Körperverletzung im Amt
Strafbarkeit und Amtshaftung bei unnötigen polizeilichen Schmerzgriffen
Wer als Polizist einen Schmerzgriff rechtswidrig anwendet, macht sich wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt strafbar. Dasselbe gilt für Polizisten, die sich am Einsatzort befinden, aber nicht eingreifen, um den rechtswidrigen Schmerzgriff zu beenden. Sie verwirklichen den Straftatbestand in der Variante des Begehenlassens. Diese strafrechtlichen Konsequenzen werden im Folgenden anhand eines Sachverhalts dargelegt, den der Autor zur Anzeige gebracht und damit ein Ermittlungsverfahren angestoßen hat. Doch es ergeben sich noch weitere rechtliche Folgen: Der verletzten Person steht ein Amtshaftungsanspruch gegen das jeweilige Bundesland zu, bei Bundespolizisten gegen den Bund. Nach welchen Kriterien Schmerzgriffe als rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen zu bewerten sind, haben bereits die Beiträge von Joachim Wieland und Bernd Heinrich aufgezeigt.
Ein typischer Fall
Am 15. Mai 2023 blockierten Klima-Aktivisten eine Straße an der Kreuzung Tempelhofer Damm in Berlin. Zu den Aktivisten zählte Frau Dr. M., sie saß unangeklebt auf der Straße. Für jeden Anwesenden erkennbar beschränkte sich ihr Aktivismus auf friedliche Passivität, eine Gefahr ging von ihr für die anwesenden Polizeibeamten während des gesamten Geschehens nicht aus. Zwei Polizeibeamte trugen die Verletzte ohne besonderen Kraftaufwand ein paar Meter von der Straße auf den Bürgersteig, wobei die Polizisten je einen Arm festhielten und so zusammen das gesamte Gewicht der Verletzten trugen. Während des Wegtragens verdrehte einer der Polizeibeamten der Verletzten das linke Handgelenk, ohne dass dies das Wegbefördern in irgendeiner Weise erleichtert hätte. Dieser Griff verursachte der Verletzten erhebliche Schmerzen, weshalb sie schon zu Beginn des Wegtragens hörbar wimmerte. Spätestens dadurch bekamen die übrigen anwesenden Polizisten mit, dass ein Schmerzgriff angewendet wurde. Ein dritter Polizist beobachtete das Geschehen und hielt seine Kollegen nicht von der schmerzhaften Prozedur ab. Lediglich fragte er die Aktivistin, nachdem sie auf dem Bürgersteig abgesetzt worden war und sie sich wegen der fortdauernden Schmerzen das linke Handgelenk hielt, ob sie einen Arzt benötige. Ein vierter Polizist stand unmittelbar neben der Sitzblockade, er griff ebenso wenig ein wie ein fünfter Polizist, der das Geschehen anscheinend protokollierte.
Ein Fall von gefährlicher Körperverletzung im Amt
Das Verhalten der beiden Polizeibeamten, welche die Verletzte weggetragen haben, erfüllt den Tatbestand der mittäterschaftlichen gefährlichen Körperverletzung im Amt, § 340 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 3 in Verbindung mit §§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 25 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB). Das wissentliche Zufügen der Schmerzen stellt zumindest eine körperliche Misshandlung dar (§ 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB). Die Polizisten begingen die Tat auch als Beteiligte (Mittäter) gemeinschaftlich im Sinn des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB: Das Mitwirken des Polizisten, der die Verletzte am rechten Arm trug und festhielt, ermöglichte dem anderen Polizisten die problemlose Schmerzzufügung und unterband insbesondere Abwehrmaßnahmen der Verletzten, erhöhte also damit die Gefahr der Körperverletzung. Beide Amtsträger handelten während der Dienstausübung (§ 340 Abs. 1 StGB).
Keine Rechtfertigung
Eine Rechtfertigung der Schmerzzufügung greift nicht ein, weil das Zufügen von Schmerzen während des Wegtragens der ersichtlich friedlichen Verletzten schlicht nicht erforderlich war (vgl. bei Wieland). Die Polizisten hatten die Verletzte schon ohne Schmerzzufügung sicher im Griff und sie körperlich vollkommen unter Kontrolle; das Zufügen von Schmerzen hat nicht einmal die Tragelast gemindert (was freilich ebenfalls keine Rechtfertigung ergäbe). Der Schmerzgriff ist nicht anders zu beurteilen als es ein – während des Wegtragens der Aktivistin – etwa erfolgtes Kneifen der Betroffenen oder ein An-den-Ohren-Ziehen wäre. Derartiges Zufügen von Schmerzen hat bei der polizeilichen Gefahrenabwehr gegenüber harmlosen Aktivisten schlicht keinen Sinn – jedenfalls keinen guten.
Da sich die gegebene Unverhältnismäßigkeit jedem aufdrängt, vermag die beiden Polizeibeamten weder eine etwa existierende Anweisung noch eine von der Dienstbehörde ausgesprochene grundsätzliche Gestattung solcher Schmerzgriffe zu rechtfertigen. Sie hätten remonstrieren müssen beziehungsweise zumindest in Ausübung ihres im Einzelfall bestehenden Ermessens bei dem Einsatz gegenüber der Verletzten zwingend auf die Schmerzzufügung verzichten müssen.
Das Absurde und Unverhältnismäßige der polizeilichen Schmerzgriff-Praxis macht ein weiterer Aspekt deutlich: Gerade die Polizei Berlin hat in den sozialen Medien darauf hingewiesen, dass Privatleute sich damit zurückhalten sollten, Klima-Aktivisten von der Straße zu ziehen oder sie wegzutragen, Vorrang habe das Herbeirufen der Polizei. Dieser Hinweis verliert aber seine Berechtigung, wenn die herbeigerufenen Polizisten beim Wegtragen einer Klima-Aktivistin dieser unnötige Schmerzen zufügen. Denn in solchen Fällen wäre das Eingreifen des Privatmanns (im Wege des Wegtragens ohne Schmerzgriffe) milder als das polizeiliche Eingreifen; folglich würde der angeführte Subsidiaritätsgedanke nicht greifen (vgl. Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl., § 32 Rn. 145). Man denke sich zwei rechtsstaatlich gesinnte LKW-Fahrer, die der Polizei anbieten, die Klima-Aktivisten ohne Schmerzzufügungen wegzutragen – die Polizisten müssten sie gewähren lassen, wenn sie selbst nur bereit sind, die Aktivisten mit Schmerzgriffen wegzutragen.
Kein Verbotsirrtum
Sollten die Polizeibeamten irrig angenommen haben, zum Zufügen unnötiger Schmerzen in der konkreten Situation legitimiert zu sein, wäre dies bloß ein vermeidbarer Verbotsirrtum (§ 17 S. 2 StGB), der ihre Schuld bestehen ließe. Vermeidbar wäre der Irrtum deshalb, weil die Polizeibeamten – die konkrete Situation und die Unnötigkeit der Schmerzufügung vor Augen – allemal durch Einsatz ihrer kognitiven Erkenntniskräfte hätten erkennen können, dass ihr Verhalten Unrecht darstellt. Dass bei der Ausübung staatlicher Gewalt unnötige körperliche Beeinträchtigungen einer Bürgerin zu unterlassen sind, ist zudem bereits als wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit (Verhältnismäßigkeit) staatsbürgerliches Allgemeinwissen und schon deshalb von Polizisten zu verlangen. Deshalb begründet es auch nicht die Unvermeidbarkeit des Irrtums, dass offizielle Stellen der Berliner Polizei die Schmerzgriffe öffentlich verteidigt haben. Unnötiges Zufügen von Schmerzen weicht derart offensichtlich von dem ab, was die Polizisten sonst über legitime Polizeigewalt gelernt haben, dass sich ihnen die Widersprüchlichkeit der Gestattung sowohl wie die Erkenntnis der Illegitimität aufdrängen.
Geschehenlassen trotz Abwendungspflicht
Auch das Verhalten der Polizeibeamten, welche die Schmerzzufügung geschehen ließen, erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung im Amt, allerdings in der Variante des „Begehenlassens“ (§ 340 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 3 in Verbindung mit § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB): Alle drei Polizeibeamten hatten die faktische Möglichkeit, das Fortdauern der Schmerzzufügung zu unterbinden; denn sie hätten beispielsweise verbal auf ihre Kollegen einwirken können oder ihnen entgegentreten und sie zum Absetzen der Verletzten durch körperliches Eingreifen veranlassen können. Sie haben die Tat von ihren aktiv agierenden Kollegen „begehen lassen“ (§ 340 Abs. 1 Alt. 2 StGB), denn darunter versteht die Rechtsprechung auch das pflichtwidrige Unterlassen des Einschreitens, das bloße Geschehenlassen (so schon das Reichsgericht). Fürs Abwenden des Misshandlungserfolges traf im Berliner Fall die anwesenden Polizeibeamten „während der Ausübung ihres Dienstes“ eine entsprechende Amtspflicht. In der gebotenen Weise einzugreifen und das Fortdauern der Schmerzzufügung abzuwenden, haben die Polizisten daher wissentlich unterlassen. Ihr Untätigbleiben ist schließlich weder gerechtfertigt noch entschuldigt.
Verleiten zur Straftatbegehung
Mit Blick auf die Strafbarkeit von Beamten der polizeilichen Führungsebene könnte die Praxis der Schmerzgriffe einer Strafnorm Leben einhauchen, die selten angewendet wird: der „Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat“ (§ 357 Abs. 1 StGB). Für einen Einsatzleiter bei einer Demonstration vor Ort etwa bietet sich zwar die Verteidigungslinie an, das Anwenden von Schmerzgriffen sei ins pflichtgemäße Ermessen des einzelnen Polizisten gestellt worden und auf die Pflichtgemäßheit der Ausübung habe man vertraut. Doch dürfte das vielfach als Schutzbehauptung erkannt werden können. Berichten von Aktivisten zufolge finden bei Großblockaden (etwa Lützerath) die polizeilichen Räumungen entweder flächendeckend ohne Schmerzgriffe oder aber flächendeckend mit Schmerzgriffen statt. Das spricht sehr dafür, dass die Einsatzleitung die Polizisten am jeweiligen Einsatzort entsprechend angewiesen hat.
Aber selbst, wenn sich für einzelne Einsätze keine solche Anweisung ermitteln lässt, können Vorgesetzte gemäß § 357 Abs. 1 StGB im Einzelfall verfolgt werden, da auch diese Norm das vorsätzliche Geschehenlassen erfasst: Erkennt der Vorgesetzte während des Einsatzes, dass seine Untergebenen gegen friedlich Protestierende unnötige Schmerzgriffe einsetzen, kann er andauernde Schmerzzufügungen unterbinden und damit weitere Körperverletzungen verhindern. Schreitet er nicht ein, macht er sich durch Geschehenlassen der Taten strafbar. Allerdings erfasst dann auch der speziellere § 340 Abs. 1 Alt. 2 StGB das Verhalten.
Amtshaftung des Landes
Hinsichtlich der Folgen des jeweiligen rechtswidrigen Schmerzgriffs haben Verletzte einen Anspruch auf Schmerzensgeld und sonstige Entschädigung (etwa Verdienstausfall und Arztkosten). Insbesondere besteht zwischen der Straftatbegehung und der Amtsausübung der nötige innere Zusammenhang. Die Polizisten begehen die Körperverletzung gleichsam unter dem Mantel einer zu ihrer Amtsausübung zählenden Gefahrenabwehrmaßnahme, und ihr Verhalten ist auch pflichtwidrig. Das Eingreifen von Art. 34 Grundgesetz in Verbindung mit § 839 Bürgerliches Gesetzbuch hat zur Folge, dass der jeweils Verletzte einen solventen Schuldner erhält: Die Eigenhaftung des Polizisten wird übergeleitet auf das Bundesland oder bei Bundespolizisten auf den Bund. Zu verklagen ist dann auch nicht der einzelne Polizist, sondern das Bundesland oder die Bundesrepublik.
Das Anrufen eines Zivilgerichts hat für die Verletzten einen weiteren Vorteil: Sollte die Staatsanwaltschaft im Einzelfall den Anfangsverdacht einer Straftat verneinen, weil sie das polizeiliche Vorgehen für rechtmäßig hält, ist das Zivilgericht an diese Bewertung nicht gebunden, ja nicht einmal an ein entsprechendes Strafurteil. Der Verletzte hat also neben Strafantrag und Verwaltungsgerichtsverfahren eine weitere Chance, rechtswidriges Polizeihandeln von einem staatlichen Gericht als solches identifizieren zu lassen. Zivilgerichte betrachten polizeiliches Verhalten häufig kritischer als es Staatsanwaltschaften tun, wie beispielsweise der spektakuläre Justizirrtum im Fall Harry Wörz zeigt (der „Zivilprozess in Karlsruhe brachte die Wende“). Deshalb bietet das Anrufen eines Zivilgerichts nicht nur eine theoretische, sondern eine durchaus realistische Chance auf einen Klageerfolg. Der über Zivilgerichte angesetzte finanzielle Hebel könnte am Ende stärker gegen rechtswidrige Polizeigewalt wirken als der Versuch, eine Strafverfolgung zu erreichen. Erfahrungsgemäß kommt es bei Polizeigewalt selten zur Strafverfolgung und noch seltener zu Verurteilungen.
Schmerzgriffe zur Abschreckung
Die Praxis polizeilicher Schmerzgriffe ist zum Teil offen rechtswidrig. Leider versucht die Polizei, die Maßnahmen in ersichtlich vorgeschobener Weise zu legitimieren. Das ist unwürdig. So sind sich die Verantwortlichen teils nicht zu schade, das Wegtragen einer zierlichen Aktivistin, wenn zwei kräftige Beamte es vollziehen, mit Aspekten des Gesundheitsschutzes und des Erhalts der Einsatzfähigkeit zu begründen (Vermeidung von Tragelast). Diese nicht ernst zu nehmende Argumentation versagt zudem offenkundig in Fällen, wie dem hier besprochenen, in denen die Polizeibeamten ohnehin das gesamte Körpergewicht der Aktivistin tragen, der Schmerzgriff die Tragelast also gerade nicht mindert. Man muss erkennen, worum es der Polizei mit dem Verursachen der Schmerzen in Wahrheit geht: Die Aktivisten sollen durch die Schmerzzufügung daran gehindert werden, alsbald oder später erneut Blockaden vorzunehmen. Es ist aber klar unzulässig, Schmerzen zu mittelbaren Zwecken zuzufügen, also mit dem Ziel, Störer von künftigem Verhalten abzuschrecken. Deshalb weicht man auf andere, allerdings erkennbar nicht tragfähige Begründungen aus und versteckt die erhebliche und nicht ohne weiteres wahrnehmbare Gewaltanwendung unter dem Mantel der an sich zulässigen Gefahrenabwehrmaßnahme.
Es ist aus rechtsstaatlicher Sicht hochbedenklich, dass sich Polizisten für solch eine Praxis hergeben und ihre Vorgesetzten, Polizeipräsidenten und Innenminister nicht einschreiten. Die Polizeibeamten verhalten sich rechtswidrig und lösen Notwehrrechte der malträtierten Aktivisten aus (s. hier). Dies zuzulassen oder durch Dienstanweisungen zu veranlassen, ist von den Dienstherren pflichtwidrig – auch gegenüber ihren Polizeibeamten. Es birgt nämlich Eskalationsrisiken, insbesondere könnten sich Beobachter einmischen und den Aktivisten gewaltsam Nothilfe leisten. Das Ganze führt zu einem bedenklichen Amalgam aus rechtswidriger, versteckter Gewalt mit Eskalationspotenzial sowie der Gefahr einer Normalisierung von Polizeigewalt und einem Verlust an Vertrauen in den Rechtsstaat. Dem sollten die Verantwortlichen in Polizei, Ministerien und Staatsanwaltschaft entschlossen entgegentreten und der Praxis Einhalt gebieten.