Sächsischer Schnellschuss
Warum die Idee eines verkappten Parlamentsplebiszits keine direkte Demokratie und gefährlich ist
Ende November 2023 verkündete die CDU in Berlin, die Bürger erneut über die Bebauung des Tempelhofer Feldes abstimmen zu lassen. Anfang Dezember 2023 hat die Kenia-Koalition in Sachsen einen Gesetzentwurf (Drs. 7/15055) in den Landtag eingebracht, wonach die Landtagsmehrheit Volksentscheide anberaumen können soll. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, wie sie seit 2015 wiederholt zu beobachten ist: Regierungen bzw. Regierungsmehrheiten versuchen, die Befugnis zu erlangen, Volksabstimmungen „von oben“ (Plebiszite) auslösen zu dürfen. Deshalb stellen sich folgende Fragen: Welche Formen von Plebisziten gibt es, warum sind sie so verlockend und gleichzeitig so gefährlich und wie kann das geplante sächsische Plebiszit verhindert werden.
Formen des Plebiszits
Plebiszite sind keine direkte Demokratie. Denn Plebiszite sind „von oben“, d.h. von Regierungen oder Regierungsmehrheiten ausgelöste Volksabstimmungen.1) Im Gegensatz dazu sind Volksbegehren und Volksentscheid (Volksgesetzgebung) direktdemokratische Instrumente. Denn dadurch können die Bürger „von unten“ selbst direkt entscheiden, über welche Inhalte abgestimmt werden soll. Die Entwürfe werden den Bürgern nicht von oben „vorgesetzt“, wie es bei Plebisziten der Fall ist.2)
Es gibt verschiedene Ausprägungen des Plebiszits. Eine besteht in „von oben“ ausgelösten konsultativen Volksbefragungen. Deren Ergebnisse sind zwar formal unverbindlich, faktisch jedoch bindend. Das Paradebeispiel dieser Wirkung ist das konsultative Plebiszit über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU 2016 (Brexit). Der verlockende Charme des konsultativen Plebiszits besteht darin, dass eine gewichtige Ansicht in der juristischen Literatur der Auffassung ist, dass konsultative Volksbefragungen trotz dieser faktischen Wirkung durch einfaches Gesetz eingeführt werden könnten. Diesen Weg wollten deshalb 2015 die CSU in Bayern und im selben Jahr die SPD/CDU-Koalition in Berlin beschreiten. Nun versucht die Berliner CDU es erneut.
Einen Anlauf zur Einführung eines konsultativen Plebiszits unternahm 2018 auch die SPD/CDU-Koalition in Mecklenburg-Vorpommern. Sie wollte damit die Entscheidung über den Streit innerhalb der Koalition, ob das Wahlalter bei Landtagswahlen auf 16 Jahre abgesenkt werden soll, an die Bürger „weiter reichen“ (Koalitionsvertrag, Rn. 436). Der Unterschied zu den oben beschriebenen Anläufen bestand jedoch darin, dass das konsultative Plebiszit in der Verfassung verankert werden sollte. Damit erkannte der Vorschlag (Drs. 7/2575, S. 6 f.) die faktische Bindungswirkung konsultativer Plebiszite an und nahm die Entscheidung des BayVerfGH von 2016 (BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, NVwZ 2017, S. 319 ff.), wonach auch konsultative Volksabstimmungen nur durch Verfassungsänderung eingeführt werden dürfen, akzeptierend zur Kenntnis. Das Vorhaben scheiterte jedoch, weil sich für die Verfassungsänderung keine 2/3-Mehrheit fand.
Das geplante Plebiszit in Sachsen weist gegenüber dem konsultativen Plebiszit zwei Besonderheiten auf: Es ist keine konsultative Befragung, sondern das Ergebnis der Abstimmung ist rechtlich bindend. Und der Landtag kann nur dann den Volksentscheid ansetzen, wenn zuvor mindestens 0,6 % der stimmberechtigten Bürger einen entsprechenden Gesetzentwurf im Rahmen einer Volksinitiative in den Landtag eingebracht haben. Das Plebiszit ist erfolgreich, wenn 20 % der Stimmberechtigten im Volksentscheid zustimmen.
Das Plebiszit als Instrument vermeintlich bürgernahen Regierens
Die Attraktivität des Plebiszits liegt zum einen darin, dass es vordergründig als demokratieförderndes Instrument der Bürgerbeteiligung erscheint. Denn es ermöglicht Regierungen bzw. Regierungsmehrheiten, die häufig als bürgerfern wahrgenommen werden, schnell und vermeintlich unmittelbar mit den Bürgern Kontakt aufzunehmen und ihnen wichtige Entscheidungen zu überlassen.
Gleichzeitig bekommen Regierung bzw. Parlamentsmehrheit jedoch auch entscheidende Trümpfe in die Hand, welche ihr gegenüber der Opposition Vorteile verschaffen und so eine enorme Verlockung darstellen: „Sie entscheidet einseitig über Inhalt, Formulierung und Zeitpunkt der Abstimmung. In ihren Händen liegen die Rahmendaten der ‚Choreografie‘. Die parlamentarische Opposition ist geschwächt. Denn es findet ein Arenenwechsel der politischen Auseinandersetzung statt: ‚Heraus aus den Parlamenten, hinaus auf die Marktplätze.‘ Die parlamentarischen Rechte der Opposition schrumpfen zu ‚second order-Rechten‘, sobald die Entscheidung nicht mehr im Parlament, sondern an der Urne fällt. Dort haben die Regierung bzw. die Regierungsmehrheit jedoch das Antragsmonopol.“3) „Die Gefahren des Plebiszits sind besonders groß, wenn es rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften zur Verfügung steht. Denn es ermöglicht, geeignete Zeitpunkte abzupassen, um u.a. der Opposition, gesellschaftlichen Gegenkräften und Gerichten den ‚wahren Volkswillen‘ vorzuführen und unter diesem Druckaufbau vor sich herzutreiben. Es ist deshalb kein Wunder, dass Diktatoren und Autoritäre das Plebiszit mit Vorliebe nutzen, um ‚ihr Volk‘ zu befragen, so z.B. Napoleon I., Napoleon III., Hitler, Orbán und Putin.“4)
Das verkappte Parlamentsplebiszit des sächsischen Gesetzentwurfs
Auf den ersten Blick kommt das Plebiszit des sächsischen Gesetzentwurfs im Kleide einer bloßen Modifizierung des Volksgesetzgebungsverfahrens daher. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll es lediglich dazu dienen, das Volksgesetzgebungsverfahren abzukürzen (Gesetzentwurf, S. 18). Denn grundsätzlich ist das Volksgesetzgebungsverfahren gem. Art. 71 bis 73 der Sächsischen Verfassung (SächsLV) dreistufig aufgebaut: Zunächst muss eine bestimmte Anzahl von Bürgern einen Volksantrag für einen Gesetzentwurf unterschreiben. Nach den Reformplänen der Kenia-Koalition sind dies 0,6 % der Stimmberechtigten, also ca. 20.000 Bürger (Gesetzentwurf, S. 16). Dann kann das Volksbegehren starten, das erfolgreich ist, wenn es – nach den Reformplänen (S. 18) – 6 % der Stimmberechtigten (ca. 200.000 Bürger) unterschreiben. Danach kommt es zum Volksentscheid. Die Reformpläne der Kenia-Koalition sehen vor, dass die Abkürzung dadurch möglich ist, dass der Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder nach einem erfolgreichen Volksantrag beschließen kann, unmittelbar einen Volksentscheid durchzuführen (Gesetzentwurf, S. 3, 6, 11, 18).
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass die geplante Modifikation der Volksgesetzgebung ein Janusgesicht hat. Sie stellt materiell ein „verkapptes“ Parlamentsplebiszit dar. Denn die für einen Volksantrag notwendigen ca. 20.000 Unterschriften sind für größere im Landtag vertretene Parteien und erst recht für die Parteien der Regierungskoalition insgesamt relativ leicht zusammenzutragen. So hat z.B. die CDU in Sachsen ca. 9.500 Mitglieder (Ende 2022). Rechnerisch müsste nur ca. jedes Mitglied eine oder zwei weitere Unterschriften sammeln. Die Regierung bzw. Landtagsmehrheit könnten so unter Umgehung der Hürde des Qualifikationsquorums eines Volksbegehrens Volksabstimmungen „von oben“ auslösen, d.h. Plebiszite ansetzen.5) Dies gilt erst recht, wenn zukünftig die elektronische Zeichnung von Volksanträgen einfachgesetzlich möglich sein wird, wofür die Reformvorschläge der Koalition verfassungsrechtlich den Weg frei machen (Gesetzentwurf, S. 17).
Die „Abkürzung“ des Volksgesetzgebungsverfahrens führt dazu, dass gem. Art. 71 Abs. 2 Satz 2 und Art. 72 Abs. 1 Satz 1 SächsLV in wenigen Tagen bzw. Wochen nach Einreichung des Volksantrags beim Landtagspräsidenten der Landtag den Beschluss zur Durchführung des Volksentscheids fassen kann. Die Zeitsouveränität liegt insoweit bei der Regierung bzw. der Regierungsmehrheit. Denn der Landtagspräsident stammt in der Regel von einer Regierungspartei, von der auch ein rechtssicherer Entwurf erwartet werden kann, so dass der Landtagspräsident den Verfassungsgerichtshof nicht eingeschalten wird, und sowohl die Anhörung der Antragssteller, die ja auch wieder aus dem Regierungslager stammen, als auch den Volksentscheidbeschluss führt der Landtag, also die Regierungsmehrheit durch. Es kann also alles schnell gehen. Die Mindestfrist bis zum Volksentscheid beträgt dann lediglich drei Monate und höchstens sechs Monate, Art. 72 Abs. 3 Satz 1 SächsLV. Nur diese Zeitspanne steht effektiv zur öffentlichen Information und Diskussion zur Verfügung. Die gesamte Mindestsammelfrist der Volksbegehrensphase von sechs Monaten gem. Art. 72 Abs. 2 Satz 2 SächsLV, die faktisch dieselbe Funktion hat und damit mindestens fast ca. 50 % der gesamten Diskussionsphase eines vollständigen Volksgesetzgebungsverfahrens ausmacht, wird weggeschnitten.
Volksgesetzgebung ist jedoch nichts für „Schnellschüsse“. Denn es kommt darauf an, eine umfassende öffentliche Information und Diskussion innerhalb der gesamten Bürgerschaft zu organisieren. Dies ist innerhalb weniger Monate unmöglich. Dafür ist ein längerer Zeitraum notwendig, in dem auch kurzfristigen Emotionalisierungen und Fehlinformationen entgegengewirkt werden kann6)
Verhinderung des Plebiszits – Fazit
Angesichts der demagogischen Missbrauchspotenziale, insbesondere für extremistische Parteien, ist der Kenia-Koalition in Sachsen dringend zu empfehlen, das Plebiszit aus dem Gesetzentwurf zu streichen. Die übrigen Reformen, insbesondere die Verbesserung der Volksgesetzgebung, sollten weiterverfolgt werden. Zum Fallenlassen des Plebiszits ist die Koalition im Übrigen auch gezwungen, wenn sie eine parlamentarische 2/3-Mehrheit anstrebt, um die Verfassung auf dem üblichen parlamentarischen Weg gem. Art. 74 Abs. 2 SächsLV zu ändern. Da nicht davon auszugehen ist, dass die Koalition mit den Stimmen der AfD ihre Pläne verwirklichen will, wäre sie auf die Zustimmung der Linkspartei angewiesen. Im Interesse der Linkspartei als Minderheitspartei kann das Plebiszit aber nicht liegen, schon deshalb nicht, weil eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei in Sachsen nicht sehr wahrscheinlich ist.
Um die absehbaren und zu begrüßenden Widerstände der Linkspartei zu umgehen, ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Koalition versuchen wird, die Verfassungsänderung durch ein Verfassungsplebiszit gem. Art. 74 Abs. 3 Satz 1 SächsLV durchzuführen. Danach können anstelle einer verfassungsändernden 2/3-Mehrheit des Landtages mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtags beantragen, dass ein Volksentscheid über eine vorgeschlagene Verfassungsänderung stattfinden soll. Die Koalition wäre dann auf die Zustimmung der Linkspartei nicht angewiesen. Dann müsste allerdings die Mehrheit der stimmberechtigten Bürger zustimmen, Art. 74 Abs. 3 Satz 3 SächsLV. Dies ist ein sehr hohes Quorum. Selbst wenn die Abstimmung zusammen mit der Landtagswahl am 1. September stattfinden würde und an dieser ca. 70 % der Stimmberechtigen teilnehmen würden (was eine für Landtagswahlen hohe Wahlbeteiligung wäre; nur einmal haben sich bei der sächsischen Landtagswahl 1990 72 % beteiligt), müssten mehr als 70 % der Teilnehmenden für die Verfassungsänderung stimmen. Dies ist nicht ausgeschlossen, aber auch nicht wahrscheinlich. Dann würde ggf. auch auf diesem Wege auch der begrüßenswerte Teil der Reform der direkten Demokratie scheitern.
Angesichts auch dieses Szenarios wäre es demokratiepolitisch das Vernünftigste, wenn die Koalition das verkappte Plebiszit aus dem Gesetzentwurf streicht. Dies liegt zudem insbesondere im Interesse von SPD und Grünen, die als Minderheitsparteien davon letztlich kaum profitieren können. Das Plebiszit liegt letztlich vor allem im Interesse der AfD. Mit zunehmenden Wahlerfolgen werden deren Mitliederzahlen stark wachsen. Der Griff der AfD nach dem Plebiszit muss verhindert werden.
References
↑1 | Vgl. Möckli, So funktioniert direkte Demokratie, 2018, S. 22 ff. |
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↑2 | Plebiszite, d.h. Volksbeschlüsse als reines Zustimmungsinstrument in den Händen der herrschenden Oligarchie, gab es in der antiken römischen Republik, vgl. Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, 8. Aufl. 1995/2008, S. 120 ff., 125 ff. |
↑3, ↑4 | Heußner, Prämie auf die Macht, Verfassungsblog, 1.12.2023. |
↑5 | Heußner/Pautsch, Suspensives fakultatives Referendum verfassungswidrig, Quoren viel zu hoch, Plebiszit schädlich – Zu den direktdemokratischen Vorschlägen des sächsischen Koalitionsvertrages 2019-2024, Landes- und Kommunalverwaltung 2020, S. 63. |
↑6 | Beck, Direkte Demokratie – Was spricht dafür, was dagegen?, in: Heußner/Pautsch/Rehmet/Kiepe (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 4. Aufl. 2024, S. 427; Heußner/Pautsch, Der Griff nach dem Plebiszit, NVwZ-Extra 2014, S. 6. |