03 April 2018

Spanische Tragödie

Kataloniens Kampf geht nicht um Freiheit, sondern um Identität

Kaum ein Begriff der juristisch-politischen Sprache ist moralisch so aufgeladen wie der der Sezession. Sie ist entweder eines der schwersten Staatsverbrechen oder im Gegenteil der Gegenstand eine der edelsten politischen Bestrebungen, nämlich die nach freier gemeinschaftlicher Selbstbestimmung eines Volkes. Schon diese ganz unschuldig gewählte Formulierung ist geeignet, heftigen Streit darüber auszulösen, ob es sich bei denen, die ihre bestehende staatliche Zugehörigkeit zugunsten einer eigenen staatlichen Existenz abschütteln möchten, um ein „Volk“ oder um eine „Volksgruppe“ handelt. Je nach der Antwort gelten ihre Führer als Helden, die für einen eigenen Staat der Ihren kämpfen,  oder als Schurken, die die Integrität eines multinationalen Staates zerstören. Und diese Antwort wird nicht in semantischen Disputen  wissenschaftlicher Seminare und Akademien gesucht, sondern in der rauen Wirklichkeit des politischen Kampfes. Gelingt nämlich die Sezession durch Begründung eines souveränen Staates, so beweist das der Welt, dass sich ein „Volk“ erhoben hatte, das nun einen würdigen Platz in den großen Geschichtsbüchern beanspruchen kann. Scheitert das Unterfangen, so verbleibt es im günstigsten Fall bei dem minderen Status einer „Volksgruppe“,  einer schutzbedürftigen Minderheit, die allenfalls in gelehrten Monographien und Dissertationen historische Gerechtigkeit erfährt. Man kann also verstehen, warum dieser semantische Statuskampf meist mit äußerster Härte und Verbissenheit geführt wird.

Auf Unbeteiligte wirkt er meist wie ein Ringen zwischen David und Goliath. Denn in der staatlich gegliederten Weltgemeinschaft der Gegenwart richtet sich das Unabhängigkeitsbegehren fast immer gegen den Widerstand eines eifersüchtig über seine politische und territoriale Einheit wachenden staatlichen Goliath der Mehrheitsbevölkerung, deren nationale Selbstbezeichnung diesem Staat meist auch seinen Namen gibt. Gegen dessen offenkundige Übermacht erscheint die Minderheit der Trennungswilligen hoffnungslos unterlegen. Doch immerhin genießt sie meist die Sympathie der Zuschauer dieses ungleichen Kampfes. Diese empfinden die Anstrengungen der Minderheit nicht selten als tapferen Freiheitskampf, ja als Befreiungskampf gegen eine unterdrückerische Übermacht des Mehrheitsstaates.

Das kann so sein. Es ist nicht immer so. Verfolgen die politischen Führer einer  trennungswilligen Minderheit das Ziel der territorialen Abspaltung von einem funktionierenden demokratischen Verfassungsstaat, dann kämpfen sie gar nicht für ihre Freiheit, sondern für die Behauptung der kulturellen und politischen Identität ihrer Gemeinschaft.  Ein Erfolg läuft meist auf das Gegenteil von konstitutionell gesicherter Freiheit hinaus. Denn um die Identität einer Gemeinschaft zu bewahren und zu schützen, müssen Grenzen zum Nicht-Identischen gesetzt und Differenzen anerkannt werden, die es in einem auf der gleichen Freiheit der Bürger beruhenden politischen Gemeinwesen nicht gibt und nicht geben darf – nehmen wir als Folie nur die Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes, die eine Benachteiligung oder Bevorzugung eines Menschen wegen “seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen“ verbieten.

Wir wissen nicht, wie eine dem Schutz der Identität des katalanischen Volkes verpflichtete souveräne katalanische Republik aussehen würde, die  das katalanische Parlament in einer feierlichen Erklärung vom 27. Oktober 2017 ausgerufen hat. Wir wissen, dass die Katalaninnen und Katalanen die demokratische Verfassung Spaniens, welche die Diktatur Francos ablöste, durch das Referendum vom 6. Dezember 1978 mitbeschlossen haben; diese erkennt das Recht der Nationalitäten und Regionen auf Autonomie an. Wir wissen auch, dass die autonome Region Katalonien immer wieder Ungerechtigkeiten der Zentralregierung in Madrid gegenüber Katalonien beklagt hat. Darüber kann hier kein Urteil abgegeben werden, aber manches daran erscheint  durchaus glaubwürdig. Wir wissen aber auch, dass  die spanische parlamentarische Monarchie als geachtetes Mitglied der Europäischen Union die für alle deren Mitglieder verbindlichen Prinzipien einer rechtsstaatlichen Demokratie anerkennt und respektiert. Kaum jemand außerhalb Kataloniens wird  daher der spanischen Regierung das Recht  bestreiten, mit den von der Verfassung und dem übrigen Recht bereitgestellten Mitteln die territoriale und politische Einheit Spaniens zu verteidigen. Sie verteidigt damit die konstitutionell gesicherte gleiche Freiheit aller Spanier.

Dies alles vorweg, um deutlich zu machen, dass es im Folgenden nicht um  Argumente für oder gegen die katalanische Sezession geht.1) Es geht vielmehr um die traurige Geschichte eines verfehlten Weges der Verteidigung der Integrität eines mit Recht stolzen leidgeprüften Landes durch seine demokratischen Organe. Die spanische Regierung ist drauf und dran, das Land mit einer geradezu verstockten juristischen Selbstgerechtigkeit und Ignoranz in eine politisch ausweglose Situation zu steuern. Man könnte das als Nicht-Spanier – je nach Engagement in dieser Sache – mit Bedauern zur Kenntnis nehmen oder achselzuckend den Dingen ihren Lauf lassen, wenn dieser Konflikt nicht von Anfang an auch eine europäische Dimension hätte; darauf hat  Bardo Fassbender in einem Artikel in der FAZ vom 26. Oktober 2017 zu Recht hingewiesen. Dieser Aspekt hat zwischenzeitlich noch an Dringlichkeit gewonnen,  seit eine Ermittlungsrichterin des obersten spanischen Strafgerichts Anfang November 2017 einen an Belgien gerichteten europäischen Haftbefehl gegen verschiedene Exponenten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, u.a. Carles Puigedmont, erließ, die sich dorthin geflüchtet hatten. Der Haftbefehl und das darin enthalten Auslieferungsersuchen an Belgien war im Dezember aus nicht ganz klaren Gründen ausgesetzt und auch anlässlich einer Reise Puigdemonts nach Dänemark Anfang Januar 2018 nicht erneuert worden. Nun, Ende März 2018, aber ist er, wie man der Presse entnehmen kann, wieder in Kraft gesetzt worden. Vielleicht ist diese schwankende Haltung  dem Zweifel  geschuldet, ob  dieser spanische Haftbefehl die europäischen Standards an Rechtsstaatlichkeit  erfüllt. „Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“ heißt es in dem Ratsbeschluss zum Europäischen Haftbefehl; dazu gehört ein entsprechender Grad an Konvergenz zwischen der Rechtspraxis der EU-Mitgliedstaaten. Hier aber ist das rigide Madrider Beharren auf dem Wortlaut der Verfassung im Aufprall auf den nationalistischen Furor der seit Ende Oktober 2017 amtsenthobenen katalanischen Regierung und ihrer damaligen Parlamentsmehrheit auf juristische Irrwege geraten, die am Ende sogar auf eine  Kontaminierung bedeutender Elemente der spanischen Rechtsstaatlichkeit hinauslaufen könnten.

Die Geschichte, die im Folgenden erzählt wird, betrifft Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Die Wahl vom 21. Dezember 2017 hat im Wesentlichen dieselbe politisch verfahrene Konstellation hervorgebracht, die diese außerplanmäßige Wahl überhaupt erst notwendig gemacht hat. Eine politische Lösung des Katalonien-Konflikts ist nicht in Sicht, zumal sowohl die EU als auch deren Mitgliedsstaaten auf dem Standpunkt beharren, es handele sich dabei um eine rein innerspanische Angelegenheit. Also wird sie auf das juristische Feld verschoben.  Nachdem deutsche Behörden Puigdemont Ende März – offenbar nach einem geheimdienstlichen Hinweis –  auf seiner Rückreise von Finnland nach Belgien in Deutschland festgesetzt haben und nun das Auslieferungsverfahren nach dem deutschen Gesetz über die internationale Rechtshilfe betreiben, ist Deutschland nolens volens in den vorgeblich rein innerspanischen Konflikt hineingeraten. Ein Grund mehr, durch die Klärung einiger Begriffe einen Beitrag dazu zu leisten, dass es nicht auch im juristischen Felde des Konflikts zu einem Desaster kommt.

Das gescheiterte Unabhängigkeitsreferendum und die Folgen

Betrachten wir also zunächst den Versuch der Madrider Regierung, das von der katalanischen Regionalregierung auf den 1. Oktober 2017 angesetzte Referendum über die Unabhängigkeit der autonomen Provinz zu verhindern. Die Regionalregierung stützte sich dabei auf ein vom katalanischen Parlament verabschiedetes Gesetz vom 6. September über das „Referendum zur Selbstbestimmung“. Es verkündet  die Souveränität des „katalanischen Volkes“ und ruft die katalanische Bürgerschaft zu einen Referendum auf, durch das es verbindlich entscheiden soll, ob Katalonien ein unabhängiger Staat in der Form einer Republik werden soll. Das von der Madrider Regierung angerufene spanische Verfassungstribunal setzte dieses Gesetz jedoch bereits am folgenden Tag vorläufig außer Kraft und gebot den auf einer langen Liste namentlich genannten katalanischen Amtsträgern, angeführt vom Regionalpräsidenten Carles Puigdemont, sich aller Aktivitäten der Vorbereitung und Durchführung des Referendums zu enthalten. Wie bekannt, wurden in der Folge dennoch in ganz Katalonien Abstimmungslisten angefertigt und Abstimmungslokale eingerichtet, die am ersten Oktober von zahlreichen katalanischen Bürgerinnen und Bürgern auch aufgesucht wurden, um dort ihre Stimme abzugeben. Die Zentralregierung in Madrid versuchte, dies mittels polizeilichen Zwanges zu verhindern, weil sie überzeugt war, dass sie eine öffentlich angekündigte rechtswidrige Handlung verhindern müsse.

Tatsächlich aber war die Teilnahme der Katalaninnen und Katalanen an diesem „Referendum“ gar keine rechtswidrige Handlung; es wurde jedenfalls von den „abstimmenden“ Bürgern gegen keine geltende Norm verstoßen. (Wie noch zu zeigen sein wird, gilt das nicht für die katalanischen Amtsträger, die das „Referendum“ durch die Verabschiedung des Gesetzes initiiert hatten und seine Durchführung aktiv betrieben). Die erwähnte Suspendierung  des Referendumsgesetzes durch das spanische Verfassungstribunal bedeutete, dass  das Gesetz, das das Referendum möglich machen sollte, keine rechtliche Kraft entfaltete und die Abstimmung daher nicht als Referendum stattfinden konnte. Am 17. Oktober erging dann die ausführlich begründete Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals in der Hauptsache, welche die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit [inconstitucionalidad y nulidad] des  „Gesetzes über das Selbstbestimmungsreferendum“ endgültig feststellte.

Was dann am 1. Oktober unter der allseits verwendeten Bezeichnung „Unabhängigkeitsreferendum“ geschah – ein massenhafter Zustrom zu den Abstimmungslokalen mit dem Ziel der Mobilisierten, dort ihre Stimme abzugeben – war also rechtlich kein Referendum, sondern eine auf bestimmte Räumlichkeiten konzentrierte Form gleichzeitiger Meinungskundgebung einer zahlreichen Menge katalanischer Bürgerinnen und Bürger. Ein Referendum ist bekanntlich, ähnlich einer Wahl, ein durch Staatsrecht geschaffenes Institut, kraft dessen die einzelnen Staatsbürger in die Lage versetzt werden, eine in der Regel kollektiv verbindliche Sachentscheidung zu treffen. So sah es auch das katalanische Referendumsgesetz vor. So wie diese Erweiterung der natürlichen Handlungsfähigkeit der katalanischen Bürgerinnen und Bürger durch Gesetz erst geschaffen worden war, so entfiel sie auch infolge der zunächst vorübergehenden Außerkraftsetzung, danach der endgültigen rechtlichen Vernichtung dieses Gesetzes kraft der Entscheidungen des spanischen Verfassungstribunals.

Diese Entscheidungen hatten das Abstimmen der Katalanen in dem Referendum also nicht verboten, sondern unmöglich gemacht. Wir stoßen hier auf eine Unterscheidung, die einer der Großen der deutschsprachigen Staatsrechtslehre, Georg Jellinek, vor mehr als hundert Jahren als grundlegend für die Rechtswissenschaft formuliert hat. Es ist die Unterscheidung zwischen der natürlichen Handlungsfähigkeit eines Menschen und jenen Handlungen, die erst durch das Recht ermöglicht werden. So beruht z.B. die Möglichkeit, dass jemand eine andere Person rechtlich vertritt und sie bindet, nicht auf einer natürlichen Fähigkeit des Vertreters, sondern auf der Kraft des Rechtes. Die Rechtsordnung fügt, wie es Georg Jellinek ausdrückte, der natürlichen Handlungsfähigkeit der Individuen etwas hinzu, was sie von Natur aus nicht besitzen. Er nannte das ihr rechtliches Können. Die Fähigkeiten, die sie von Natur aus besitzen, sind dagegen zum größten Teil rechtlich irrelevant, wie z.B. das Joggen im Park oder das Klavierspielen in der heimischen Wohnung. Diese Handlungen werden aber rechtlich relevant, wenn sie  den Interessenkreis anderer Menschen berühren – in unseren Beispielen etwa durch eine rechtliche Regulierung der Parknutzung in einer Parkordnung oder der Wohnraumnutzung in einem Mehrfamilienhaus durch eine Hausordnung. Solche rechtlich relevanten Ausdrucksformen der natürlichen Handlungsfähigkeit bezeichnete Jellinek als rechtliches Dürfen; das Recht reguliert es durch Ge- oder Verbote. Eine verbotene Handlung ist nicht unmöglich, sondern rechtswidrig. Es kann jemand am Sonntag im Park joggen, obwohl es kraft gültiger Parkordnung verboten ist, und es kann jemand in seiner Wohnung um Mitternacht lautstark Klavier spielen, obwohl eine rechtlich verbindliche Hausordnung das Klavierspielen nach 22.00 Uhr untersagt. Dagegen hängt die Wirksamkeit einer erst durch das Recht erzeugten Handlungsfähigkeit – z.B. der Abschluss eines Vertrages – davon ab, dass die von der Norm formulierten Voraussetzungen vorliegen. „Es wäre nicht richtig zu sagen, der Geschäftsunfähige dürfe keinen Vertrag schließen, er kann es vielmehr nicht, was immer er auch tue, es kommt kein Vertrag zustande. Das vermeintliche Rechtsgeschäft, das er abgeschlossen hat, ist nicht vorhanden …“.2) Im Unterschied zu den regulativen Normen, die die natürliche Handlungsfähigkeit der Individuen, also ihr Dürfen – z.B. durch Ge- oder Verbote – regulieren, handelt es sich bei jenen Normen, die deren natürlicher Handlungsfähigkeit eine Fähigkeit hinzufügen, dadurch ein Können im Sinne der Erzeugung neuer gesellschaftlicher Wirklichkeiten erzeugen, um konstitutive Normen.3) Jellinek nahm hier vorweg, was die zeitgenössische Normtheorie, insbesondere der amerikanische Philosoph John Searle,  Autor des 1995 erschienenen bahnbrechenden Buches Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ein Jahrhundert später mit dem Begriff der sozialen bzw. institutionellen Ontologie belegt hat.4)

Nach dieser begrifflichen Klärung  lässt sich das katalanische „Selbstbestimmungsreferendum“ als bloßes Scheinreferendum erkennen.  Mit der Außerkraftsetzung des katalanischen Referendumsgesetzes durch das spanische Verfassungstribunals war die Fähigkeit der katalanischen Bürgerinnen und Bürger, durch Abgabe von Stimmzetteln in amtlich ausgewiesenen Abstimmungslokalen einen die Organe der autonomen Region bindenden Willen zur Frage der Unabhängigkeit auszudrücken, erloschen. Den katalanischen Bürgerinnen und Bürgern blieb die durch die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich geschützte „natürliche Handlungsfähigkeit“ derjenigen, die am ersten Oktober durch Abgabe eines Stimmzettels oder in anderer Weise ihre Meinung zur Frage der Unabhängigkeit bekundeten.

Die Bekämpfung eines Wahndelikts

Immerhin konnte die am ersten Oktober in Katalonien stattgehabte massenhafte Stimmabgabe in den von der katalanischen Regierung bereitgestellten Räumen durchaus den Anschein eines Referendums erwecken. Man kann vermuten, dass viele der Abstimmenden der irrtümlichen Überzeugung waren, mit der Abgabe ihrer Stimme nicht nur eine Meinung geäußert, sondern damit zugleich auch für bzw.  gegen die Unabhängigkeit im Rahmen eines gültigen Referendums mit verbindlicher Wirkung abgestimmt zu haben. Doch konnte dies die Teilnahme an der Abstimmung nicht zu einer rechtswidrigen Handlung machen, die die spanische Regierung  hätte ermächtigen und vielleicht sogar verpflichten können, sie unter Einsatz polizeilicher Zwangsmaßnahmen zu unterbinden. Im deutschen Strafrecht gibt es den Begriff des untauglichen Versuchs einer Straftat. Ein solcher liegt vor, wenn sich eine beschuldigte Person bei ihrem Tun oder Unterlassen irrtümlich eine Sachlage vorstellt, bei deren wirklichem Vorliegen ihr Handeln den Tatbestand einer Strafnorm erfüllen würde (z.B.: A leiht sich von einer Freundin eine Pistole, um ihren Todfeind zu erschießen. Bei der Ausführung der Tat stellt sich heraus, dass die Freundin ihr eine Spielzeugpistole ausgeliehen hatte). Nach deutschem Strafrecht wäre A. wegen eines versuchten Tötungsdelikts strafbar. Denn von Ausnahmen abgesehen, ist hierzulande auch der untaugliche Versuch strafbar. Die Beschuldigte soll gewissermaßen für ihren  rechtsfeindlichen Willen bestraft werden und nicht davon profitieren, dass der Versuch der strafbaren Tat aus Gründen nicht vollendet wurde, an denen sie kein Verdienst hat.  Das setzt aber, wie gesagt, voraus, dass der dank seines Irrtums bloß vorgestellte und beabsichtigte Handlungsablauf bei dessen tatsächlichem Vorliegen auch tatsächlich eine Straftat wäre.

Übertragen wir diese Gedankenkonstruktion auf die Teilnahme katalanischer Bürgerinnen und Bürger an einer Abstimmung, die sie irrtümlich für ein Referendum, vielleicht sogar für ein verbotenes Referendum hielten, dann müssten wir annehmen, dass diese vorgestellte Handlung, nämlich die Teilnahme an einem Referendum bzw. an einem verbotenen Referendum, rechtswidrig wäre. Ersteres ist eine offenkundige Absurdität. Nehmen wir aber nun an, die Abstimmenden glaubten, dass wegen eines  „Verbotes“ dieser Abstimmung ihre Teilnahme daran rechtswidrig war, dann müsste es nach spanischem Recht eine Norm geben, nach der die Teilnahme an einem verbotenen Referendum rechtswidrig (und sanktionierbar) ist. Man könnte sich so ein Delikt vorstellen,  z.B. Ungehorsam gegen hoheitliche Anordnungen. Doch so etwas gibt es im spanischen Strafgesetzbuch lediglich in Bezug auf Amtsträger für den Fall, dass sie gerichtliche Entscheidungen oder Anordnungen höherer Instanzen missachten. Und folglich konnten die am Scheinreferendum Teilnehmenden selbst dann, wenn sie ihre Handlung gleichsam als eine Widerstandshandlung durch Gesetzesbruch begriffen, eine solche nicht begehen. Infolge der Außerkraftsetzung des Referendumsgesetzes konnten sie die von ihnen imaginierte rechtswidrige Handlung nicht begehen. Das kann man alltagsnäher mit jemandem vergleichen, der irrtümlich meint, eine Ordnungswidrigkeit  begangen zu haben, weil er sein Fahrzeug am Sonntag an einer Stelle abgestellt hat, für die indessen nur von Montag bis Samstag ein Parkverbot besteht. Juristen sprechen hier von einem sanktionslosen Wahndelikt.

Aber das ist vielleicht zu konventionell gedacht. In einer Zeitepoche, in der es nicht mehr nur, wie in der Vergangenheit, um die Unterscheidung zwischen Wahrheit, Schein und Lüge geht, der Kampf vielmehr darum geführt werden muss, dass eine methodisch einwandfrei festgestellte Wahrheit in der sozialen Welt auch allseits anerkannte Autorität gegenüber Geltungsansprüchen „alternativer Fakten“ und unverhohlener Lügen beanspruchen kann, muss auch der Fall betrachtet werden, wie es sich mit jenen Abstimmenden an dem scheinbaren Referendum verhält, denen deutlich war, dass diese Abstimmung kein gültiges Referendum sein konnte, jedoch durch ihre Stimmabgabe ganz bewusst an der Vorspiegelung einer Referendumsabstimmung mitwirken wollten. Das Bild, das sie vorsätzlich erzeugten, war ein Schein. Man könnte darin das von Joseph Beuys entwickelte Konzept einer sozialen Plastik entdecken, in der und durch die Menschen durch ihr soziales Handeln die realen Verhältnisse transzendieren und mehr oder weniger phantastische und häufig auch widerständige soziale Gebilde erzeugen.

Ob nun Wahndelikt oder soziale Plastik – die Mobilisierten des ersten Oktober waren sich vermutlich nicht dessen bewusst, dass sie mit ihrer scheinhaften Widerstandshandlung die Madrider Regierung in ein Dilemma  stürzten.

Denn es musste der spanischen Regierung ja nicht nur darum gehen, ein gültiges und damit politisch höchst folgenreiches Referendum zu verhindern, sondern auch nur den Schein eines Referendums über die Unabhängigkeit zu vermeiden. Denn könnte dieser Schein entstehen und als Wirklichkeit posieren, dann hätte das die paradoxe Wirkung, dass ganz unabhängig von dem Ergebnis der Abstimmung die bloße Tatsache ihres Stattfindens nach außen die kollektive Willens- und Handlungsfähigkeit der katalanischen Bürgerschaft vorspiegeln würde – wenn diese nämlich abstimmen darf, ob sie souverän ist, dann entsteht durch die bloße Tatsache dieser Abstimmung der Eindruck, dass sie auch tatsächlich souverän ist. Insofern war die Empfindlichkeit der spanischen Regierung hinsichtlich des angekündigten Referendums und ihr Bemühen, auch nur den Schein eines Referendums entstehen zu lassen, durchaus verständlich.

In ihrem Eifer allerdings übersah sie, dass die spanische Verfassung ihr zwar die Handhabe bietet, die Selbstermächtigung der katalanischen Bürgerschaft als souveräne Nation zu verhindern, ihr aber nicht das Recht gibt, den katalanischen Bürgerinnen und Bürgern ihre Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit zu nehmen. Die verfassungsgerichtliche Suspendierung des Referendumsgesetzes verweigerte der Stimmabgabe der katalanischen Bürgerinnen und Bürger den rechtlichen Status als Teilnahme an einem Akt konstitutiver Gesamtwillensbildung, aber nicht mehr. Wenn das, was nach Jellineks Ausdrucksweise der natürlichen Handlungsfähigkeit des Menschen durch die Rechtsordnung hinzugefügt wird und sein Können begründet, wegfällt, dann bleibt seine natürliche Handlungsfähigkeit bestehen. Für die Beteiligung  der katalanischen Bürgerinnen und Bürger an der Stimmabgabe bedeutet dies, dass diese auf ihren ursprünglichen Sinn als öffentliche Meinungskundgabe freier Bürgerinnen und Bürger zurückgestutzt wurde. Die Katalanen konnten sich zwar als Teil des spanischen Staatsvolkes nicht durch ein Referendum kollektiv äußern, da ein solches Recht in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Wohl aber konnten sie als Bürger der autonomen spanischen Provinz Katalonien von den grundrechtlich garantierten Freiheiten der Meinung, der Versammlung und der Petition Gebrauch machen und dabei auch für das Ziel einer Sezession Partei ergreifen.

Die zur Unterbindung der „Abstimmung“ von Madrid nach Katalonien entsendete hochgerüstete Polizei hat ihre Waffen also gegen Handlungen von Bürgerinnen und Bürgern eingesetzt, die die rechtliche Bedeutung gar nicht hatten, die ihnen, hierin übereinstimmend, sowohl die katalanische wie die spanische Regierung zuschrieben. Um die obige Analogie zum straflosen Wahndelikt noch einmal zu bemühen: Die katalanischen Bürgerinnen und Bürger, die an die „Abstimmungs“-Urnen strömten, mögen  in dem „Wahn“ gehandelt haben, ein Delikt zu begehen, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Das ist ein harmloser Irrtum. Dagegen war der Irrtum der Madrider Regierung weit weniger harmlos. Durch die Anwendung von polizeilicher Gewalt gegen die „Abstimmenden“ eines gar nicht stattfindenden Referendums bekämpfte sie einen rechtlich inexistenten Akt, man könnte auch sagen: sie folgte ihrerseits einer Wahnvorstellung. In dem irrtümlichen Glauben, etwas Verbotenes zu bekämpfen, saß sie der Autosuggestion der katalanischen Nationalisten auf, indem sie deren Selbstdarstellung als Vertreter eines souveränen Volkes für bare Münze nahm. Wenn Menschen sich als Löwen verkleiden und im öffentlichem Raum mit imitiertem Löwengebrüll eine politische Forderung stellen, so wird jeder vernünftige Beobachter dies nicht als die Forderung von Löwen, sondern als Äußerung von den unter dem Fell verkleideten Menschen verstehen. Würde irgendein einsichtiger Mensch wegen der Gefährlichkeit von Löwen auf im Löwenfell herumlaufende und Löwengebrüll ausstoßende Menschen einprügeln lassen?

Für den Kampf gegen Gespenster gibt es in Spanien bekanntlich ein Jahrhundertealtes bedeutendes literarisches Zeugnis. Wir lachen noch heute über den tragikomischen Helden Don Quichote. Das Lachen bleibt uns freilich im Halse stecken in Erinnerung an die Schmerzen, die gewaltlos demonstrierende Menschen durch die fehlgeleiteten Zwangsmaßnahmen der Polizei erleiden mussten.

Die Ausweitung der Kampfzone: die Einschaltung der Strafjustiz

Der Fortgang dieses spanischen Dramas bietet noch weniger Anlass zu Heiterkeit. Auch hier ist Befremdliches zu berichten. Wir müssen uns jetzt dem rechtlichen Schicksal der vormaligen katalanischen Amtsträger aus Regierung und Parlament zuwenden, denen das spanische Verfassungsgericht durch die oben erwähnte Entscheidung vom 7. September die Pflicht auferlegt hatte, sich aller Aktivitäten zu enthalten, die vom Gericht beschlossene Suspendierung des Gesetzes über ein katalanisches Unabhängigkeitsreferendum zu unterlaufen oder zu umgehen. Offenkundig wurde dieses Verbot missachtet, denn der Präsident der katalanischen Provinzregierung Carles Puigdemont und eine erhebliche Anzahl seiner Kolleginnen und Kollegen in der Regierung sowie Abgeordnete im Parlament setzten ihre Kampagne für die Unabhängigkeit und vor allem für die Durchführung des „Referendums“ ungerührt und unvermindert fort. Nachdem der Konflikt mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober weiter eskaliert war, blieb der spanischen Regierung zur Wahrung der Verfassungslegalität der spanischen Nation kaum eine andere Möglichkeit als die Amtsenthebung der Regierung und die Auflösung des Parlaments Kataloniens. Dies geschah bekanntlich gemäß Artikel 155 der spanischen Verfassung durch einen vom Senat noch am Tag der Erklärung der katalanischen Unabhängigkeit bestätigten Regierungsbeschluss vom 21. Oktober. Dieser Verfassungsartikel stimmt  übrigens weitgehend mit Artikel 37 des Grundgesetzes über den Bundeszwang überein.

Man sollte glauben, damit sei zumindest die juristische Seite dieses politisch von der Madrider Zentralregierung wenig glücklich gehandhabten Konfliktes mit Katalonien befriedigend gelöst: die in der spanischen Verfassung nicht vorgesehene Möglichkeit der Bildung und Artikulation eines katalanischen Gesamtwilllens als eigenständige katalanische Nation war nun durch die Suspendierung der Organe, die die katalanischen Bürgerinnen und Bürger entgegen der Verfassung zu dieser Art von Nationsbildung ermächtigen wollten, ausgeschlossen. Alle fortgesetzten Aktivitäten der amtsenthobenen führenden Politiker waren damit politische Agitation engagierter Bürger für die Unabhängigkeit im Rahmen der grundrechtlich garantierten politischen Öffentlichkeit, solange sie sich keine Amtsbefugnisse anmaßten. Das war zweifellos unbequem für die Madrider Zentralregierung; sie konnte aber auch nicht ernsthaft erwarten, durch die verfassungsgerichtlich erwirkte Nichtigkeit des Referendumsgesetzes die in Katalonien weit verbreiteten politischen Bestrebungen in diese Richtung aus der Welt schaffen zu können. Der Ausgang der von der spanischen Regierung angesetzten katalanischen Parlamentswahlen vom 21. Dezember bestätigt diese Annahme. In Deutschland würde man bei einer ähnlichen Konstellation vielleicht an die Möglichkeiten eines Parteienverbots oder der Grundrechtsverwirkung für die Exponenten dieser hartnäckigen mit der Verfassung unvereinbaren Bestrebungen denken, um die Hydra der Sezessionsbewegung entgegen dem besseren Wissen der mythologischen Erzählung doch noch zu besiegen – wie aussichtsreich ein solcher Weg hätte sein können, kann dahinstehen, denn derlei Instrumente kennt die spanische Verfassung nicht. Die im spanischen Parteiengesetz bestehende Möglichkeit der Illegalisierung von Parteien schließt den Fall von Sezessionsbestrebungen einer Region jedenfalls nicht ein.

Stattdessen gibt es nun eine „Ausweitung der Kampfzone“ auf die Strafjustiz. Am dritten November 2017 erließ eine Ermittlungsrichterin am obersten spanischen Strafgericht einen europäischen Haftbefehl gegen Carles Puigdemont und weitere Personen. Wie erwähnt, war er zwischenzeitlich ausgesetzt worden, jedoch laut El Pais vom 24. März 2018 „reaktiviert“, d.h. offenbar nicht durch einen neuen ersetzt worden. Die dort erhobenen Tatvorwürfe umfassen die Delikte des Aufstandes [rebelión und sedición], Veruntreuung öffentlichen Vermögens [malversación de fondos sobre el patrimonio público], vorsätzlich rechtswidrige Entscheidung eines öffentlich Bediensteten in einer Verwaltungsangelegenheit [prevaricación] sowie die Weiterung öffentlich Bediensteter, gerichtliche Entscheidungen und Weisungen Vorgesetzter auszuführen [desobediencia]. Es ist nicht die Absicht dieser juristischen Erzählung, die Tatvorwürfe zu kommentieren oder ihre Schlüssigkeit zu prüfen.

Es gibt nur ein Delikt, das eine nähere Betrachtung erfordert, da seine Behandlung in dem Haftbefehl einige Seltsamkeiten aufweist, die über den strafrechtlichen Rahmen hinausweisen und ein beunruhigendes Muster der Konstruktion politischer Wirklichkeit freilegen. Ich spreche von dem Delikt der rebelión und der Argumentation, mit der den Beschuldigten dieses Deliktes zugeschrieben wird. Es ist zugleich auch das schwerstwiegende. Der Strafrahmen für die Initiatoren und Anführer der rebelión liegt zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren; für erschwerte Begehungsformen wie die Anwendung von Waffengewalt durch die Aufständischen beträgt die Höchststrafe dreißig Jahre.

Wie üblich für juristische Dokumente, besteht auch ein Haftbefehl zunächst aus  einer Schilderung der Tatsachen, aus denen sich der für eine Untersuchungshaft hinlängliche  Verdacht ergibt, dass die Beschuldigten  bestimmte, im Strafgesetzbuch abstrakt durch bestimmte Merkmale definierte Delikte verwirklicht haben. Der zweite Teil enthält die rechtliche Würdigung, in der diese Tatsachen unter die abstrakten Deliktsmerkmale subsumiert werden, d.h. geprüft wird, ob die Tatsachen und die Deliktsmerkmale übereinstimmen. Wenn die im Sachbericht aufgeführten tatsächlichen Umstände unter die einzelnen Deliktsmerkmale „passen“, dann ist der Haftbefehl schlüssig – er kann dann beim Vorliegen weiterer hier nicht interessierender Voraussetzungen erlassen werden.

Das Delikt der rebelión erfüllen nach Artikel 472  des spanischen Strafgesetzbuches jene, die sich „gewaltsam und öffentlich erheben“ [… que se alzaren violenta y públicamente] um u.a. „die Unabhängigkeit eines Teiles des nationalen Territoriums zu erklären“ und/oder „Teile der Streitkräfte dem Gehorsam der Regierung abtrünnig zu machen“. Prüft man die Sachverhaltsschilderung des Haftbefehls im Hinblick auf den Straftatbestand der rebelión, so findet man Ausführungen darüber, dass der Beschuldigte Carles Puigdemont entgegen mehreren Entscheidungen des Verfassungstribunals, das die Verfassungswidrigkeit der Unabhängigkeitsbestrebung deutlich festgestellt habe, dieses Ziel weiter verfolgt habe, indem er im Zusammenwirken mit anderen Amtsträgern der katalanischen Provinz einen strategischen Plan zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung ausgearbeitet und durch verschiedene parlamentarische Akte vorangetrieben habe, durch die der  Anschein der Rechtmäßigkeit des Vorhabens erweckt werden sollte. So sei im Referendumsgesetz unter Berufung auf die Souveränität des katalanischen Volkes der Vorrang dieses Gesetzes vor allen widersprechenden Normen behauptet worden. Öffentlich und durch alle Medien verbreitet habe er trotz eines klaren Kompetenzmangels der autonomen Gemeinschaft Kataloniens auf der Durchführung des Referendums als eines ersten Schrittes zur Ablösung vom spanischen Staat festgehalten und durch Einrichtung einer Wahlkommission zur Durchführung des Referendums vorangetrieben.  Kurz, es wird minutiös dargelegt, mit welchen ihnen vom spanischen Verfassungstribunal untersagten Aktionen Puigdemont und seine Mitstreiter in Parlament und Regierung von Katalonien ihr Projekt der Unabhängigkeit der Provinz von Spanien vorantrieben.

Unzweifelhaft haben die Beschuldigten mit diesen Aktionen das Ziel der „Unabhängigkeit eines Teiles des nationalen Territoriums“ verfolgt und damit ein wesentliches Element des Tatbestandes der rebelión erfüllt. Um aber den vollen Tatbestand zu erfüllen, muss dieses Rebellieren „gewaltsam/gewalttätig und öffentlich“ [violenta y públicamente] geschehen. Auch öffentlich spielten sich diese Sezessionsbestrebungen zweifellos ab. Wo aber war da Gewalttätigkeit im Spiel? Man muss länger suchen, bis man in der Begründung des Haftbefehls dazu schließlich einige Hinweise findet.

Gewalttätigkeit und „vergeistigte Gewalt“

Die unter diese Tatbestandselemente subsumierten Sachverhalte bleiben allerdings vage. So heißt es in der Sachverhaltsschilderung, dass der Beschuldigte gemeinsam mit anderen Personen die einschüchternde [intimidatoria] und gewalttätige [violenta] Macht der „independistischen“ Teile der Bevölkerung „gefördert“ und „genutzt“  und zum Aufstand [insurreccion] aufgerufen habe. An anderer Stelle wird die „Gewalt“ dann bereits etwas genauer umschrieben: danach habe  der Beschuldigte mit seiner amtlichen Autorität aufrührerische, gegen die Justizorgane gerichtete Massenkundgebungen unterstützt. Er habe dazu aufgerufen, die Vertreter der staatlichen Autorität an der Ausübung ihrer Aufgaben zu hindern, sowie dazu, die Angehörigen der Nationalpolizei und der Guardia Civil an ihren Einsatzorten und Ruheräumen durch sog. „escraches“, eine Art von Massenbelagerung durch Demonstranten, zu stören. So sei es durch die Blockade von Büros und Fahrzeugen zur Obstruktion justizieller Funktionen wie der Festnahme von Personen gekommen. Aber auch hier – violenta, d.h. „gewaltsam“ oder „gewalttätig“?

Eine Klärung der begrifflichen Merkmal der Gewalt im Straftatbestand der rebelión findet sich erstaunlicherweise an keiner Stelle des Haftbefehls. Die Sachverhalte, die darunter subsumiert werden – Massenversammlungen mit einschüchternder Wirkung, Blockaden von Gebäuden und Dienstfahrzeugen mit der Wirkung der Behinderung staatlicher Aufgabenerfüllung – ähneln den in vielen Ländern bekannten Formen eines kämpferischen zivilen Ungehorsams, z.B. Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen, durch die psychischer Zwang auf motorisierte Verkehrsteilnehmer ausgeübt wird. In Deutschland gibt es den Straftatbestand der Nötigung, den erfüllt „wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt“ Dabei ist die Grenze zwischen einer rechtswidrigen und einer rechtmäßigen, als sozialadäquat anerkannten  Form der „Gewalt“ häufig uneindeutig und daher strittig. Man denke nur an bestimmte Arten des Streiks oder eben auch an Protestaktionen des passiven Widerstands. Der Begriff „Gewalt“ ist hier daher missverständlich, denn in Wirklichkeit handelt es sich um Zwang, der auf die  Willensfreiheit einer Person ausgeübt wird. Das Bundesverfassungsgericht spricht in Bezug auf die Nötigung „mit Gewalt“ daher von „vergeistigter Gewalt“; sie ist vis compulsiva, willensbeugende Gewalt, im Unterschied zur vis absoluta, der willensbrechenden Gewalt, der Gewalttätigkeit.

Es wäre befremdlich, wenn einer Nation mit der bedeutenden rechtskulturellen Tradition Spaniens die normativ folgenreiche Unterscheidung zwischen physischer Gewalt und psychischer Zwangseinwirkung unbekannt geblieben sein sollte. Das ist sie natürlich auch nicht. Auch im spanischen Strafgesetzbuch gibt es in dem Abschnitt über „Straftaten gegen die Freiheit“ ein Kapitel über das Delikt der Nötigung [De las coacciones], in dem verschiedene Deliktsformen der Zwangseinwirkung auf die Entschlussfreiheit Dritter kodifiziert worden sind (Art. 172 ff.]. Ebenso wie der entsprechende Nötigungstatbestand des deutschen Strafgesetzbuches spricht auch das spanische Strafgesetz missverständlich von Gewalt [violencia] als Mittel der Tatbegehung – doch auch hier handelt es sich um die „vergeistigte Gewalt“ der indirekten Zwangseinwirkung auf die Entschlussfreiheit des Opfers.  Der Strafrahmen für diese Nötigungsdelikte reicht von sechs Monaten bis zu drei Jahren und entspricht weitgehend dem des deutschen Nötigungstatbestandes.  Erstaunlicherweise findet aber keines der Delikte des Kapitels über die Nötigungstatbestände auch nur Erwähnung in dem Haftbefehl.

Vergleicht man die für die verschiedenen Begehungsformen der rebelión angedrohten strengen Strafandrohungen mit denen der coacciones, dann spricht alles dafür, dass mit dem Merkmal „violenta“ im Deliktstatbestand der rebelión nicht lediglich die „vergeistigte Gewalt“ des zivilen Ungehorsams gemeint ist, nicht vis compulsiva, sondern vis absoluta, Gewalttätigkeit, die sich bis hin zur bewaffneten Gewalt steigern kann.  Diese offenkundige Diskrepanz zwischen der Gefährlichkeit und Gemeinschädlichkeit der für die Verwirklichung des Tatbestandes der rebelión erforderlichen gewalttätigen Aktionen und den  Handlungsweisen des zivilen Ungehorsams, die hier den Beschuldigten vorgeworfen werden, hat daher bei Beobachtern des Katalonien-Konfliktes zu der skeptischen Frage geführt, ob in dem gegen Puigdemont und seine Anhänger erlassenen Haftbefehl mit der in den Medien immer wieder zitierten Strafdrohung von „bis zu dreißig Jahren“ noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt werde. Man kann allerdings davon ausgehen, dass dieses Problem in einem allfälligen Auslieferungsverfahren behoben werden dürfte. Nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl können die Mitgliedsstaaten die Auslieferung davon abhängig machen, dass die Handlungen, derentwegen der europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem um Auslieferung ersuchten Staates darstellen, „unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat“. Die über die Bewilligung entscheidenden Justizorgane des ersuchten Staates werden sich daher wohl kaum an der Definition der rebelión im spanischen Strafgesetzbuch, sondern an den im Haftbefehl dargestellten, nach Auffassung Spaniens die Strafbarkeit begründenden Handlungen orientieren.

Nach den neuesten Entwicklungen wird die Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung nun nach deutschem Recht zu treffen sein. Nach dem einschlägigen Gesetz über die internationale Rechtshilfe ist die Auslieferung nur zulässig, wenn die Tat auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, „oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre“. Man kann sich schwer vorstellen, dass das über die Bewilligung entscheidende Oberlandesgericht nach Prüfung des im Haftbefehl dargestellten Sachverhalts die Auslieferung wegen des mit dem Delikt der rebelión im Wesentlichen übereinstimmenden deutschen Straftatbestandes des Hochverrats bewilligen wird.

Die Frage bleibe dahingestellt. Hier interessiert ohnehin ein anderer Gesichtspunkt. Gibt es eine Erklärung für die schwerlich zu übersehende Diskrepanz zwischen den in dem Haftbefehl geschilderten Handlungen und deren Qualifizierung als rebelión? Sind wir in diesem Konflikt zwischen dem spanischen Zentralstaat und Katalonien vielleicht Zeugen einer strategischen Umdeutung von Formen „vergeistigter Gewalt“ in die materielle Form  der Gewalttätigkeit? Könnte es sein, dass die Madrider Regierung und die zuständigen Justizorgane die militante, z. T. zweifellos verfassungswidrige, z.T. vermutlich auch strafbare, eindrucksvoll durch Massenmobilisierung inszenierte Werbung für die Unabhängigkeit als solche auch in gutem Glauben als gewalttätig (violenta) ansehen und dementsprechend auch ohne jeden Arg unter die einschlägige Deliktsnorm der rebelión subsumieren?

Mit Worten Gewalt ausüben?

Der Gedanke liegt nicht fern, seitdem im Zuge des sich seit den 1920er Jahren vollzogenen linguistic turn in der Philosophie Bedeutung und gesellschaftliche Wirkung von Worten und Sätzen gegenüber ihrem kommunikativen Inhalt in den Vordergrund des theoretischen Interesses gerückt sind. Bahnbrechend war der im Jahre 1955 an der Harvard Universität gehaltene Vortrag des britischen Philosophen John L. Austin mit dem griffigen und aussagekräftigen Titel How to do things with words. Seine Kernthese lautete, dass Worte nicht nur Mittel der Kommunikation sind, sondern auch Handlungen sein können, insofern sie das Gesagte zugleich auch vollziehen und durch diese Worte die soziale Welt verändern. Sätze wie „Ich verspreche…“, „Ich warne …“ oder „Ich befehle …“ veranschaulichen diese Handlungsdimension von Worten. Ein besonders drastisches Beispiel findet sich im heute wohl noch kaum irgendwo praktizierten islamischen Eherecht. Danach konnte der Ehemann die Scheidung von seiner Ehefrau wirksam dadurch erlangen, dass er dreimal hintereinander die Formel „Ich verstoße dich“ („talaq, talaq, talaq“) sprach – diese Worte dienten nicht primär der Mitteilung eines Sachverhalts, sondern bezwecken und bewirken die Änderung des Ehestatus der Eheleute mit einschneidenden Folgen, z.B. der, dass der Mann der Frau nun die gemeinsamen Kinder wegnehmen konnte (worüber noch jüngst Indiens Oberster Gerichtshof entscheiden musste). Austin bezeichnete solche Sätze mit Wirkungen in der sozialen Sphäre als Sprechakte. Die vollziehende Wirkung können Sprechakte allerdings nur haben, wenn es in der sozialen Welt der Sprechenden und deren Adressaten eine von allen verstandene Regel gibt, die den gesprochenen Worten jene Wirkung zuschreibt. Diese Funktion wird u. a. von den oben erwähnten konstitutiven Regeln erfüllt.

Sprechakte können keine Berge versetzen, aber den rechtlichen und den sozial-moralischen Status einer Personen oder Personengruppe einschneidend verändern, so wenn z.B. ein Polizeibeamter zu jemandem sagt: „Ich verhafte Sie“, ein Richter einem Angeklagten verkündet: „Sie sind des Diebstahls schuldig und werden daher zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt“, das Opfer einer Straftat dem Täter gegenüber erklärt: „Ich verzeihe Ihnen“ oder schließlich der Ministerpräsident eines Landes erklärt: „In Ausübung meines Begnadigungsrechts erlasse ich Ihnen die Reststrafe aus dem gegen Sie ergangenen Strafurteil“. Und nicht zu vergessen Bedeutung und verheerende Wirkungen von Äußerungen der Missachtung gegenüber Angehörigen diskriminierter Bevölkerungsgruppen, die diese Menschen demütigen und nicht selten auch der Verfolgung aussetzen. Das dreifache „talaq“ der Scharia ist auch dafür ein Beispiel.

Damit sind wir wieder bei  dem Katalonien-Konflikt, denn dort geht es ja ebenfalls um Scheidung und die Frage des Status der Beteiligten.

Hier hatte laut Haftbefehl Charles Puigdemont, als er noch im Amt des Regionalpräsidenten von Katalonien war, mehr als dreimal gegenüber der spanischen Nation verkündet: „Ich verstoße dich“.  Nicht genau mit diesen Worten, aber doch ganz offiziell und unmissverständlich durch die Artikel 2 und 3 des katalanischen Referendumsgesetzes vom 6. September: „Das Volk von Katalonien ist ein souveränes politisches Subjekt und übt als solches das Recht aus, frei und demokratisch über seinen politischen Status zu entscheiden“ und „Das Parlament von Katalonien handelt als Repräsentant der Souveränität des Volkes von Katalonien“. Die Parlamentsresolution vom 27. Oktober geht sogar noch darüber hinaus, insofern sie den Beginn des Konstituierungsprozesses der souveränen Republik Katalonien verkündet. Das sind  Sprechakte, die in der Welt der Politik und ihrer rechtlichen Verfasstheit typischerweise das Gesagte zugleich bewirken – wer so spricht, behauptet seine Souveränität und handelt als Souverän. Das ist kein Diskussionsbeitrag, noch weniger ein Verhandlungsangebot. Es ist ein Akt der Selbstkonstituierung als souveränes Subjekt. Freilich hängt deren Wirksamkeit wie bei allen Sprechakten von der Anerkennung der Rechtsgemeinschaft ab, durch die erst Worte zu wirkmächtigen Tatsachen werden. Bei Souveränitätserklärungen heißt das: sie bedarf der Anerkennung aller oder doch zumindest einer relevanten Anzahl der anderen Souveränitätssubjekte, d.h. der internationalen (Staaten-)Gemeinschaft. Bekanntlich hat Katalonien diese bislang nicht erhalten und dürfte sie wohl auch in Zukunft nicht erreichen. Im internationalen Rechtsverkehr bleibt Katalonien, sofern dort überhaupt wahrgenommen, eine autonome spanische Provinz, die katalanische Sprache eine Regionalsprache

Dasselbe könnte und sollte eigentlich auch für das Binnenverhältnis zwischen der Zentralregierung und Katalonien gelten. Die Anwendung der Instrumente des Artikel 155 der spanischen Verfassung – die Amtsenthebung der katalanische Regionalregierung unter Puigdemont, die Auflösung des amtierenden Parlaments und die Anberaumung von Neuwahlen in der Erwartung, nach dieser Wahl wieder zur Verfassungsnormalität im Verhältnis zwischen der autonomen Provinz und der Zentralregierung zurückkehren zu können – hat allerdings nicht das erhoffte Ergebnis gezeitigt. Wenig überraschend erbrachte die Wahl zum katalanischen Parlament vom 21. Dezember 2017 eine Sitzverteilung, die nur geringfügig von der vorausgegangenen abwich. Jedenfalls erlauben die Mehrheitsverhältnisse des neu gewählten des Parlaments, den abgesetzten Regionalpräsidenten Puigdemont erneut in dieses Amt zu wählen. Dass das bisher, d.h. Anfang April  2018, nicht geschehen ist, liegt – abgesehen von der neuesten Entwicklung der Festnahme Puigdemonts in Deutschland – daran, dass er nach einer Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals vom 27. Januar 2018 für seine Wahl persönlich im Parlament erscheinen müsste, er es aber wegen des bestehenden Haftbefehls vorzog,  nicht nach Barcelona zu reisen. So hat dieser merkwürdige Haftbefehl die verfassungsrechtliche Kuriosität hervorgebracht, dass ein um das Vertrauen eines Parlaments werbender Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten sich vor diesem Parlament nicht zeigen will und für den Fall der Wahl zur Lösung dieses Problems das bisher unbekannte Institut einer Fernregierung aus dem Ausland ins Spiel gebracht hat.

How to make words crimes

Wie aber kann man es erklären, dass eine der höchsten juristischen Autoritäten Spaniens in einem auch im europäischen Ausland Beachtung und Befolgung beanspruchenden Haftbefehl ein wesentliches Tatbestandsmerkmal des schwerstwiegenden und mit der Höchststrafe sanktionierten Delikts – das Merkmal der Gewalttätigkeit im Delikt der rebelión – übergeht? Mangelnde juristische Kompetenz oder Schlamperei zu unterstellen wäre beleidigend und wird hier nicht in Betracht gezogen. (Als ehemaliger Professor einer juristischen Fakultät gelingt es mir allerdings nicht, die Bemerkung zu unterdrücken, dass eine Klausur mit dem hier erörterten Sachverhalt ohne Ausführungen zum strafrechtlichen Gewaltbegriff nicht nur an deutschen, sondern auch an spanischen Rechtsfakultäten zweifellos als unzulänglich qualifiziert würde). Es muss einen strukturellen Grund dafür geben, dass in dem Haftbefehl das entscheidende Merkmal der „violencia“ als so selbstverständlich angenommen wurde, dass sich jegliche Begründung erübrigte.

Vielleicht liegt es ja tatsächlich daran, dass die den hohen Strafrahmen der „rebelión“ begründenden Handlungen gar nicht in den im Haftbefehl berichteten öffentlichkeitswirksamen und „einschüchternden“ Akten der öffentlichen Agitation, der Blockaden und anderer Formen des zivilen Ungehorsams bestehen, sondern in der im wahrsten Sinne des Wortes empörenden Verkündung der Souveränität des „Volkes von Katalonien“. Ebenso wie die Ehefrau des scheidungswilligen muslimischen Ehemannes das dreimal von diesem gesprochene „Ich verstoße Dich“ mit der Wirkung der Scheidung  als einen gegen sich gerichteten Gewaltakt  empfinden dürfte, so könnte auch die einseitig und gegen den Willen der großen Mehrheit der Spanier erklärte Souveränität Kataloniens einschließlich der damit verbundenen Abtrennung eines Teiles des spanischen Territoriums als ein gegen die spanische Nation gerichteter Gewaltakt empfunden werden. Hat für die spanische Regierung die bloße Verkündung der katalanischen Souveränität die Bedeutung einer Gewalthandlung, so dass es ihr gar nicht darauf ankommt, ob dieser Akt nach den Regeln juristischer Analyse nicht mehr ist als  eine massive kollektive Wortmeldung einer sich benachteiligt fühlenden nationalen Minderheit? Die Starrheit der spanischen Regierung und ihr Beharren auf der in Artikel 2 der Verfassung niedergelegten „unauflöslichen Einheit der spanischen Nation“ sprechen dafür, dass sie weder Verhandlungen mit den Separatisten noch einer Vermittlung durch die EU oder andere internationale Akteure zustimmte, weil die Souveränitätsbehauptung Kataloniens im Grunde ein Gewaltakt war – und „mit Gewalttätern verhandelt man nicht.“

Nun wissen wir aber, dass weder die implizite katalanische Unabhängigkeitserklärung in dem Referendumsgesetz vom 6. September noch die explizite Verkündung der Souveränität der  katalanischen Nation durch die Resolution des katalanischen Parlaments vom 27. Oktober die Unabhängigkeit und damit die Sezession bewirken konnten bzw. bewirkt haben. Das Referendumsgesetz vom 6. September und die Resolution vom 27. Oktober waren infolge der erwähnten Entscheidungen des spanischen Verfassungstribunals nichtig, und völkerrechtlich war die Resolution mangels Anerkennung durch eine relevante Anzahl von souveränen Staaten gleichfalls nichts mehr als eine rechtlich unerhebliche Wunschbekundung. Bereits bei der Erörterung der anlässlich des „Referendums“ in Katalonien stattgehabten Demonstrationen vom 1. Oktober haben wir gesehen, dass die spanische Regierung seinerzeit geradezu auf der wahnhaften Annahme beharrte – dabei im Einklang mit der katalanischen Regierung der deren Parlamentsmehrheit – dass der Zustrom von zahlreichen Katalanen zu den für das „Referendum“ vorbereiteten Abstimmungsorten eine Beteiligung an massenhaften rechtswidrigen Akten des Aufruhrs sei, in denen sich die Sezession gleichsam bereits vollziehe  und  gegen die daher polizeiliches Einschreiten geboten sei.

Es wiederholte sich nun auf der strafrechtlichen Ebene dasselbe Handlungsmuster: Hier ist es ein Organ der Justiz, das darauf beharrt, dass einer rechtlich unerheblichen, politisch-sozial aber als empörend empfundenen verbalen Äußerung – der Verkündung der Souveränität des „katalanischen Volkes“ – der Status einer die Worte gleichsam vollziehenden Handlung zugeschrieben wird, die, wenn sie wirklich geschehen wäre, tatsächlich auch nur gewaltsam hätte geschehen können. Denn eine effektive einseitige Sezessionserklärung und die darin implizierte Abtrennung eines Teiles des Territoriums gegen den Willen des dadurch amputierten Staates lässt sich nicht in den gewaltlosen Formen des zivilen Ungehorsams vollziehen. Und so ist es in dieser spanischen Tragödie  zum wiederholten Male dazu gekommen, dass durch falsche Zuschreibung aus Worten Taten wurden, aus gewaltlosen Akten des zivilen Ungehorsams Gewalttätigkeit. Die tragikomische Pointe liegt darin, dass das prominenteste Opfer – Carles Puigdemont – , der in seiner ans Wahnhafte grenzenden Autosuggestion offenbar selbst an die vollziehende Wirkung seiner Proklamation glaubt, außerhalb seiner Kreise wohl noch nie so ernst genommen wurde wie von der Regierung Spaniens und nun sogar von dessen Justiz. Er ist nur als Löwe verkleidet, glaubt aber, ein Löwe zu sein; und die Justiz ist überzeugt, dass sie einen gefährlichen Löwen einsperren muss.

We are concerned …

Können wir uns nun in Erinnerung an Don Quichote amüsiert und entspannt zurücklehnen, da wir es hier offenbar mit zwei Possenreißern zu tun haben, Puigdemont und seine Genossen und die spanische Regierung mit der Assistenz des obersten Strafgerichts? Durchaus nicht. Die Irrtümer der Regierung und der Justiz Spaniens können Europa nicht gleichgültig lassen, denn es zeigt sich in ihnen nun sogar in einer konsolidierten konstitutionellen Demokratie die Keimform eines Politikmusters, das bislang zum Kennzeichen autoritärer Regime gehörte.

Einleitend habe ich  von der Gefahr einer Kontaminierung des spanischen Rechtsstaates gesprochen. Ich gestehe, dass ich dabei auch an Erdogans Türkei gedacht habe. Bekanntlich werden dort Tausende Menschen – vor allem und nicht zufällig Journalisten und andere berufsmäßige Wortarbeiter – eingesperrt, weil ihre Worte oder auch nur die von ihnen berichteten Worte ihrer Interview- und Gesprächspartner, in denen kritisch zu den Verhältnissen in der Türkei und zur Politik ihres Präsidenten Stellung genommen wird, als tätige Unterstützung des Terrorismus bzw. als reale  Verwicklung in den Putschversuch vom Juli 2016 politisch gedeutet und juristisch subsumiert werden. Wie wir gesehen haben, können Worte nur Handlungen sein, wenn die vollziehende Bedeutung der Worte allgemein kraft Rechtsetzung oder gesellschaftlicher Konvention anerkannt ist. Das mehrfach erwähnte dreifache „talaq“ ist ein abschreckendes Beispiel. Es kann aber auch sein, dass der Vollzug von Worten nur eintritt, weil der Sprechende kraft seines Amtes oder Charismas die Autorität besitzt, dass seine  Worte und Sätze, die eine Feststellung oder Erwägung enthalten, den Charakter einer unbezweifelbaren Wahrheit reklamieren oder gar den eines Befehls annehmen. Wenn also der Präsident der Türkei über einen wegen der Verdächtigung einer „terroristischen Handlung“ verhafteten Journalisten erklärt, dass dieser ein Terrorist sei und keineswegs freigelassen werde, solange er Präsident sei, dann weiß jeder unvoreingenommene Beobachter, dass es sich dabei nicht um eine Prognose oder eine bestreitbare Stellungnahme, sondern um einen Befehl an die mit dem Fall befassten Gerichte handelt.

Aus konstitutioneller Perspektive ist eine solche Beziehung zwischen autokratischer Herrschaft und Rechtsprechung natürlich skandalös. Sie ist eines der wesentlichen Merkmale der Unvereinbarkeit zwischen Autokratie und (konstitutioneller) Demokratie. Doch es gibt gewisse Berührungspunkte zwischen diesen beiden, die sich daraus ergeben, dass die Gerichtsbarkeit – nach dem Grundgesetz die „rechtsprechende Gewalt“ –  auch in der konstitutionellen Demokratie Teil der Staatsgewalt ist und damit der Notwendigkeit demokratischer Legitimation unterliegt. Diese äußert sich prominent in der Gesetzesbindung der richterlichen Tätigkeit, d.h. dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz als dem rechtlichen Ausdruck des Volkswillens. Doch bekanntlich sind Richterinnen und Richter nicht lediglich, wie es Montesquieu postulierte, „der Mund des Gesetzes“; und keineswegs ist die richterliche Gewalt im Gefüge der Staatsgewalten, wie er konsequenterweise meinte, „gewissermaßen unsichtbar und nichtig“. Richterinnen und Richter sind  vielmehr diejenigen, die den Sinn der Gesetze im Kontext ihrer Anwendung auslegen, ergänzen und fortbilden und ihnen damit ihren verbindlichen Regelungsgehalt verleihen. Sie gestalten m.a.W. die soziale und politische Wirklichkeit kaum weniger als die beiden anderen Gewalten, ohne aber wie diese demokratischen Rechenschaftspflichten zu unterliegen. Kritische Stimmen in der Verfassungsrechtswissenschaft beobachten mit Skepsis die weltweit gewachsene Macht der Gerichte insbesondere im Verhältnis zu den gewählten Parlamenten und sprechen von juristocracy.5) Wie sollte angesichts der sozio-politisch prägenden Kraft der Gerichtsbarkeit nicht auch innerhalb der Richterschaft konstitutionell-demokratischer Staaten zuweilen das Motiv aufkommen, dem Gesetz einen Sinn zu geben, der dem Willen „des Volkes“ mutmaßlich am besten entspricht? Und wenn eine Regierung mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung Gesetze anwendet, durch die die Einheit des Landes gegen sezessionistische Bestrebungen verteidigt werden soll, könnte da nicht auch bei deren richterlicher Auslegung  aus Gründen „demokratischer Verantwortung“ für die Einheit des Staates der Wille übermächtig werden, die Gerichtsbarkeit zum vollziehenden Organ der vox populi zu machen?

Was also hat es zu bedeuten, wenn in einer konstitutionellen Demokratie ein Gericht der höchsten Instanz einen Haftbefehl erlässt, der auf einer rechtlich höchst zweifelhaften, aber politisch von bestimmten Kräften erstrebten Gesetzesauslegung beruht? Man könnte mit einer – rhetorischen – Gegenfrage antworten: Warum wohl zielen Autokraten und diejenigen, die sich unter den Falten des weiten Gewande der liberalen Demokratie dorthin zu solchen zu entwickeln trachten, als erstes auf die Kontrolle der Prozesse der Ernennung und Beförderung von Richterinnen und Richtern?

Der spanische Haftbefehl gegen Puigdemont und seine Mitbeschuldigten weist  beunruhigende Elemente eines politisch gefälligen Justizaktes auf.  Ein Haftbefehl, dessen Geltung und Vollstreckbarkeit formal auf der Autorität der Gerichtsbarkeit einer konstitutionellen Demokratie beruht, ohne indessen den professionellen Regeln der Aufklärung des Sachverhalts und dessen Subsumtion unter die zutreffenden Tatbestände des Strafgesetzes zu genügen, schrumpft gewissermaßen auf den bloßen Vollstreckungswillen der Staatsgewalt. Er könnte zum beunruhigenden Muster einer demo-autoritären Konstruktion politischer Wirklichkeit werden. In einer historischen Phase, in der in Europa und darüber hinaus die Kernsubstanz der konstitutionellen Demokratie durch starke Bewegungen zugunsten autokratischer Regierungsformen herausgefordert wird, leistet sich eine anerkannte, unter schweren Opfern erkämpfte konstitutionelle Demokratie im Kampf für ihre territoriale Einheit eine Lockerung der für sie essentiellen Bindung ihrer Staatsgewalt an das Recht durch eine – bewusste oder unbewusste – Instrumentalisierung der Justiz. Und Europa schaut weg. Früher sagte man: Videant consules … Heute muss man sagen: We are concerned

References

References
1 Vgl. die wohl aktuellste seriöse Darstellung der katalanischen Sicht in dem Sammelband von P. A. Kraus/  J. Vergés Gifra (Eds.) The Catalan Process. Sovereignty, Self-Determination and Democracy in the 21st Century. Barcelona 2017.
2 G. Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte. Darmstadt 1963 [Nachdruck d. 2. Aufl. Von 1905]), S. 47.
3 Kelsen sprach  von “ermächtigenden Normen”, vgl. seine „Allgemeine Theorie der Normen“,( aus dem Nachlass herausgegeben von K. Ringofer u. K. Walter) Wien 1979, 26. Kap., S. 82 ff.
4 J. Searle, “Social Ontology. Some basic principles.” Anthropological Theory 6/1 (2006(, S. 12-29; in dieser Nummer findet sich eine lebhafte Diskussion dieses Begriffs zwischen Searle und einigen Kritikern.
5 R. Hirschl: Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism. Cambridge/Mass., 2004; ders. The New Constitution and the Judicialization of Pure Politics Worldwide. Fordham Law Review 75/2 (2006), S. 721 – 753.

SUGGESTED CITATION  Preuß, Ulrich K.: Spanische Tragödie, VerfBlog, 2018/4/03, https://verfassungsblog.de/spanische-tragoedie/, DOI: 10.17176/20180403-133438.

21 Comments

  1. SD Tue 3 Apr 2018 at 14:47 - Reply

    Also der erste Teil der Argumentation kommt ein wenig ins bröseln, wenn man davon ausgeht, dass die spanische Polizei nicht die Bürger an der Stimmabgabe gehindert hat, sondern die Organisatoren des Referendums daran Stimmen entgegen zu nehmen. Die praktischen Handlungen der Polizei wären wohl die selben, aber die Argumentation hier im Text würde bei dieser Sichtweise ins Leere laufen, oder nicht?!

  2. Maximilian Steinbeis Tue 3 Apr 2018 at 14:49 - Reply

    @SD: Das stimmt so nicht, jedenfalls nach meinen Beobachtungen vor Ort. Die Guardia Civil hatte sehr wohl auch gegen Bürger_innen bei der Stimmabgabe zum Teil massive Gewalt geübt.

  3. Stefan Thöni Tue 3 Apr 2018 at 15:26 - Reply

    Da bin ich dediziert anderer Meinung: Der pouvoir constituant ist eben gerade keine Frage des rechtluchen Können.

  4. Peter Camenzind Tue 3 Apr 2018 at 18:20 - Reply

    Wenn ein emeritierter Rechtsexperte aus Deutschland die Justiz und Verfassung in Spanien umlenken könnte, könnte das sogar noch fragwürdiger scheinen.

  5. CC Tue 3 Apr 2018 at 18:21 - Reply

    @SD + @MS: M.E. leidet der erste Teil der Argumentation eher daran, dass Verf. die Stimmabgabe allein unter strafrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet und nicht unter gefahrenabwehrrechtlichen (hierzulande würde man vermutlich “Staat und seine Einrichtungen” rufen). Dort stellt sich die Gewaltanwendung durch die Guardia Civil – soweit ersichtlich – natürlich als unverhältnismäßig dar. Dies ändert aber nichts daran, dass ein verhältnismäßiges (!) Einschreiten auch gegen die Abstimmenden grundsätzlich rechtlich zulässig sein könnte.

    Nichtsdestotrotz ist die Wahndelikts-Analogie als Setup für die folgenden Gedanken sehr interessant.

  6. Carlos Wed 4 Apr 2018 at 11:15 - Reply

    Interessant, aber viel zu lang!!
    Der Beitrag hat mit einem ‘Blogeintrag‘ nur noch sehr wenig zu tun. Leider ist dieser Beitrag in dieser Hinsicht kein Einzelfall und steht in der Tradition einer ganzen Reihe von neueren Beiträgen hier, die besser in (Online-)Zeitschriften aufgehoben wären.

  7. Doris Ensinger, Barcelona Thu 5 Apr 2018 at 11:20 - Reply

    Danke für die erhellende rechtsphilospophische Analyse. Außer den juristischen Gesichtspunkten geht es bei diesem Konflikt natürlich um die im Titel angesprochenen Aspekte, d.h. die Abtrennung Kataloniens von Spanien ist kein freiheitliches Projekt, sondern ein rein nationalistisches, identitäres. Viele wollen nicht (ein-)sehen, dass Puigdemont einer nationalkonservativen, neoliberalen Partei angehört, die für alle Kürzungen im Sozialbereich in Katalonien verantwortlich ist. Und wer wissen will, was diese Partei und die beiden anderen Parteien der Befürwortung der Unabhängigkeit tatsächlich denken und wollen, sollte sich das “Gesetz für die Übergangszeit” zu Gemüte ziehen, das in vielen Artikeln den in Polen und Ungarn bereits vollzogenen demokratischen Abbau nachvollzieht.
    Eine kleine terminologische Korrektur: Spanien ist in 17 “comunidades autónomas” oder “regiones autónomas” unterteilt, diese wiederum in Provinzen, Katalonien z.B. in die vier Provinzen Katalonien, Girona, Lleida und Tarragona. Im Deutschen wird diez oft fälschlich als “autonome Gemeinschaft” wiedergegeben, die offizielle Terminus ist aber “autonome Región”. Puigdemont würde sich wahrscheinlich dagegen verwahren, als “Präsident einer Provinzregierung” bezeichnet zu werden. Ein Staatsmann ist er keineswegs, sonern in vielem wirklich provinziell.

    • U. K. Preuß Sat 14 Apr 2018 at 18:53 - Reply

      Sehr geehrte Frau Ensinger,
      vielen Dank für die Klarstellung bezüglich der “Gemeinschaft”, von der hier die Rede ist: Katalonien als autonome Region. Das werde ich in Zukunft richtig machen.
      Beste Grüße
      U. K. Preuß

  8. Leser Thu 5 Apr 2018 at 12:41 - Reply

    Inhaltlich kann ich leider nicht viel beitragen, möchte aber meinem Respekt vor dem Autor Ausdruck verleihen. Das ist, soweit ich zu einem Urteil dazu berufen bin, ein verdammt gut geschriebener Artikel, sprachlich wie inhaltlich. Lang, ja, aber lesenswert bis zum letzten Wort. Und manchmal braucht ein kluger Gedanken seinen Raum. Vielen Dank!

  9. Andrew Arato Sat 7 Apr 2018 at 20:32 - Reply

    Simply brilliant, and so European in the best of all possible senses.Wow!!!!

    • U. K. Preuß Sat 14 Apr 2018 at 18:58 - Reply

      Dear Andrew,
      thank you so much for your praise! I would have liked to write the paper in english, but when I started it was meant bo become an article in a German newspaper, but it became longer and longer and hence had to be placed in the Verfassungsblog.– I will never Forget how much I learn again an again from your “verfassungssoziologischen” pieces of the last years – you are a Kind of contemporaty Karl Loewenstein! All the best,
      Ulrich

  10. Julio Carabaña Sun 8 Apr 2018 at 02:06 - Reply

    Nach Dr. Preuss, was Herr Carlos Puigdemont getan hat ist keinen Verrat weil es an Gewalt gemangelt habe. So möge es sein, obwohl $81 des StGb auch von ‚Drohung mit Gewalt“ spricht. Könnte es aber nicht „Vorbereitung von Hochverrat‘ sein?;denn nach $ 83 StGB es ist kein Gewalt nötwendig dafür.

    Auf jeden Fall, es ist mir schwer anzunehmen dass in Deutschland etwas änhliches nicht widerechllich sein kann.Es wäre wirklich in Deutschland kein Verbrechen wenn eine Landesregierung mit vom Verfassungstribunal untersagten Aktionen ein Projekt der Unabhängigkeit vorantriebe?.

    Übrigens, sollte man mehr ‚concerned‘ sein weil eine Landsesregierung es unternimmt, auch ohne Gewalt, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder weil die Bundesregierung versucht solches Unternehmen als Hochverrat zu betrachten?

  11. Thomas Sturm Thu 12 Apr 2018 at 20:04 - Reply

    Preuß’ Artikel wirft auf manche Dinge eine neues und interessantes Licht – die Behandlung des Themas “Rebellion” etwa ist klug und subtil. Aber leider enthält der Beitrag 2 sehr entscheidende Mängel:

    (1) Die Puigdemont-Regierung hatte, was zu wenig berichtet wurde und auch von Preuß ignoriert wird, am 6. und 7. September mit unzureichenden Mehrheiten im katalanischen Parlament Gesetze zum Referendum durchgepeitscht und dabei Minderheitenrechte im Parlament massiv beiseite gedrückt – übrigens gegen den Rat der eigenen parlamentarischen Rechtsberater. Dies war eine entscheidende Stufe der Eskalation, ohne die es gar nicht erst zum 1. Oktober und dann zum 27. Oktober hätte kommen können. Puigdemont hat nie die Kraft aufgebracht, diese Eskalation zurückzunehmen – vielleicht, weil er, wie Preuß so schön sagt, er “als Löwe verkleidet” ist, aber “glaubt …, ein Löwe zu sein; und die Justiz ist überzeugt, dass sie einen gefährlichen Löwen einsperren muss.” Das Bild ist etwas stark, weil Puigdemont eigentlich glaubhaft für friedlichen Widerstand plädiert. Dennoch ist sein Plädoyer für Demokratie nicht glaubhaft; er und seine Regierung haben es selbst unterminiert.

    (2) Preuß ignoriert, dass und wie tief die katalanische Gesellschaft gespalten ist. Klar ist: Eine Seite will Unabhängigkeit, die andere versucht das zu vereiteln. Das ist aber nicht einfach Streit zwischen Spaniern und Katalanen. Der Riss geht buchstäblich mitten durch die katalanische Gesellschaft. Es ist darum etwas ärgerlich, wenn immer von “ er” katalanischen Seite im Gegensatz zur spanischen gesprochen wird. S. etwa die Fussnote 1: “Vgl. die wohl aktuellste seriöse Darstellung der katalanischen Sicht” – das zitierte Buch ist von klar katalanistischen bzw. independententistischen Autoren verfasst. “Die” katalanische Sicht gibt es eben nicht. Ebenso könnte man nämlich mit vollem Recht sagen: Die spanischen Institutionen schützen die knappe Hälfte, mas o menos, der Katalanen, die keine Katalanisten sind und auch nicht sein wollen, vor den unilateralen und wiederholt gesetzwidrigen Bestrebungen der Puigdemont-Regierung.

    Richtig sieht Preuß, dass die spanischen Institutionen sich zu einseitig auf juristische Methoden kapriziert haben und dabei vermutlich übertreiben. Es fehlen konstruktive Angebote, schon lange. Aber nur wenn man die genannten Punkte berücksichtigt, versteht man zuerst einmal, warum die spanische Regierung und die spanischen Gerichte so handeln, wie sie handeln.

    • U. K. Preuß Fri 13 Apr 2018 at 13:24 - Reply

      Sehr geehrter Herr Sturm,
      danke für Ihre kritischen Bemerkungen.
      Sie haben Recht, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist nicht gleichbedeutend mit “den Katalanen”. Ich fühle mich aber insofern salviert, als ich am Anfang schreibe: “Kaum jemand außerhalb Kataloniens wird daher der spanischen Regierung das Recht bestreiten, mit den von der Verfassung und dem übrigen Recht bereitgestellten Mitteln die territoriale und politische Ein¬heit Spaniens zu verteidigen. Sie verteidigt damit die konstitutionell gesicherte gleiche Freiheit aller Spanier”, und das heißt auch aller Katalanen.

  12. Manfred BONSON Sat 14 Apr 2018 at 11:49 - Reply

    Vielen Dank für den billianten Artikel. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß Herr Puigdemont Opfer einer “ans Wahnhafte grenzenden Autosuggestion”ist, genau so wenig wie die Millionen Katalanen, die ihren Wunsch nach Unabhängigkeit bzw. Selbstbestimmung immer wieder demonstrieren. Jenseits aller juristischen Diskussionen empfinde ich mit den Katalanen das Recht auf Selbstbestimmung als ein originär demokratisches Recht, als die Grundlage jeder Demokratie, das dem Wesen des demokratischen Gedankens zutiefst entspricht.So fühlen und denken auch die meisten Katalanen. Sie möchten zumindest frei entscheiden können über die Frage der Unabhängigkeit.Viele gerade junge Katalanen möchten damit auch einen korrupten Staat loswerden. Sie sollten sich allerdings keine Illusionen machen, daß dann plötzlich der ideale, gerechte Staat entsteht. Frau Ensingers Einwand ist genau zu betrachten: daß Puigdemont für eine nationalkonservative und gleichzeitig neoliberale Richtung stünde, die schon einen Sozialabbau vollzogen habe und einen Abbau rechtsstaatlicher Elemente wie in Osteuropa plane (Belege?). Außerdem darf nach meinem Demokratie-Empfinden ein so weitreichender Schritt wie die Unabhängigkeit nicht mit einer nur knappen Mehrheit vollzogen werden. Sprecht miteinander und gebt den Katalanen MEHR Rechte !

  13. Johannes Fitz Mon 16 Apr 2018 at 21:19 - Reply

    An erster Stelle danke ich Ihnen für Ihren Beitrag zum Thema. Ich konnte jetzt nicht auch noch alle Kommentare lesen, da ihr Artikel ja doch schon sehr lange war. Ich hoffe ich wiederhole also nichts bereits Erwähntes. Was mir völlig fehlt in Ihrer teils philosophischen Auslegung der Dinge ist der innerkatalanische Aspekt. Die spanische Justiz verteidigt ja schließlich das Recht ALLER Spanier (auch der Katalanen)! Den größten Konflikt und die meiste Gewalt gab/gibt es ja nicht zwischen “Spanien” (als ob da Cataluña nicht dazugehören würde) und Cataluña selbst sondern intern. Dies aussen vor zu lassen und Cataluña und die Katalanen als ein praktisch homogenes Gebilde anzuführen ist irreführend.
    Es ist auch wichtig, sich bewusst zu sein, dass Puigdemont und seine Regionalregierung nicht nur gegen die spanische Verfassung (von allen Spaniern inkl. der Katalanen), sondern auch die eigenen Statuten (von allen Katalanen gewählt) massiv verstoßen haben.
    Ich sehe Sie sprechen Spanisch. Mich würde Ihre Meinung zu folgenden juristischen Auslegungen des europäischen Haftbefehls eines Ihrer spanischen Kollegen interessieren:
    https://tsevanrabtan.wordpress.com/2018/04/09/el-derecho-y-sus-tortuosos-caminos/
    Und weiters:
    https://tsevanrabtan.wordpress.com/2018/04/16/el-derecho-y-sus-tortuosos-caminos-2a-parte/
    P.S.: Anklage ist-nicht-gleich Verurteilung. Alle Ihre Argumente pro und contra würden/könnten bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren in Spanien verteidigt werden. In Schleswig-Holstein entscheiden 3 Richter quasi allein darüber ab.
    MfG

  14. Thomas Gretscher Wed 18 Apr 2018 at 11:15 - Reply

    Nicht ganz klar ist mir, warum es “in einem auf der gleichen Freiheit der Bürger beruhenden politischen Gemeinwesen” keine “Grenzen zum Nicht-Identischen” geben darf und die daraus resultierenden “Differenzen [nicht] anerkannt werden” sollten. Die Anerkennung des GG z.B. stellt für die in unserer Gemeinschaft lebenden Menschen eine solche identitätswahrende Abgrenzung dar, die es “in einem auf der gleichen Freiheit der Bürger beruhenden politischen Gemeinwesen” durchaus geben darf. Die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen setzt die Zustimmung zu einer Vielzahl von Normen voraus. Wenn grundlegende Normen sich ändern oder nicht (mehr) anerkannt werden können (etwa die Deutung des Gewaltbegriffes im Zusammenhang mit Sprech-Akten), muss es meiner Meinung nach gestattet sein, das Gemeinwesen zu verlassen oder vom Gemeinwesen ausgeschlossen zu werden.

  15. Remo Wed 13 Jun 2018 at 19:07 - Reply

    Zitat: ” Die spanische Regierung ist drauf und dran, das Land mit einer geradezu verstockten juristischen Selbstgerechtigkeit und Ignoranz in eine politisch ausweglose Situation zu steuern. ”

    Dazu: Am besten, man würde es so machen wie die Schweiz mit dem Kanton Jura.

    Leute, die unzufrieden sind mit dem Gebilde, zu dem sie gehören, gehen lassen. Der Kanton Bern ließ im Gebiet Jura abstimmen und ein Teil des Jura-Gebiets (der nördliche) wollte nicht mehr zum Kanton Bern gehören, heute ist es ein eigener Kanton (seit 1974).

  16. Blanco Varela Juan Carlos Wed 17 Oct 2018 at 14:10 - Reply

    Als im Jahr 17oo das Haus Austria und das Haus Bourbon um das Königreich Spanienin Erbfolgskrieg kämpften, stellten sie sich die Katalanen an der Seite des Hauses Austria(Habsbürger) die die Unabhängigkeit Kataloniensin falle eine Unterstützung der Katalanen vesprochem hatten, diese verloren das Erbfolgskrieg und dadurch wurde aus eine Unabhängikeit nichts.Seit 1714 gab es immer wieder konflikte wegen unabhängigkeit bestrebungen de Katalanen, es gab immer wieder Kämpfe, Bürgerkriege die immer wieder die Schwächung der eins grosse Europäische Macht Spanien bedeutete. Zuletzt im Jahr 1934,damals war Spanien eine Republik und trozdem hat wieder durch Company versucht Unabhängig zu werden, das führte zum Spanischen Bürgerkrieg die Franco gewonnen hat, 1939 wurde Company durch die Gestapo in Frankreich festgenommen und nach Spanien abgegeben, er würde wegen großen verrat erschossen.Nach Francos Tod hat sich Spanien eine Demokratische Verfassung gegeben, sie wurde durch 80% des Volkes( auch der Katalanen) genehmigt.40 Jahre Lang, versuchten die Katalanen durch nationalistischen Parteien große Freiheits und Finanzvorteile für sich geholt, wenige Katalanen haben von Unabhängigkeit damals gesprochen, es ging so weit das Katalonien eine demokratische Freiheit hatte, kein Land in Deutschland geniess über so viele Freiheiten wie Katalonien.Die Regierung Katalonien könnten sie sich bereichern in den sie verschiedene Parteien gegen Freiheiten und die Instalierung von großen Infrastrukturen zu kosten ander Autonomische Länder Spaniens, die Katalonien immer Reicher machten. Aber das genügte die Regierung(Govern) lange nicht, so haben sie für ales was in Katalonien gebaut würde in Geheim 3% kassiert, das war bereits unter den Gierigen Puyol und seiner Familie. Artur Mas Vater war die rechte Hand von Ministerpräsident Puyol, der als er sich von der Politik gezogen hat, nannte er Artur Mas zu seinen Nachfolger. Im Jahr 2008 hat man diese Korruption in Katalonien entdeckt, viele hunderte von Millionen( etwa 2,5 Milliarden Euro)Euro wurden so Schwarz eingesteckt, das Finanzamt hatte lunte Gerochen und hat etwas Juristisch dagegen unternommen, aus diesen Anlass und um zu versuchen die Korruption zu decken, begann im Jahr 2011 der Präsident Katalonien Artur Mas über Unabhängigkeit Kataloniens zu Sprechen, damit wollte er die Spanische Regierung von einer untersuchung wegen korruption verhindern. Wie diese Geschichte weiter ging haben es alle durch die Medien erlebt.

  17. Susanne Grundler Sun 24 Feb 2019 at 07:20 - Reply

    Vorweg vielen Dank fuer den Bericht. Die Analyse ist genial und hat mir geholfen Licht auf Vorfaelle zu werfen die ich nicht in der Lage war zu erklaeren und zu verarbeiten.

    Dies war der Grund fuer eine Googlesuche wegen Missbrauch von Behoerden in Spanien. Da ich weder in spanischer noch in englischer Sprache fand was ich suchte versuchte ich es auf Deutsch und fand ihren Bericht.

    Die Umdeutung von der sie reden kam vor einigen Tagen in meinen Erfahrungsbereich.

    Das Interesse und die Nachhaltigkeit der Verfolgung eines nicht nur gedachten, sondern gespuerten Etwas das einer Erklaerung bedarf ist bewunderungswuerdig. Die Umdeutung der Form der Gewalt hat ohne Zweifel eine Ursache.

    Ihre Frage:
    Sind wir in diesem Konflikt zwischen dem spanischen Zentralstaat und Katalonien vielleicht Zeugen einer strategischen Umdeutung von Formen „vergeistigter Gewalt“ in die materielle Form der Gewalttätigkeit?
    Umdeutung? Ich meine ja.
    Strategisch?

    Ihre Aussage:
    Es muss einen strukturellen Grund dafür geben, dass in dem Haftbefehl das entscheidende Merkmal der „violencia“ als so selbstverständlich angenommen wurde, dass sich jegliche Begründung erübrigte.
    Grund? Ich meine ja.
    Strukturell?

    Die Anwendung von via compulsiva ist, meiner Meinung nach, ein modus operandi von Behoerden, Polizei, Guardia Civil etc. und deren Mitarbeitern in Spanien.
    Anwendung von Macht und Gewalt zur Vermeidung von Kontrollverlust.

    Nachfolgend die Schilderung der Erfahrung:
    Ich lebe in Bolivien und habe davor 7 Jahre in Spanien (Teneriffa) gelebt.
    2017 verkaufte ich eine Immobilie in Spanien fuer die ich eine Steuererklaerung abgeben musste.
    Aus zuvor unersichtlichen Gruenden teilte man das Grundstueck das aus 2 Teilen bestand nun nochmal in Gebaeude und Grundstueck und kam so zu 4 Teilen. In 3 Teilen habe ich Erstattungsansprueche von 4500 und in einem Teil schulde ich 3000. Nach nun fast 1 Jahr hat die Agencia Tributaria (spanisches Finanzamt) nicht nur noch nicht zurueckbezahlt sondern obendrein mein Konto in Spanien beschlagnahmt. Ohne Ankuendigung, ohne Grund und mit 20% Zuschlag. Da saemtliche Formen nicht beachtet wurden wurde die Beschlagnahmung rueckgaengig gemacht um gleich darauf wieder 3000 einzufordern, die Summen die man mir schuldet ignorierend. Es wurde mit 20% Zuschlag gedroht falls ich das nicht unverzueglich tun wuerde.
    Handelt es sich hier tatsaechlich nicht um einen Bankueberfall und bewaffnete Erpressung? Oder um absichtliche Falschauslegung/-interpretierung (prevaricacion) von Seiten der Mitarbeiter/Angestellten (was auch eine Straftat ist)?

    Es macht den Anschein einer vis compulsiva ist aber im Gefuehlsbereich tatsaechlich eine vis absoluta.
    Daran sollte sich nichts aendern nur weil es sich um das Finanzamt handelt. Wuerde eine Privatperson diesselben Handlungen vornehmen wuerde sie mit mehrjaehrigen Gefaengnisstrafen geahndet.

    Um zur Frage zurueckzukehren ob es sich um eine Umdeutung von vergeistigter Gewalt zu der materiellen Form der Gewalttaetigkeit handelt.

    Ich meine es kommt zur Umdeutung in Folge einer Projektion. Um die Projektion zu ermoeglichen muessten die Noetigungen (Ueberfall, Epressung etc.) von Seiten der Behoerden, die ja in Spanien an der Tagesordnung sind, unbewusst sein. Unbewusst deshalb, da sie nicht gefuehlt werden.

    Man projeziert, auch da man solch niedriges Verhalten in sich selbst nicht akzeptieren kann.

    Die Umdeutung waere also ein Abwehrmechanismus. Puigdemont ein Ausloeser von Kontrollverlust bei den Spaniern.

  18. […] sich dafür interessieren, empfehle ich den Beitrag von Preuß „Spanische Tragödie“; hier). Erachtete sich der spanische Staat für zu schwach, um die Welt davon zu überzeugen, dass das […]

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