Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen
Seit erstem Juni werden auch in Berlin wieder Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt. Seit März 2020 war die Vollstreckung mehrfach ausgesetzt worden, weil man aufgrund der Coronapandemie den Strafvollzug schützen und nicht mit der häufigen Aufnahme von Personen mit kurzen Haftstrafen gefährden wollte. Damit wurde etwas umgesetzt, das viele kritische Beobachter*innnen des Strafvollzugs seit langem fordern: Das Ende der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen. Zu einem Ende der Ersatzfreiheitsstrafe kam es jedoch nicht, wie im Folgenden zunächst dargestellt wird. Stattdessen sind Reformen weiter notwendig. Diese setzen aber, so werde ich im zweiten Teil argumentieren, nicht erst bei der Ersatzfreiheitsstrafe, sondern bei der Geldstrafe an.
Das Für und Wider der Ersatzfreiheitsstrafe
Doch zunächst einmal: Was ist eine Ersatzfreiheitsstrafe und worum kreist die bisherige Debatte? Eine Ersatzfreiheitsstrafe (§43 StGB) wird angeordnet, wenn eine zuvor verhängte Geldstrafe (§40 StGB) nicht vollstreckt werden kann. Das ist auch der Fall, wenn die betroffene Person die Strafe aus finanziellen Gründen nicht zahlen kann. Dass eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird, obwohl eigentlich „nur“ eine Geldstrafe ausgesprochen wurde, gilt in mehrfacher Hinsicht als ein schwerwiegender Konflikt in der deutschen Strafpraxis:
Erstens ist die Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinen. Personen verbüßen eine härtere Sanktion (24 Stunden Freiheitsentzug anstelle der Zahlung von bspw. 15 Euro), nicht aufgrund einer besonderen Schuld, sondern aufgrund ihrer prekären ökonomischen Situation. Zweitens wird das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in Frage gestellt, wenn mit dem schärfsten Schwert des deutschen Strafrechts – der Freiheitsstrafe – auf Bagatelldelikte wie Fahren ohne Fahrschein oder geringfügigen Ladendiebstahl reagiert wird. Drittens handelt es sich hier nicht um eine Randerscheinung. Geschätzt wird in Deutschland in über 50.000 Verfahren pro Jahr die EFS ganz oder teilweise vollstreckt. Damit erfolgt mehr als jede zweite Freiheitsstrafe, die in Deutschland angetreten wird, aufgrund einer nicht gezahlten Geldstrafe. Hier werden enorme Kapazitäten des Strafvollzugs absorbiert, die an anderer Stelle, beispielsweise bei der Behandlung von Personen mit schweren Straftaten, fehlen.
Trotz dieser Schieflage haben die Argumente für die EFS in den letzten einhundert Jahren größere Reformen immer wieder verhindert. Danach wäre die Geldstrafe ohne die EFS nur ein zahnloser Tiger. Zahlungsfähige würde es mit der Tilgung nicht mehr eilig haben und damit die Arbeitslast bei den Vollstreckungsbehörden ins Unermessliche steigern. Zahlungsunfähige würden sich dagegen ohne jede Sanktion davonschleichen können, weil selbst der Gerichtsvollzieher bei Ihnen nichts holen kann. Sie ist, wie es der Strafrechtler Herbert Tröndle in den 1970er Jahren paradigmatisch formulierte, das „Rückgrat der Geldstrafe“ und damit unverzichtbar. So scheiterte auch der Antrag der Fraktion Die Linke im deutschen Bundestag im Jahr 2018, der die Abschaffung der EFS vorsah.
Corona und die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe
Dann kam Corona und wie es die Kriminologin Nicole Bögelein ausdrückt, ging plötzlich alles ganz einfach: Die Vollstreckung der EFS wurde in den meisten Bundesländern ausgesetzt. Ziel war es, eine hohe Fluktuation durch die kurzen EFS (im Schnitt ca. 40 Tage) zu vermeiden. Teilweise wurden hierfür Haftantritte ausgesetzt und teilweise die Vollstreckung unterbrochen. Strafvollzug ist Ländersache und so entstand in den letzten zwei Jahren ein kaum zu überblickender Fleckenteppich an unterschiedlichen Maßnahmen.
Waren am Stichtag 30. April 2019 in deutschen Gefängnissen 4.546 Menschen aufgrund einer EFS inhaftiert, so waren es nach dem Lockdown im April 2020 noch 1.556 Menschen (Destatis), im Mai und Juni sogar nur noch um die 1.300 Personen. So niedrig war die Anzahl zuletzt 1980 in der alten BRD. Allerdings wurden die Maßnahmen bereits nach wenigen Monaten beendet. Im Juli waren wieder über 1.800 Personen, im Oktober 3.300 inhaftiert. Dann kam der zweite Lockdown. Nach einem deutlichen Rückgang in der ersten Jahreshälfte 2021 hatte man sich im Oktober 2021 wieder dem alten Stand angeglichen mit 4.175 Inhaftierten. Dasselbe Spiel wiederholte sich auch beim letzten Lockdown im Dezember 2021.
Die Corona Pandemie hat damit zumindest partiell eine Entwicklung befördert, die viele lange gefordert hatten: Eine deutliche Reduzierung der problematischen Praxis der EFS Vollstreckung. Allerdings wurden die Verfahren in der überwiegenden Mehrheit nur aufgeschoben, das heißt bei den Staatsanwaltschaften türmen sich die Verfahren aus der Coronazeit, die nachträglich vollstreckt werden müssen. Lediglich Berlin und teilweise Hamburg ist den Weg gegangen und hat einen Teil der Verfahren auf dem Wege der Gnade erlassen (Vgl. Bögelein).
Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Die Frage, ob die ausbleibende Strafvollstreckung Auswirkungen auf das Legalverhalten der Verurteilten hatte, lässt sich aufgrund fehlender Daten und einer Vielzahl von Einflüssen nicht beantworten. Ob das Zahlungsverhalten in dieser Zeit ein anderes gewesen ist, könnte zwar untersucht werden, aber in dieser besonderen gesellschaftlichen Situation auch viele anderen Ursachen haben. Festzuhalten bleibt, dass die meisten Bundesländer, obwohl es offensichtlich anders möglich ist, nicht auf die Vollstreckung der EFS verzichten wollen. Gibt es aber wirklich keine Alternativen?
Welche Reformen sind notwendig?
Die aktuelle Bundesregierung hat in der Koalitionsvereinbarung angekündigt, die EFS zu überprüfen. Doch wenn man die sozialungerechte und unverhältnismäßige Strafpraxis ändern will, die unter dem Schlagwort „Klassenjustiz“ diskutiert wird, darf man nicht erst bei der EFS anfangen. Die EFS ist vielmehr Folge eines gescheiterten Geldstrafenverfahrens, welches nicht daran scheitert, dass Menschen arm sind. Vielmehr scheitert es daran, dass Armut im aktuellen Verfahren nicht angemessen berücksichtigt wird und so zu einer Diskriminierung führt. Eine Reform der EFS beinhaltet also eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe. Hierfür unterbreite ich im Folgenden fünf Vorschläge:
Erstens ist zu überprüfen, inwieweit der strafrechtliche Zugriff begrenzt werden kann. Die Entkriminalisierung des §259a StGB des „Erschleichen von Leistungen“ (Fahren ohne Fahrschein) wird aktuell auch von Teilen der Bundesregierung vertreten. Dies wäre ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. In einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westphalen oder Berlin ist dieses Delikt der häufigste Grund, warum Personen eine EFS verbüßen.
Zweitens ist die aktuelle Bemessung der Geldstrafe sozial ungerecht, da sie sich am Nettoeinkommen orientiert (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB). Ein Tagessatz entspricht dem Tagesnettoeinkommen. Personen, die von ihrem Einkommen leben müssen und keine Ersparnisse haben, können auf dieses Geld jedoch nicht verzichten. Die Standardtagessatzhöhe bei Beziehenden von Arbeitslosengeld II beträgt 15 Euro. Und dies ist genau der Betrag, der ihnen vom Jobcenter pro Tag als Existenzminimum gezahlt wird. Wie sollen sie darauf verzichten können? Die Uneinbringlichkeit ist damit impliziter Teil des Urteils. Es wird nicht nur der eigentliche Strafzweck (erzwungener Konsumverzicht) aus den Augen verloren, sondern, der das gesamte öffentliche Recht durchziehende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit). In diesem Sinne widerspricht das Nettoeinkommensprinzip dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Die Lösung ist hier die Streichung der Orientierung am Nettoeinkommen. Stattdessen sollte als Orientierung bei der Bemessung der Betrag dienen, dessen Einbuße der Person täglich maximal zuzumuten ist. Dieses sogenannte Einbußeprinzip war auch ursprünglich vom Deutschen Bundestag 1969 bei der Einführung der Tagessatzgeldstrafe vorgesehen gewesen (Drs. V/4095, 20). Beim Arbeitslosengeld II könnte das ein Tagessatz von 1 bis 3 Euro sein. Die Geldstrafe wäre damit in der Regel einbringlich.
Drittens braucht es dafür ein Verfahren, das einem Rechtsstaates angemessenen ist. Geldstrafen werden überwiegend im Strafbefehlsverfahren erstellt. Das ist bei der Masse der Verfahren für die Staatsanwaltschaften ein ökonomisches Verfahren. Laut der Berliner Justizministerin Lena Kreck hat die Staatsanwaltschaft bei den Alltagsdelikten pro Verfahren im Durchschnitt acht Minuten Zeit. In München wird ein Strafbefehl aufgrund des Delikts Erschleichen von Leistungen laut Oberstaatsanwalt Udo Gramm „mit einem oder zwei Klicks in fünf Minuten“ erledigt. Ermittlungen erfolgen in der Regel nicht. Das ist möglich, weil die Einkommensverhältnisse laut Studien in über 80% der Fälle nicht ermittelt werden. So fasst die Kriminologin Jana Kolsch die Praxis so zusammen, dass die Tagessatzhöhen „ins Blaue hinein“ festgelegt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Praxis mehrfach klar abgelehnt, ohne dass sich etwas geändert hätte. Der Gesetzgeber muss konkretisieren, dass die Grundlage für die Schätzung ermittelt und benannt werden muss.
Viertens muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren auch die Seite des Angeklagten angemessen vertreten sein. Aktuell kann eine Person, ohne etwas von dem Verfahren verstanden und zu diesem beigetragen zu haben, verurteilt werden und am Ende im Strafvollzug landen. Der Strafbefehl muss nur zugestellt werden und wird nach zwei Wochen rechtskräftig. Der Journalist Ronen Steinke hat in seinen Reportagen aus den Gerichtssälen eindrücklich belegt, dass der betroffene Personenkreis aufgrund von Suchterkrankungen, psychischen Störungen oder Sprachbarrieren nicht in der Lage ist, dem Verfahren zu folgen und seine Rechte wahrzunehmen. Ein Rechtsbeistand steht ihnen nicht zu und sie können ihn sich nicht leisten. Reformen sind nötig: Ein Strafbefehl dürfte erst dann rechtskräftig werden, wenn die angeklagte Person (wie in Schweden) dem Urteil zugestimmt hat. Um diese Zustimmung aber geben zu können, braucht sie zuvor Zugang zu einer für sie kostenfreien Rechtsberatung.
Fünftens ist ein Wandel bei den Prämissen der Vollstreckung von Geldstrafen notwendig. Aktuell gilt es die Geldstrafe zügig und mit Nachdruck einzutreiben und bis zum letzten Tagessatz, notfalls mit der EFS, zu vollstrecken. Ratenzahlungen werden gewährt, sofern sie in einem gewissen zeitlichen Rahmen erledigt sind. Damit soll die Ernsthaftigkeit der Sanktion unterstrichen werden. Dies beinhaltet, dass gegen Personen auch bei nachgewiesener Zahlungsunfähigkeit eine EFS vollstreckt wird. Dagegen führte bereits der sozialdemokratische Justizminister Gustav Radbruch in den 1920er Jahren eine maßgebliche Unterscheidung ein: Die EFS sollte nur auf den Fall „schuldhafter Zahlungsunfähigkeit“ begrenzt werden. Bei einer unverschuldeten Zahlungsunfähigkeit konnte nach §29 Abs. 6 StGB (a.F.) die Vollstreckung der EFS unterbleiben. In der Praxis erhielt diese Unterscheidung keine Bedeutung – auch weil mit ihr das Gespenst verbunden wurde, die unteren Einkommensschichten würden sich massenhaft der Bestrafung entziehen. Dagegen wird in Schweden, welches in Bezug auf die Stellung der Geldstrafe mit Deutschland vergleichbar ist, dieses Modell seit Jahrzehnten sehr erfolgreich praktiziert (Bögelein et al.). Die Geldstrafe bleibt Geldstrafe. Wenn über Jahre hinweg, Personen nachweislich die Strafen auch in Raten nicht zahlen können, werden diese eingestellt. Dies hat nicht dazu geführt, dass die Geldstrafe nicht mehr ernst genommen wird. So gibt es zwar noch die Möglichkeit eine Geldstrafe in eine EFS umzuwandeln. In der Praxis kommt dies aber nur noch in Einzelfällen vor.
Dieses dargestellte Bündel an Maßnahmen könnte die Geldstrafe in Deutschland sozial gerechter machen und die Ersatzfreiheitsstrafe in die Bedeutungslosigkeit verbannen – ohne sie gänzlich abzuschaffen.