Sorge über den Fluss
Menschliche (Un-)Tätigkeit und die ökologische Katastrophe der Oder
Die Sorge geht über den Fluss. In einem Bändchen mit diesem Titel greift der Philosoph Hans Blumenberg die Fabel Cura des römischen Dichters Gaius Julius Hyginus auf, die vor ihm schon Herder, Goethe und Heidegger beschäftigt hatte. In der antiken Fabel formt die allegorische Figur der Sorge beim Überqueren eines Flusses aus vorgefundenem Lehm den Menschen und streitet dann mit Jupiter und Tellus über den Namen des von der Sorge erschaffenen Wesens. Der als Richter angerufene Saturn schlichtet den Streit durch den Vorschlag, es solle Homo heißen, weil es aus Humus gemacht worden sei. In der Erzählung dieser Fabel entdeckt Blumenberg eine bemerkenswerte Lücke, ein gnostisches Rätsel. Welchen Bezug hat die Überquerung des Flusses zur Erschaffung des Menschen? Nach Blumenbergs Rekonstruktion geht Cura über den Fluss, um sich darin zu spiegeln. Ihr auf der Wasseroberfläche sichtbares Spiegelbild, projiziert auf den Lehm am Grund des Flusses, hätte die Sorge bei der Erschaffung des Wesens nach ihrem eigenen Bild angeleitet.
Bei der Frage, weshalb Hyginus in seiner Fabel die Pointe der narzisstischen Spiegelung wegließ, verlassen wir Hans Blumenberg. Wir wenden uns vielmehr dem zu, was die Sorge erblickt, wenn sie heute den Fluss überquert, sagen wir die Oder, irgendwo auf ihrem Weg vom Sudetengebirge zur Ostsee. Ein Spiegelbild, das zur Erschaffung neuer Menschen inspirieren könnte, wird sie in den trüben Fluten wohl nicht erkennen können. Auch Fische und andere Lebewesen des Flusses wie Bieber, Otter, Frösche, Krebse, Muscheln, Insekten- und Amphibienlarven wird die Sorge nicht sehen. Rettungsdienste und Freiwillige haben aus dem Fluss über 113 Tonnen toter Fische und viele andere tote Lebewesen geborgen. Mit etwas Glück wird die Sorge vielleicht eine der 429 genehmigten oder 282 nicht genehmigten Abwassereinleitungen entdecken, die Abgeordnete von Polens Sejm aufgespürt haben, nachdem der Leiter der Wasserbehörden des Landes von höchster Stelle entlassen worden war.
Die ökologische Katastrophe als ein menschengemachtes Problem
Die Oder erlebt seit Ende Juli 2022 eine ökologische Katastrophe, ein massenhaftes Sterben von Fischen und anderer Organismen, die im Fluss leben. Als unmittelbare Ursache wird eine giftige Algenart vermutet. In Wasserproben aus dem Fluss und auf Satellitenbildern wurde eine massive Blüte von Prymnesium parvum – eine Algenart aus der Gruppe der sogenannten Goldalgen – nachgewiesen. Diese Alge produziert während der Blüte Stoffe, die für Fische und andere Wasserorganismen tödliches Gift sind. Sie kommt hauptsächlich in salzhaltigen Gewässern vor. Ihre Ausbreitung setzt einen Salzgehalt voraus, der in den betroffenen Abschnitten der Oder unter natürlichen Bedingungen nicht auftritt. Kaum plausibel ist deshalb die von polnischen Spitzenpolitikern zunehmend verbreitete Erklärung (siehe z.B. hier oder hier), die ökologische Katastrophe der Oder sei nur auf „natürliche” Ursachen wie niedrigen Wasserstand und erhöhte Wassertemperatur zurückzuführen. Nach Ermittlungen des polnischen Parlamentariers Dariusz Joński verfügt ein einzelnes Unternehmen im Ort Kędzierzin-Koźle über die Genehmigung, jährlich 6000 m3 Schadstoffe, darunter Zink und Phosphor, in den Fluss einzuleiten. Damit liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der Katastrophe um ein menschengemachtes Problem handelt, nämlich dass in massiver Weise Substanzen in den Fluss eingebracht wurden, die dessen Salzlast deutlich erhöht haben. Bei der Zahl der festgestellten legalen und illegalen Einleitungen drängt sich die Vermutung auf, dass die nach nationalem und EU-Recht (Wasserrahmenrichtlinie, Richtlinie über Umweltqualitätsnormen, Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, Nitratrichtlinie) zulässigen Grenzwerte für Schadstoffe im Flusswasser bereits vor dem Eintritt der Katastrophe überschritten waren. Das alles verlangt nach maximaler Transparenz. Stattdessen sind mehrere Wochen nach Eintritt der Katastrophe weder die Ursachen für die Vergiftung des Flusses geklärt, noch die dafür verantwortlichen Verursacher identifiziert worden.
Schweigen und Untätigkeit der polnischen Behörden werden noch weniger verständlich, bedenkt man, dass das Fischsterben bereits im März dieses Jahres in einem der sechs Abschnitte des Gliwice-Kanals und am 13. Juli im Hafenbecken des Abzweigs des Kędzierzyn-Kanals beobachtet wurde. Polnische private Medien berichten darüber hinaus, die Einleitung stark salzhaltiger Abwässer von Unternehmen in den Fluss erfolge im Einklang mit wasserrechtlichen Genehmigungen, die von der polnischen Gewässerbehörde ausgestellt wurde. Diese Behörde sei aber – so ihre Sprecherin Monika Burczaniuk – nicht für den Zustand der Gewässer zuständig. Die Überwachung des chemischen Zustands der Gewässer obliege vielmehr den Woiwodschaftsinspektionen für Umweltschutz, die ihrerseits die Landeshauptleute und die Woiwodschaftshauptinspektion für Umweltschutz über festgestellte Unregelmäßigkeiten informieren sollen. Dies bedeutet, dass die polnischen Gewässerbehörden, die festlegen, welche Substanzen und welche Mengen davon in den Fluss eingeleitet werden können, von den Auswirkungen dieser Einleitungen keine Kenntnis haben. Wenn solche Entscheidungen aber nicht auf der Basis seriöser Folgenabschätzungen getroffen werden, würde man gerne wissen, welche Kriterien ihnen denn dann zu Grunde liegen.
Mögliche Verletzung der Sorgfaltspflichten durch die polnischen Behörden
Ökologische Katastrophen der Art wie in der Oder wirken sich auch auf das breitere Ökosystem negativ aus. Umweltschützer alarmieren, dass alle Vögel und Tiere gefährdet sind, die Wasser aus der Oder trinken oder sich von Fischen ernähren. Auch landwirtschaftliche Tätigkeiten sind vomFlusswasser abhängig. Obwohl Angler und Ortsansässige schon am 26. Juli erste Funde von toten Fischen in der Oder meldeten, wurde das Vieh noch zwei Wochen später in der Oder getränkt, die Menschen badeten noch im Fluss, angelten und verspeisten die Fische (Berichterstattung über diese Fakten siehe z.B. hier). Es wäre deshalb unverantwortlich zu behaupten, dass diese Umweltkatastrophe sich in keiner Weise auf die menschliche Nahrungskette auswirken kann.
Während Soldaten, Feuerwehrleute und Freiwillige weiterhin den Fluss von toten Fischen säubern, um eine zusätzliche Kontamination des Wassers zu verhindern, stellt sich für Beteiligte und Betroffene die dringende Frage: Hätte die Katastrophe verhindert werden können, wenn die polnischen Behörden und die am Fluss wirtschaftenden Unternehmen alle ihre Sorgfaltspflichten erfüllt hätten?
Der Gedanke, dass solche Sorgfaltspflichten im nationalen und internationalen Kontext bestehen, ist ebenso wenig neu wie es ökologische Katastrophen in Flussläufen sind. Als es im Jahr 1986 nach einem Unfall im Rhein zu einem ähnlichen Todeszug kam, nahm die Öffentlichkeit erstaunt zur Kenntnis, dass der Fluss schon unter „normalen“ Umständen im Jahresdurchschnitt eine Giftlast von 47 t Quecksilber, 400 t Arsen, 130 t Kadmium, 1600 t Blei, 1500 t Kupfer, 1200 t Zink, 2600 t Chrom transportierte. Die größte Belastung verursachte Kochsalz mit einem Jahresdurchschnitt von 12 Millionen t und einem 1979 erreichten Höchstwert von 22 Millionen t, von denen allein 40% von einem Kalibergwerk im Elsass eingeleitet wurden. Damals diskutierte man intensiv über die den Staaten nach dem Völkerrecht in Bezug auf internationale Gewässer obliegenden Sorgfaltspflichten. Eine internationale Kommission für den Schutz des Rheins war seit 1950 tätig, ein erstes Übereinkommen zur Verringerung der Schadstoffbelastung des Flusses wurde 1963 unterzeichnet und 1999 durch das heute geltende abgelöst. Das letztere wie auch die im Jahr 2000 beschlossene EU-Wasserrahmenrichtlinie können als politische Reaktion auf die Rheinkatastrophe gedeutet werden. Inzwischen gibt es internationale Kommissionen für alle bedeutenden grenzüberschreitenden Gewässersysteme in Europa, einschließlich einer Internationalen Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung. Deren Webseite verzeichnet allerdings keine Programme zur Verringerung der Schadstoffbelastung des Flusses. Das dort zugängliche Überwachungssystem (einzige Messstation in Polen ist Wroclaw) zeigt keine aktuellen Daten.
Wie auch nach der Rheinkatastrophe verspricht das Handeln der öffentlichen Stellen wenig Abhilfe für die Betroffenen. Umso interessanter ist der Weg, den drei von der Versalzung des Rheins besonders nachteilig betroffene, in den Niederlanden ansässige landwirtschaftliche Betriebe im Jahre 1974 erfolgreich beschritten haben. Sie verklagten den Hauptverursacher, die Kali-Gruben in Moulhouse, vor der Rechtbank (Distriktgericht) Rotterdam auf Ersatz des Schadens, der ihnen dadurch entstanden ist, dass sie das stark salzhaltige Flusswasser nicht mehr zur Bewässerung ihrer Anbauflächen nutzen konnten. Nachdem der Europäische Gerichtshof die internationale Zuständigkeit des niederländischen Gerichts bejaht hatte, gab dieses der Klage am 16. Dezember 1983 mit einer aus der völkerrechtlichen Pflicht der Staaten abgeleiteten Begründung statt. Das Berufungsgericht in Den Haag machte sich in seinem Urteil vom 10. September 1986 diese Herleitung aus dem Völkerrecht zwar nicht zu eigen, folgerte aber in Anwendung der Grundsätze des niederländischen Deliktsrechts aus der gemeinsamen Angewiesenheit der Anrainer eines Gewässers eine Sorgfaltspflicht von privaten Gewässernutzern für die Erhaltung angemessener Nutzungsmöglichkeiten der flussabwärts lebenden Anrainer (Tijds chr. v. Aansprakelijkheid, TMA/ELLQ 1 (1987) s.15). Im Ergebnis bewirkt diese Rechtsauffassung eine strikte, verschuldensunabhängige Haftung desjenigen, der Gift- oder Schadstoffe in ein Gewässer einleitet (so z.B. Jan M. Van Dunné). Mehr als 30 Jahre später wurde dieser Begründungsweg im Urteil der Rechtbank Den Haag vom 26. Mai 2021 im Hinblick auf CO2 Emissionen wieder aufgegriffen.
Auf solchen Überlegungen aufbauende zivilrechtliche Verantwortlichkeit kann im Einzelfall Abhilfe schaffen, aber nicht generell einen Ausgleich schaffen, wenn Staaten und demokratischen Politik bei der Festlegung von Umweltschutznormen vor der Macht der Wirtschaft zurückweichen. Andererseits laufen Forderungen nach den strengeren hoheitlichen Regeln ins Leere, wenn die hoheitlichen Instanzen diese anschließend nicht durchsetzen, sei es, weil der Wille dazu fehlt oder sie dazu nicht in der Lage sind.
Natur als Subjekt? Von menschlicher Würde zur Humanökologie
In der Besorgnis über diesen Befund kehren wir zurück zu der Allegorie, die unsere Betrachtung eingeleitet hat. Was erblickt Cura, wenn sie heute den Fluss überquert, sagen wir die Oder? Nicht das eigene Spiegelbild blickt die Sorge aus dem Fluss an, sondern das Bild des Menschen selbst, so wie er ist, sorglos und ohne Sorgfalt. Müsste stattdessen nicht die Sorge um die Erhaltung der Vielfalt des Lebens und die Sorgfalt im Umgang mit dem Unbelebten eine Selbstverständlichkeit menschenwürdiger Existenz sein?
Zur Achtung der Menschenwürde hat es das deutsche Bundesverfassungsgericht in Anknüpfung an Immanuel Kant als geboten angesehen, dass ein Mensch nicht zum Objekt erniedrigt, nicht instrumentalisiert werden darf. Aber genügt das? Darf ein Geflecht aus einer Vielfalt von Leben, von dem der Mensch nur ein Teil ist, von Menschen als ein Objekt instrumentalisiert werden?
Das antike Römische Recht behandelte Sklaven und Tiere als Sachen. Die Sklaverei wurde von der menschlichen Gesellschaft seit zwei Jahrhunderten abgeschafft. In gleicher Weise sollte die Menschheit es heute als unvereinbar mit der Vorstellung von ihrer eigenen Würde ansehen, dass ihr Zivilrecht nach wie vor Tiere als Sachen behandelt. Auf der in der Gegenwart erreichten Kulturstufe der Menschheit und angesichts der von ihr entfalteten Vernichtungsmacht ist es dringend notwendig geworden, die aus judäisch-römisch-christlicher Tradition erwachsene anthropozentrische Vorstellung von menschlicher Würde in eine Humanökologie einzubetten (vgl. dazu Georg Picht, Ist Humanökologie möglich?). Diese müsste um Erhaltung und Fortbestand allen Lebens in seiner Vielfalt besorgt sein. Radikaler noch könnte man vor diesem Hintergrund zu der Überzeugung gelangen, dass staatliche Regelungskonzepte, die die Einleitung potentiell giftiger Reststoffe aus industrieller Produktion in fließende Gewässer unter gewissen Voraussetzungen als genehmigungsfähig behandeln, in ihrer Gesamtheit mit der Achtung menschlicher Würde nicht mehr vereinbar sind.
Einer kritischen Überprüfung hält dieser Gedanke aber nicht stand, weil er übersieht, dass jede Form von Leben anderes Leben potentiell beeinträchtigt. Eine Regel, die jede Beeinträchtigung ausschlösse, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Es geht darum, das Maß zu finden, nach dem die Lebensäußerungen der Menschen mit der Vielfalt allen anderen Lebens vereinbar bleiben. Dies ist und bleibt in erster Linie eine politische Aufgabe, die demokratisch verantwortet werden muss. Der rechtliche Diskurs – und die Kontrolle durch Gerichte – kann nur subsidiär korrigieren.
In diesem Sinne wäre es zur Vorbeugung gegen Katastrophen wie der in der Oder vielleicht sinnvoll, die Verantwortlichkeit für die Achtung grundlegender Werte der Menschheit nicht allein den staatlichen Organen aufzuerlegen. Vielmehr wäre von allen mit wirtschaftlicher, sozialer und auch politischer Macht ausgestatteten Akteuren, namentlich Wirtschaftsunternehmen, die Einhaltung angemessener Sorgfaltspflichten einzufordern, damit ihre Tätigkeit die unveräußerlichen Rechte anderer Menschen nicht verkürzt, insbesondere ihr Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt nicht beeinträchtigt. Unternehmen sollten – unabhängig von staatlichen Regularien und zivilrechtlicher Verantwortlichkeit – in jedem Fall zur Abstellung und Wiederherstellung verpflichtet sein, wenn ihre Tätigkeit die natürliche Umwelt schädigt. Insbesondere bei Umweltschäden kann es sich die Menschheit nicht mehr leisten, Unternehmen ein Recht auf Wirtschaften mit beschränkter Haftung zuzugestehen.
Plädoyer für eine sorgfaltspflichtige Wirtschaft
Deswegen wird in der weltweiten Debatte über Wirtschaft und Menschenrechte, einschließlich der Verhandlungen über den Abschluss eines internationalen rechtsverbindlichen Instruments, mit zunehmendem Erfolg eine entsprechende Verantwortlichkeit von Unternehmen im Falle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden gefordert. Die Gesetzgeber Deutschlands, Frankreichs und Norwegens haben eine solche Verantwortlichkeit, wenn auch mit gewissen Abstrichen, in das geltende Recht übernommen. Maßnahmen auf EU-Ebene sind in Beratung. Nach den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte bestehen die Sorgfaltspflichten von Unternehmen unabhängig davon, ob staatliche Behörden ihre eigenen Pflichten erfüllen. Die Freiheit wirtschaftlicher Tätigkeit sollte mit einer Verpflichtung zur Sorgfalt gegenüber den natürlichen Grundlagen allen Lebens verbunden sein. Die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 26. Juli 2022 ausgesprochene Anerkennung eines Menschenrechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt bahnt den Weg, solche Sorgfaltspflichten rechtlich zu begründen. Ein in unseren Rechts- und Verfassungsordnungen verankerter Anspruch auf ein gesundes und nachhaltiges Ökosystem könnte bei Schwächen der politischen Willensbildung sinnvolle Korrekturen ermöglichen. Die Fokussierung des Art. 20a GG auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Staat greift allerdings zu kurz. Der Anspruch müsste als ein subjektives Recht ausgestaltet sein, das von Betroffenen und Verbänden geltend gemacht werden kann. Dann wüchse die Hoffnung, dass die Menschheit künftig wieder in den Fluss blicken kann, ohne vor sich selbst zu erschaudern. Vielleicht würde sie sogar ein Bad wagen.