtigen Argumentation wird die Frage nach der nachhaltigen Wirksamkeit von Rückkehrhilfen obsolet, das Bundesverwaltungsgericht schiebt sie als rechtlich irrelevant beiseite. Einerseits. Denn andererseits findet sich im gleichen Urteil ein weiteres Argument, mit dem das Gericht die Logik des Zurechnungszusammenhangs teilweise dekonstruiert. Obwohl es zwar klarstellt, dass der zu beurteilende Zeitraum direkt nach der Rückkehr beginnt, legt es im gleichen Absatz einen zweiten Startpunkt fest, nämlich nachdem die Rückkehrhilfen aufgebraucht sind. Ein Abschiebungsverbot könne demnach auch dann ausgesprochen werden, „wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht“ (Rn. 25). Darüber hinaus sei der Maßstab der Wahrscheinlichkeit einer eintretenden Verelendung davon abhängig, wie lange sich ein Mensch durch Rückkehrhilfen über Wasser halten könne: „Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein“ (Rn. 25).

Versteckt und dennoch sichtbar: Die Relevanz der nachhaltigen Wirksamkeit von Rückkehrhilfen

Wenn aber die für ein Abschiebungsverbot hinreichende Verelendung umso wahrscheinlicher sein muss, je länger Rückkehrhilfen ausgezahlt werden, wird eine mittel- oder gar langfristige Wirksamkeit der Hilfen doch zum Kriterium der Beurteilung. Das je-desto-Argument wäre ansonsten unsinnig. Das Bundesverwaltungsgericht stellt also implizit folgende Regel auf: Wenn Hilfen möglichst lange reichen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass durch sie eine nachhaltige Existenzsicherung gelingt, höher und damit die Gefahr einer Verelendung geringer.

Es revidiert damit das Urteil des VGH Baden-Württemberg zwar mit dem Argument, dieser würde den falschen zeitlichen Bezugsrahmen in seiner Beurteilung anwenden und damit die falschen rechtlichen Maßstäbe, führt dann aber einen ähnlichen Maßstab ein, wenngleich eher indirekt und vor allem gut versteckt hinter der restriktiven „alsbald“-Argumentation. So besteht die Gefahr, dass die Tatsachengerichte aus dem Urteil lediglich die Betonung des „alsbald“-Maßstabs herauslesen. Die argumentative Verwendung von Rückkehrhilfen in den Entscheidungsgründen der ersten Instanz beschränkt sich in der überwiegenden Mehrheit ohnehin bereits darauf, pauschal auf Förderprogramme und die entsprechenden Merkblätter bzw. Internetseiten zu verweisen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts könnte diesen Effekt verstärken.

Und selbst wenn eine Beurteilung der nachhaltigen Wirksamkeit der Rückkehrhilfen als rechtliches Argument ausgeklammert wird, darf nicht pauschal von einem positiven Effekt für die kurzfristige Existenzsicherung ausgegangen werden: Was, wenn ein Asylsuchender glaubhaft macht, dass die Hilfen direkt in die Tilgung von durch die Auswanderung entstandenen oder anderweitiger Schulden fließen? Wenn größere Barmittel bei der Einreise in die Taschen von Grenzbeamten fließen? Wenn die Auszahlung der Gelder, wie vom VGH Baden-Württemberg dargestellt, nicht reibungslos funktioniert? Verwaltungsgerichte müssen solche Tatsachenfragen beantworten, anstatt sich darauf zu beschränken, Rückkehrprämien aufzulisten.

Auf einer grundsätzlichen Ebene sind der „Zurechnungszusammenhang“ und damit der „alsbald“-Maßstab schlicht dogmatische Festlegungen, deren Sinnhaftigkeit nicht durch stete Wiederholung postuliert, sondern aktiv begründet werden müsste. Eine Risikobewertung ist immer bis zu einem gewissen Grad spekulativ; bei der Asylentscheidung als eine auf die Zukunft bezogene Gefahrenprognose muss Komplexität reduziert werden. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zeigt allerdings, dass man diese Komplexitätsreduktion mit besorgniserregend geringem argumentativen Aufwand sehr weit treiben kann, indem Grundlage der Bewertung nur der unmittelbar auf die Abschiebung folgende Zeitraum ist. Dass aber eine kurzfristige Gefahrenabschätzung (rechtlich) legitimer ist als eine langfristige Bewertung einer humanitären Notlage, ist nicht selbsterklärend. Die dahinterliegende Argumentation, dass bei einem langfristig gesetzteren Zeitraum „die späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers“ (Rn. 21) nicht mehr von den direkten Auswirkungen der Abschiebung unterschieden werden könnten, ist ebenfalls zu reich an begründungsbedürftigen Prämissen, um als einfaches Postulat zu überzeugen. Dem komplizierten Spannungsverhältnis zwischen der menschenrechtlichen Verantwortung von Abschiebestaaten, der Eigenverantwortung von Abgeschobenen für ihre Existenzsicherung und generellen humanitären Entwicklungen wird das Gericht damit jedenfalls nicht gerecht. Nicht zuletzt findet diese rechtliche Argumentation ihr Spiegelbild in der politischen Verteidigung der Rückkehrprämien, die stets Freiwilligkeit und Eigenverantwortung der Betroffenen in den Mittelpunkt rückt.

Das Urteil weist damit weit über die Rolle von Rückkehrhilfen in der Rechtsprechung zu Abschiebungsverboten hinaus. Es legt offen, mit welch kurzsichtigen Maßstäben die Gefahr einer existentiellen Notlage bewertet wird und wie damit Abschiebbarkeit sehr einfach begründen werden kann. Die zuletzt tendenziell schutzorientierte deutsche Entscheidungspraxis zu Abschiebungsverboten bei extremer Armut (Feneberg/Pettersson i. E.) könnte durch diese höchstgerichtliche Rechtsprechung einen Dämpfer erfahren. Es kommt nun darauf an, wie die Tatsachengerichte den Maßstab der alsbaldigen Verelendung auf konkrete kollektive Gefährdungslagen anwenden und ob sie die versteckte Möglichkeit nutzen, die Wirksamkeit von Rückkehrhilfen stärker als bisher in ihren Entscheidungen berücksichtigen.