07 April 2022

Sexualverbrechen sind nicht grenzüberschreitend

Anmerkungen zum Vorschlag einer EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

Pünktlich zum Internationalen Frauentag am 8. März 2022 hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vorgelegt. Auch wenn der Inhalt der Richtlinie politisch wünschenswert ist, hat die EU hierfür nicht die Kompetenz, da Vergewaltigungen (und Femizide) keine grenzübergreifende Kriminalität darstellen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Bundesrepublik der Vergewaltigungs-Vorgabe in Art. 5 des Richtlinien-Entwurfs nicht zustimmen, will sie nicht die Vorgaben aus dem Lissabon-Urteil des BVerfG ignorieren.

Strafrecht auf Unionsebene

Die EU ist auch auf dem Gebiet des Strafrechts an das Prinzip der limitierten Einzelermächtigung gebunden. Das weiß natürlich die Kommission und nennt als Kompetenztitel ihres Vorschlags für die materiellstrafrechtlichen Vorgaben Art. 83 Abs. 1 AEUV und für die Opferschutzregelungen Art. 82 Abs. 2 AEUV. Letzteres dürfte wenig Probleme aufweisen, zumal der Opferschutz bereits seit 2001 EU-weit geregelt und – flankiert auch durch das bekannte Pupino-Urteil des EuGH (2005) – immer weiter ausgebaut worden ist.

Dagegen versteht sich nicht von selbst, dass Art. 83 Abs. 1 AEUV wirklich der Union eine Kompetenz für Strafnormen gegen häusliche Gewalt vermittelt. Art. 83 Abs. 1 UA. 2 AEUV zählt die EU-weit harmonsierbaren Kriminalitätsfelder abschließend auf. Dieser Katalog könnte nach Art. 83 Abs. 1 UA. 3 AEUV nur mit einem einstimmigen Votum aller Mitgliedstaaten ausgeweitet werden. Der Kernbereich häuslicher Gewalt in Form von Verletzungen oder gar Tötungen (eben den Femiziden) zumeist von Frauen durch ihre Partner oder Mitbewohner ist darin nicht enthalten. Insofern ist der Titel des Entwurfs missverständlich und sollte – auch im Interesse größtmöglicher inhaltlicher Transparenz und damit verbunden europäischer „Firmenklarheit“ – geändert werden.

Der Entwurf beschränkt sich mit Recht für die Tatbestandsvorgaben auf zwei in Art. 83 Abs. 1 UA. 2 AEUV tatsächlich benannte Felder, nämlich die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern und Computer-Kriminalität bzw. Cybercrime. Ersteres dient als Grundlage für nationale Regelungen zur Strafbarkeit von Vergewaltigungen (Art. 5) und Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 6), letzteres für Cyber-Stalking (Art. 7), die unbefugte Versendung von Intimaufnahmen via Internet (Art. 8), Cybermobbing (Art. 9) und das Aufstacheln zu Straftaten via Internet (Art. 10) sowie diesbezüglich Anstiftung, Beihilfe und Versuch (Art. 11). Schließlich macht der Richtlinienvorschlag differenzierte Vorgaben für Mindesthöchststrafen (Art. 12).

Männer und nichtbinäre Personen ausgeschlossen 

Da sich die Ermächtigungsgrundlage in Art. 83 Abs. 1 UA. 2 AEUV auf die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern beschränkt, sind Männer konsequent ausgenommen, ebenso auch (erwachsene) nichtbinäre Personen, da diese zwar keine Männer, aber eben auch nicht Frauen sind. Warum auch männliche und nichtbinäre Personen unter 18 Jahren ausgeklammert sein sollen, ist angesichts des Wortlauts von Art. 83 Abs. 1 AEUV, aber auch der Tathandlungen – die sich nicht (wie die Vergewaltigung in Deutschland bis 1997 und bis heute der Inzest-Tatbestand des § 173 StGB) auf den Beischlaf beziehen, sondern (natürlich völlig zu Recht) auch die orale und anale Penetration mit umfassen – nicht nachvollziehbar.

Näher liegt die Beschränkung auf Mädchen und Frauen wohl bei der Genitalverstümmelung. Angesichts des Tatobjekts (der weiblichen Geschlechtsteile) wäre aber auch insoweit eine Einbeziehung minderjähriger nichtbinärer Personen denkbar, zumal diese in der Begründung als mögliche Opfer einer Vergewaltigung explizit thematisiert werden. Da der RL-Entwurf aber nur Mindestvorgaben enthält, wäre kein Mitgliedstaat gehindert, bei der Umsetzung darüber hinaus zu gehen und auch andere Opfergruppen zu erfassen.

Gegen die Vorgaben zu den Cybercrime-Delikten gibt es wenig zu erinnern. Vor allem hat hier die EU auch darauf geachtet, dass der Täter- wie Opferkreis nicht nur einem Geschlecht zuzuordnen ist. Da etwa (Cyber-)Mobbing bis heute im StGB nicht eigens geregelt ist,1) müsste der Gesetzgeber prüfen, welche Strafbarkeitslücken sich tatsächlich auftun (es könnte ja andere Straftatbestände einschlägig sein) und zumindest für diese (oder generell für die Vorgaben in Art. 9) durch ein Gesetzesnovelle Abhilfe schaffen.

Grenzüberschreitende Kriminalität

Allgemein gibt Art. 83 Abs. 1 UA. 1 AEUV für die originäre Strafrechtsanweisungskompetenz vor, dass es sich um schwere und vor allem grenzüberschreitende Kriminalität handeln muss. Das wird man für Cybercrime im Regelfall schon deshalb bejahen können, weil über das Internet zumindest EU-weit überall Tathandlungen (z.B. Stalking, Versenden von Bildern) vorgenommen oder tatbestandliche Erfolge erzielt werden können.2)

Der Vorgang der Genitalverstümmelung ist als solcher natürlich seinem Wesen nach nicht grenzüberschreitend, doch zeigt der Blick auf die Praxis, dass Täter zur Vornahme solcher Handlungen etwa an ihren Töchtern typischerweise ins (zumeist nicht EU-)Ausland reisen.3) Die in Art. 83 Abs. 1 UA. 1 AEUV geforderte „grenzüberschreitende Dimension“ dürfte zwar im Regelfall auf einen Grenzübertritt innerhalb der EU abzielen; allerdings ist das nicht begriffsnotwendig, so dass eine EU-weite Regelung von Mindestvorgaben auch dann transnationale Kriminalität betreffen kann, wenn jemand das Opfer an einen Ort außerhalb der EU verbringt, um dort die Verstümmelung vorzunehmen oder vornehmen zu lassen.

Vergewaltigungen stellen demgegenüber weder faktisch noch rechtlich transnationale Kriminalität dar – und zwar erst recht nicht, wenn es um den Bezug zu häuslicher Gewalt geht, denn diese für die Opfer besonders belastende Gewaltausübung findet typischerweise zuhause statt; das zeigt auch die Legaldefinition für „domestic violence“ in Art. 4 Lit. b des RL-Vorschlags, der auf Taten „within the family or domestic unit“ abstellt.

Das ist ein Kernproblem jedweder verbindlicher EU-Vorgaben zur Vergewaltigung (aber auch zu Tötungsdelikten) und dieser Einwand muss aus deutscher Sicht in besonderem Maße gelten, hat doch das BVerfG im Lissabon-Urteil vom 30.6.2009 ausdrücklich festgehalten, dass die in Art. 83 Abs. 1 UA. 1 AEUV als Grundlage einer Ermächtigung der EU genannte grenzüberschreitende Dimension allein aus der Art der Tatbegehung oder den Auswirkungen der Tat – und aus nichts anderem (etwa politischen Erwägungen zur Sinnhaftigkeit EU-weiter Bekämpfung o.ä.) – resultieren kann (Rn. 359). Eine grenzüberschreitende Vergewaltigung ist – anders als etwa beim Menschenhandel – nicht sinnvoll denkbar, und die Auswirkungen der Tat sind – anders als etwa bei der Luftverschmutzung – im Regelfall allein am Wohnort des Opfers spürbar. Vor diesem Hintergrund dürfte die Bundesrepublik der Vorgabe in Art. 5 des RL-Entwurfs nicht zustimmen, will sie nicht die Vorgaben aus Karlsruhe ignorieren.

Die Notbremse

Sollte sich im Rat trotzdem die erforderliche Mehrheit anderer EU-Länder zur Zustimmung bereitfinden, könnte und müsste Deutschland für sich die Notbremse aus Art. 83 Abs. 3 AEUV ziehen.4) Da dies natürlich politisch misslich wäre, zumal die in Art. 5 enthaltenen Vorgaben in Deutschland (anders als in einigen anderen EU-Mitgliedstaaten) bereits geltendes Recht darstellen, wäre die EU gut beraten, diese Vorgaben herauszunehmen oder – um die Richtlinie im Übrigen nicht zu gefährden – für Art. 5 eine Opt-out-Regelung festzuschreiben, von der Deutschland Gebrauch machen könnte. Eine solche Opt-out-Möglichkeit wäre prinzipiell mit Art. 83 Abs.1 AEUV vereinbar, denn dieser strebt zwar eine (Mindest-)Harmonisierung in allen EU-Staaten an, doch zeigt bereits die Konsequenz bei der Notbremse-Regelung in Abs. 3, wonach nach deren Ziehen die weiterhin zur Harmonisierung bereiten Mitgliedstaaten in ihrem Kreise eine solche im Wege der verstärkten Zusammenarbeit realisieren können, dass aus EU-Sicht eine Harmonisierung in möglichst vielen Mitgliedstaaten gegenüber einer EU-weiten Nichtharmonisierung vorzugswürdig ist. Allerdings müsste die EU auch für Vorgaben zu Vergewaltigung mit Ausstiegsklausel eine Kompetenz haben; auf das Erfordernis grenzüberschreitender Kriminalität könnte daher nicht verzichtet werden, wohl aber auf dessen restriktive Interpretation durch das BVerfG. Möglich wäre also, dass die EU jenseits der beiden vom BVerfG akzeptierten Möglichkeiten eine grenzüberschreitende Dimension allein aus der „besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen,“ herzuleiten sucht.

Gegen die von Karlsruhe auferlegte Pflicht der Bundesregierung, das Wirksamwerden der Umsetzungsverpflichtung aus Art. 5 des RL-Entwurfs für Deutschland zu verhindern, kann man nicht einwenden, man habe ja bereits ohne EU-Vorgaben hierzu „aus freien Stücken“ gleiches Recht auf nationaler Ebene gesetzt, denn dieses verändert seine Natur durch das nachträgliche Zugrundelegen einer EU-Richtlinie etwa dadurch, dass eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht und der EuGH gem. Art. 267 AEUV für Letztentscheidungen zuständig wird.

Vor diesem Hintergrund kann man der Bundesregierung nur anraten, im Rat darauf zu dringen, die tatbestandlichen Vorgaben für eine Vergewaltigung in Art. 5 des RL-Entwurfs mangels grenzüberschreitender Dimension zu streichen oder für die Mitgliedstaaten fakultativ auszugestalten. Das gilt auch für die in Art. 12 hierfür vorgeschlagenen Mindesthöchststrafen. Sollte die Kommission darauf nicht eingehen, müsste man wohl – auch um diesbezügliche Fehlvorstellungen innerhalb der EU-Institutionen und in den anderen Mitgliedstaaten auszuschließen – darauf hinweisen, dass bei der Beibehaltung des Art. 5 und der darauf aufbauenden Sanktionsregelungen Deutschland vor dem Hintergrund des Lissabon-Urteils von Verfassungswegen dem Entwurf nicht zustimmen könnte und bei einer Annahme mit der erforderlichen Mehrheit zum Ziehen der „Notbremse“ verpflichtet wäre. Deren Ankündigung ist zwar im Unionsrecht nicht vorgeschrieben, doch erscheint es mir als Ausdruck EU-interner Loyalität und Fairness angezeigt, die anderen im Rat Versammelten nicht im Unklaren über diese dem deutschen Verfassungsrecht entnommene Konsequenz zu lassen.

References

References
1 Dazu Florian Knauer, Der Schutz der Psyche im Strafrecht, 2003, S. 241 ff.
2 Vgl. Adrian Haase, Computerkriminalität im Europäischen Strafrecht, 2017, S. 79 f .
3 Vgl. nur Edward Schramm, in: Festschrift für Kühl, 2014, S. 603, 628 f.
4 Dazu näher Martin Heger, ZIS 2009, 406, 413 f.

SUGGESTED CITATION  Heger, Martin: Sexualverbrechen sind nicht grenzüberschreitend: Anmerkungen zum Vorschlag einer EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, VerfBlog, 2022/4/07, https://verfassungsblog.de/sexualverbrechen-sind-nicht-grenzuberschreitend/, DOI: 10.17176/20220408-011054-0.

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