02 December 2020

Schutz bei Wehrdienstentzug für syrische Geflüchtete

Während bis Anfang 2016 nahezu alle Syrer:innen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Flüchtlingsschutz erhielten, sinkt dieser Anteil seitdem dramatisch. Berücksichtigt man nur die materiellen Entscheidungen über individuelle Asylanträge, liegt der Anteil aktuell nur noch bei etwa fünf Prozent. Alle anderen Antragsstellenden erhalten nur den subsidiären Schutzstatus, mit teilweise starken Unterschieden in den Rechtsfolgen. Waren 2016 noch vier von fünf Aufstockungsklagen gegen diese Entscheidungspraxis erfolgreich, sankt diese Quote in den letzten Jahren ebenfalls kontinuierlich; aktuell liegt sie bei gut zehn Prozent. Ein großer Teil dieser Klagen stammt von syrischen Männern, die sich durch Flucht dem Wehrdienst entzogen haben und denen die überwiegende Mehrheit der Oberverwaltungsgerichte lediglich subsidiären Schutz zuspricht.

In seinem Urteil vom 19. November 2020 hat sich der EuGH deutlich gegen diese Entscheidungspraxis ausgesprochen. Laut EuGH bestehe eine „starke Vermutung“, dass junge Männer, die sich durch Flucht dem syrischen Militärdienst entzogen haben, bei ihrer Rückkehr als Oppositionelle politische verfolgt werden und damit Flüchtlingsschutz erhalten müssen. Während das Urteil keinen Zweifel daran lässt, dass die Entscheidungspraxis von BAMF und Oberverwaltungsgerichten in der Vergangenheit unrechtmäßig war, so ist doch keineswegs sicher, dass das Urteil die Wirkung entfalten wird, die ihm in den meisten Kommentaren zugeschrieben wurde. Die aktuelle Argumentationslinie in der obergerichtlichen Rechtsprechung lässt vielmehr vermuten, dass die Gerichte das EuGH-Urteil mit Verweis auf eine geänderte Tatsachengrundlage umgehen werden.

Die deutsche Syrienrechtsprechung beruht allerdings auf starken Annahmen und Hypothesen über den Charakter des syrischen Staates sowie über die Motivation der Geflüchteten. Wenn diese Annahmen zur Tatsachengrundlage für Urteile gemacht werden, bleibt die EuGH-Entscheidung wirkungslos und Wehrdienstentzug führt weiterhin nicht zu Flüchtlingsschutz.

Die Argumentation des EuGH

Bei der EuGH-Entscheidung handelt es sich um eine Antwort auf insgesamt fünf Vorlagefragen des VG Hannover zur Zuerkennung des Flüchtlingseigenschaft für syrische Wehrdienstverweigerer. Die Fragen beziehen sich allesamt auf Art. 9 Abs. 2 Bst. e Qualifikationsrichtlinie (QRL), in dem festgelegt ist, dass eine Strafverfolgung wegen der Verweigerung eines Wehrdienstes, in dessen Rahmen Kriegsverbrechen wahrscheinlich sind, als Verfolgungshandlung anzusehen ist. Die weitreichendsten Aussagen macht der EuGH dabei in seiner Antwort auf Fragen Nr. 4 und Nr. 5, in denen es darum geht, ob die genannte Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund verknüpft sein muss.

Die eigentliche Antwort (es bedarf einer Verknüpfung) ist dabei weniger zentral als die folgenden Abschnitte, in denen der EuGH weitreichende und über die Fragen hinausgehende rechtliche und tatsächliche Ausführungen macht. Das betrifft zum einen die rechtliche Klarstellung, dass es nicht Aufgabe der asylsuchenden Person sein könne, die Verknüpfung des Wehrdienstentzuges mit einem Verfolgungsgrund aus Art. 10 QRL nachzuweisen. Vielmehr müsse die zuständige Behörde die Plausibilität dieser Verknüpfung prüfen. Die potenzielle Wirkmächtigkeit dieser Feststellung ergibt sich aus der in diesem Zusammenhang getätigten tatsächlichen Feststellung, dass für eine Verknüpfung eine „starke Vermutung“ bestehe. Im Gegensatz dazu haben deutsche OVG in der überwiegenden Mehrheit nicht zuletzt mit dem Verweis auf fehlende „Referenzfälle“ eine politische Verfolgung rückkehrender Wehrdienstverweigerer abgelehnt. Eine Ausnahme bildete das OVG Mecklenburg-Vorpommern, das 2018 im Falle einer unaufklärbaren Situation auf Flüchtlingsschutz entschied. Auch der 11. Senat des VGH Baden-Württemberg argumentierte 2017 ähnlich, wenngleich weniger explizit als das OVG Mecklenburg-Vorpommern. Dessen Entscheidung wurde am 4. Juli 2019 vom BVerwG aufgehoben mit dem Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit dieses Prüfungsmaßstabs.

Eine Lesart des EuGH-Urteils lautet, dass im Gegensatz dazu der Maßstab eines in dubio pro refugio gestärkt wird. Ob der EuGH an der entsprechenden Stelle überhaupt auf die materielle Beweislast abzielt oder vielmehr Aussagen über die formelle Beweislast macht (was deutlich weniger revolutionär wäre), sei dahingestellt. Selbst in der Lesart einer am Schutz orientierten materiellen Beweislast besteht nämlich die begründete Annahme, dass das BAMF und die Gerichte die tatsächliche Prämisse des EuGH nicht teilen, also der „starken Vermutung“ einer Verfolgung syrischer Wehrdienstverweigerer aufgrund einer unterstellten politischen Überzeugung widersprechen. Verwaltung und Rechtsinstanzen könnten also argumentieren: Wenn kein dubio, dann kein pro refugio.

Die obergerichtliche Rechtsprechung zu syrischen Wehrdienstverweigerern

Bemerkenswert ist, dass die Vorlagefragen des VG Hannover sich alle auf Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL beziehen. Dieses Regelbeispiel spielte in den Ablehnungsbegründungen einer Flüchtlingseigenschaft bislang eine untergeordnete Rolle und wurde meist ganz am Ende nur kurz diskutiert. Die meisten OVG verwiesen darauf, dass zum einen keine formale Verweigerung des Wehrdienstes vorläge und zum anderen der zukünftige Einsatzort eines Klägers unklar sei, weshalb nicht pauschal angenommen werden könne, dass er sich an Kriegsverbrechen beteiligen müsse. Diese Argumente wies der EuGH zurück: Es könne erstens keine formale Verweigerung verlangt werden, wenn das unmöglich sei. Zweitens würden in Syrien flächendeckend Kriegsverbrechen begangen, von einer Beteiligung daran müsse also ausgegangen werden. Dass diese Fragen nun geklärt sind, wird allerdings keine Wirkung zeitigen, wenn die Gerichte die Verknüpfung der Wehrdienstentziehung mit einer politischen Überzeugung ablehnen. Sowohl in der älteren als auch der jüngeren Rechtsprechung wird diese Verknüpfung nicht nur grundsätzlich, sondern auch im Kontext einer zukünftigen Beteiligung an Kriegsverbrechen verneint.

Wegen des neuen Prüfmaßstabs des EuGH könnten die Gerichte nun zwar ihre Ablehnung nicht mehr auf eine unklare empirische Grundlage stützen. Die neuere Rechtsprechung zeigt aber, dass die Gerichte das gar nicht mehr müssen. Denn das mittlerweile zentrale Argument in den Entscheidungsgründen lautet, dass die syrische Regierung den Krieg weitgehend gewonnen habe, die Situation sei unter Kontrolle und eine politische Verfolgung derer, die sich dem Einsatz entzogen haben, damit unwahrscheinlich. Besonders deutlich wird das bei OVG, die noch bis 2018 auf Flüchtlingsschutz entschieden haben, mittlerweile ihre Ansicht mit Verweis auf die neue Tatsachenlage aber geändert haben. So argumentieren sowohl das OVG Sachsen als auch der VGH Bayern, dass von der Assad-Regierung angestrengte Demobilisierungsmaßnahmen und Amnestien zeigten, dass das Regime eine „Normalisierung der Verhältnisse“ anstrebe und deshalb Wehrdienstverweigerern „nunmehr versöhnlich gegenübertreten wird“. Auch Kriegsverbrechen würden damit unwahrscheinlicher, argumentiert das OVG Niedersachsen in einer der jüngsten Entscheidungen zum Thema: „Mit der Stabilisierung des Regimes und der Rückeroberung erheblicher Landesteile durch die syrische Armee und ihre Verbündeten nimmt die Intensität der militärischen Auseinandersetzungen und damit die Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen ab.“ Damit könnte die vom EuGH eingeleitete Aufwertung des Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL als relevante Verfolgungshandlung mit Verweis auf die tatsächliche Lage gleich wieder untergraben werden. Die EuGH-Entscheidung kommt dahingehend knapp fünf Jahre zu spät.

Das rationale Regime

Die neuere Argumentation der Gerichte schließt damit an ein zentrales Motiv der Syrienrechtsprechung an, nämlich die Annahme, die syrische Regierung handele in erster Linie rational. In der Zeit der heißen Phase des Konflikts argumentierten diejenigen Gerichte, die Flüchtlingsschutz ablehnten, dass ein Regime, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, rückkehrende Wehrdienstverweigerer nicht politisch verfolgen würde. Wahrscheinlicher im Sinne dessen „objektiven Interesses“ sei eine schnellstmögliche Zuführung zur „notleidenden Armee“. Die Gerichte nehmen bei diesen Argumenten immer wieder „die Sicht des syrischen Regimes“ ein und verweisen auf die „Lebenserfahrung“, die die Annahme politischer Verfolgung abwegig mache. Sie verweisen außerdem auf die „offizielle Haltung“ des syrischen Regimes als maßgebliches Indiz für dessen Versöhnungspolitik und sehen öffentliche Äußerungen Assads zur Unterscheidung zwischen „guten Syrern“ und „Terroristen“ als Indiz für dessen rationale Handlungsgrundlagen. Als Motiv der Flucht müsse außerdem vielmehr die Furcht vor einem Einsatz im Krieg angenommen werden und nicht politische Überzeugung. Man würde dem syrischen Regime „ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit“ unterstellen, wenn man annehme, es würde dies nicht „erkennen“. Die aktuelle Rechtsprechung führt diese Logik der Rationalisierung bei gleichzeitiger Entpolitisierung der Wehrdienstentzieher fort. Damit beruhen die für die Entscheidungen maßgeblichen Argumente auf vorempirischen Annahmen darüber, ob politische Verfolgung „plausibel“ ist sowie über die „völlig unpolitische[n]“ Motive von Wehrdienstentziehern. Dass ebenso die gegenteiligen Annahmen als Grundlage dienen können, wird deutlich bei Betrachtung der wenigen verbleibenden Urteile, die weiterhin von einer politische Verfolgung ausgehen und die der Rationalitätsunterstellung implizit oder explizit widersprechen.

In seinen Urteilen vom 4. Juli 2019 stellt das BVerwG fest, dass die Entscheidung über einen Flüchtlingsschutz „nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden“ darf. Zwar verzichten die Gerichte nicht auf Erkenntnismittel in Form von Länderberichten. Auffällig ist aber, dass sie diese teilweise so verwenden, dass sie zu den oben beschriebenen Annahmen passen. Das Urteil des BVerwG kann allerdings so verstanden werden, dass die Berufung auf Hypothesen zur „Logik“ oder zum „Charakter“ des syrischen Regimes nicht maßgeblicher Grund für die Feststellung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung sein dürfen (so auch der Vizepräsident des VG Halle Andreas Pfersich in seiner Anmerkung zum BVerwG-Urteil).

Solange die obergerichtliche Rechtsprechung ihre Entscheidungsgründe auf derartige Annahmen stützt und diese zur Tatsachengrundlage ihrer Urteile macht, kann der vom EuGH eingeforderte Prüfungsmaßstab nicht wirkmächtig werden. Denn die Gerichte, und mit ihnen das BAMF, werden sich darauf berufen, dass die vom EuGH verordnete Plausibilitätsprüfung eindeutig gegen politische Verfolgung spricht und dessen „starke Vermutung“ deshalb aus tatsächlichen Gründen zurückweisen. Mit Blick auf die Handlungen der syrischen Regierung in den letzten zehn Jahren ist es zumindest zweifelhaft, Entscheidungen auf derart starke Rationalitätsannahmen zu stützten, noch dazu einhergehend mit der pauschalen Entpolitisierung von Geflüchteten. Nur wenn diese Annahmen hinterfragt werden, kann die Entscheidung des EuGH wirksam werden und aufräumen mit einer nun knapp fünf Jahre währenden Entrechtung syrischer Männer, die sich weigern, in einem grausamen Krieg gegen ihre Mitbürger:innen zu kämpfen.