Sperrwirkungen der Sperrklausel
Ein Lernstück aus Brandenburg
Wie so oft in der Geschichte seien es Sozialdemokraten gewesen, die Extremisten auf dem Weg zur Macht gestoppt hätten, jubilierte Dietmar Woidke, Ministerpräsident des Landes Brandenburg, am Wahlsonntag unmittelbar nach Schließung der Wahllokale. Die freudetrunkene Erinnerung an die glorreiche Geschichte erwärmte die sozialdemokratische Seele und ließ sie in spätromantischer Verklärung für eine kurze Wahlnacht ihre Flügel über das ganze Land ausspannen: Es wird wieder gut (Max Raabe).
Aber am Morgen danach war es dann mit der guten alten Zeit auch wieder vorbei: 29,2% der Stimmen und mehr als ein Drittel der Parlamentssitze (30 von 88) für die AfD. Man muss schon ein sehr entspanntes Verhältnis zur politischen Realität haben, wenn das keine Macht in den Händen von Extremisten ist. Ohne die AfD kann fortan die Verfassung nicht mehr geändert (Art. 115 Abs. 1 BbgVerf) und können Verfassungsrichter nicht gewählt werden (Art. 112 Abs. 4 S. 5 BbgVerf). Und dann noch 13,5% für das BSW – eine Partei mit Person, aber ohne Programm. Sie ist aber nun mit ihren 14 Parlamentssitzen die einzige, nicht rechtsextremistische Option, die den glorreichen Sozialdemokraten (30,9% der Zweitstimmen, 32 Parlamentssitze) noch die Mehrheit im Landtag zu sichern vermag. SPD und CDU haben zusammen nur noch genau so wenige Sitze wie AfD und BSW zusammen.
Die Sozialdemokraten haben also nicht Extremisten gestoppt, sondern andere Demokraten, deren Parteien durch den zugespitzten Wahlkampf ihr Wählerpotenzial nicht haben ausschöpfen können. Neben der CDU (12,1% der Zweitstimmen und 12 Parlamentssitze) waren das insbesondere die Grünen, die bei nur 4,1% der Zweitstimmen gelandet und damit an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert sind. Auch die Brandenburger Grundmandatsklausel war keine Hilfe. Sie greift zwar bereits bei einem gewonnenen Wahlkreis, taugt aber für Parteien ohne echte Hochburg nicht als Kompensation der Fünf-Prozent-Klausel.
Weniger Beachtung findet bislang die Tatsache, dass die Fünf-Prozent-Klausel im Landeswahlgesetz weitere Demokraten ausgebremst hat. Insgesamt 14,3% der gültigen Zweitstimmen wurden für Parteien abgegeben, die an dieser Sperrklausel gescheitert sind. 217.718 Brandenburgerinnen und Brandenburger haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, ohne dass dies im Ergebnis irgendeinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hatte. Das ist ziemlich genau jeder siebte Wahlberechtigte. Über 90% dieser Stimmen entfielen auf Parteien, an deren Verfassungstreue nicht die geringsten Zweifel bestehen. Wie wirkt das auf Menschen, für die Wahltage noch Feste der Demokratie sind?
Es ist an der Zeit, über die Sperrklausel zu reden
In Bezug auf die Sperrklausel verfestigt sich seit einiger Zeit ein Trend, der sich analog zum meteorologischen Klima entwickelt: Die wärmsten Jahre lagen fast alle in diesem Jahrhundert. Der Stimmenanteil der an der Sperrklausel gescheiterten Parteien lag bei sieben Bundestagswahlen jeweils unter 5%; davon fünf Wahlen sogar unter 2%. Aber alle diese Wahlen fanden in der gesellschaftlich wie politisch vergleichsweise homogenen Bonner Republik statt. Hingegen lag der Anteil der von der Fünf-Prozent-Klausel geschluckten Stimmen bei zwei der letzten drei Bundestagswahlen jeweils bei über 10% (2013: 15,7%; 2021: 13,6%). Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, wären – legt man die derzeitigen Umfragen zugrunde – gut 15% der abgegebenen Stimmen betroffen. Bei einer angenommenen Wahlbeteiligung von 80% wären das etwa 7,5 Millionen abgegebene Wählerstimmen. Das ist ein Effekt, als würden alle im Freistaat Bayern abgegebenen Stimmen nicht gewertet.
Der Trend in den Ländern ist ähnlich: Beispielsweise erreichte die Anzahl der nicht zum Zuge gekommenen Stimmen in Baden-Württemberg (2021: 12%) und im Saarland (2022: 22%) jeweils historische Höchstwerte. Nicht berücksichtigt sind bei alledem die Wähler, die sich durch die Sperrklausel davon abhalten lassen, die eigentlich präferierte Klein-Partei zu wählen („Schere im Kopf“). Auch so lässt sich erklären, dass Volt nur bei der Europawahl 2024, bei der keine Sperrklausel galt, ein vergleichsweise gutes Wahlergebnis hatte.
Die Sperrklausel stellt einen gravierenden Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) dar. Die beiden besonderen Gleichheitsrechte wurzeln im Demokratieprinzip und sind daher nach Meinung des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg „im strikten und formalen Sinn zu verstehen“ (VerfGBbg, Urt. v. 23.10.2020, VfGBbg 9/19). Dieser Maßstab führe zu einem „grundsätzlichen Differenzierungsverbot“ und ziehe „dem Ermessen des Gesetzgebers besonders enge Grenzen“ (Rn. 175).
Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt die Fünf-Prozent-Klausel auch in seiner jüngsten Entscheidung aus dem Juli 2024 grundsätzlich mit der Gewährleistung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments. Es betont in diesem Zusammenhang das Anliegen, die interne Arbeitsfähigkeit des Bundestages zu sichern, die durch eine Zersplitterung in viele kleine Gruppen verhindert werde (Rn. 233), und zudem die Notwendigkeit der kontinuierlichen Unterstützung der Bundesregierung durch die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Rn. 227).
Das erstgenannte Argument der gefährdeten Arbeitsfähigkeit des Bundestages ist mit Vorsicht zu genießen. Natürlich arbeitet es sich im Parlament ohne nervige oppositionelle Kleinparteien (das Bundesverfassungsgericht nannte sie im Bonner Move früher „Splitterparteien“, die „im Wesentlichen nur einseitige Interessen verfechten“, BVerfGE 6, 84 (92)) leichter. Wer im Boot sitzt, neigt früher dazu, es für voll zu halten als diejenigen, die noch rein wollen. Die „Arbeitsfähigkeit“ taugt eben auch als argumentativer Trojaner von Parlamentsmehrheiten, die sich „statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten“ (BVerfGE 120, 82 (113)) lassen. Die Verwaltungspraktikabilität ist auch sonst kein hinreichender Grund für derart gravierende Eingriffe in die demokratische Gleichheit. In einem ab der nächsten Legislaturperiode endlich verkleinerten Bundestag ist das Argument noch weniger überzeugend, und in den kleinen Landtagen war es noch nie wirklich tragend. Ohnehin hindert die Parlamente niemand daran, für Fraktionen eine Mindestfraktionsstärke (vgl. etwa § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT) vorzusehen, um die Parlamentsarbeit zu organisieren. Kontrollfrage: Wäre der Brandenburger Landtag arbeitsunfähig, wenn auch noch Grüne, Linke und Freie Wähler in ihn eingezogen wären?
Der zweitgenannte Rechtfertigungsansatz fällt seinen Befürwortern in Brandenburg hingegen sogar auf die Füße. Natürlich braucht eine funktionsfähige Landesregierung die kontinuierliche Unterstützung durch die Mehrheit der Mitglieder des Landtags. Aber genau das wird nun mit der Fünf-Prozent-Klausel verhindert. Mathematisch-politisch kommt als Koalitionspartner für die SPD in Brandenburg nämlich derzeit nur das BSW in Betracht; gemeinsam käme man auf die knappe Mehrheit von 46 Sitzen. Wenn diese Koalition überhaupt zustande kommen sollte, ist die Befürchtung nicht zu verwegen, dass sie ziemlich schnell aus der Kurve fliegen könnte und gerade keinen funktionsfähigen Landtag zustande bringen wird, der die Landesregierung kontinuierlich unterstützt.
Absenkung der Sperrklausel als besser geeignetes und milderes Mittel
Nehmen wir nun an, bei der Landtagswahl hätte statt der Fünf- eine Drei-Prozent-Klausel gegolten. Dann wären auf die SPD 30, die AfD 29, das BSW 13, die CDU 12 und die Grünen vier Mandate entfallen. Insbesondere das fiktive Ergebnis für die AfD zeigt, dass schon eine Drei-Prozent-Klausel die demokratische Realität viel genauer wiedergibt als eine Fünf-Prozent-Klausel. Diese führt nämlich dazu, dass die AfD im kommenden Landtag nun 34,1% der Abgeordneten stellt, obwohl sie nur 29,2% der Stimmen erhalten hat, d.h. gerade weniger als ein Drittel. Bringen wir es auf den Punkt: Die von vielen gefürchtete und nunmehr eingetretene 1/3-Sperrminorität der AfD im Landtag ist auch ein Produkt der Fünf-Prozent-Klausel. Dem Wählerwillen entspricht sie nicht.
Für die Frage der Stabilität der vom Landtag getragenen Landesregierung noch interessanter ist aber die Erkenntnis, dass eine Drei-Prozent-Klausel eine weitere Koalitionsoption eröffnet hätte: SPD, CDU und Grüne hätten mit 46 Mandaten im Landtag ihre bisherige Koalition fortsetzen können. Die Fünf-Prozent-Klausel hat diese politische Handlungsoption verbaut.
Nun hängt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Sperrklausel natürlich nicht davon ab, welche Partei sie trifft (BVerfG, Urt. v. 30.07.2024, 2 BvF 1/23 u.a., Rn. 232). Aber darum geht es auch nicht, sondern es geht grundsätzlich um die Tragfähigkeit eines aus der Zeit gefallenen Rechtfertigungskonzepts. Seine Zielrichtung ist antipluralistisch, die empirische Fundierung unterkomplex und die historische Begründung „Weimar“ widerlegt. Die Regierungsbildungen sind ja seinerzeit nicht an den sog. Splitterparteien gescheitert, sondern an der Kompromissunfähigkeit der großen und mittleren Parteien; Sperrklauseln hätten hingegen gerade die kleinen, kompromissfähigen Parteien der Mitte getroffen (s. Poscher, in: Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, 256 (275 f.)).
Das Bundesverfassungsgericht betont daher auch in seiner jüngsten Entscheidung in zukunftsoffener Weisheit, dass Sperrklauseln nicht ein für alle Mal verfassungsgemäß sind. Sie könnten „mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht“ (Rn. 243). Für die Beurteilung sind sowohl rechtliche als auch tatsächliche Veränderungen maßgebend (Rn. 245 ff.). Ein Wahlergebnis wie das in Brandenburg entlarvt die Legende, dass die Fünf-Prozent-Klausel die Funktionsfähigkeit eines die Regierung tragenden Parlaments gewährleistet. In Brandenburg schützt sie nicht, sondern sie sperrt aus. Sie hat nicht Extremisten von der Macht ferngehalten, sondern ihnen mit der Sperrminorität eine Machtposition eröffnet. Dass sie stabile Mehrheiten nicht ermöglicht, sondern gefährdet, spricht dafür, dass der Zeitpunkt gekommen ist, sie dort auf den politischen und/oder verfassungsrechtlichen Prüfstand zu stellen.
Der Bundestag wird das für ihn maßgebliche Wahlrecht erst in seiner kommenden Legislaturperiode reformieren. Er wird dabei auch die Fünf-Prozent-Klausel neu regeln müssen, nachdem das Bundesverfassungsgericht sie mit Blick auf Fraktionsgemeinschaften für verfassungswidrig erklärt hat (Rn. 249 ff.) und ihre generelle Absenkung als Handlungsoption ansieht (Rn. 274). Für das Brandenburger Verfassungsgericht dürfte es nach dieser Landtagswahl schwer werden, die Fünf-Prozent-Klausel mit der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtages zu rechtfertigen. Besser wäre es, wenn der Landtag sie vor einer möglichen Klage absenken würde. Er täte damit nicht nur der Demokratie, sondern auch seiner eigenen Funktionsfähigkeit einen Gefallen.
Transparenzhinweis: Thorsten Kingreen war Prozessbevollmächtigter von 4242 Beschwerdeführenden im von „Mehr Demokratie e.V.“ initiierten Verfahren 2 BvR 1523/23 vor dem Bundesverfassungsgericht.
Lieber Herr Kingreen,
auch Sie machen es sich mit “Weimar” m.E. zu leicht.
Zugegeben, die gängige Erzählung von der Mehrheitsunfähigkeit wegen der parteipolitischen Vielzersplitterung ist so nicht zutreffend. Wie Sie richtig sagen, ist die letzte große Koalition an der Kompromissunfähigkeit der großen und mittleren Parteien gescheitert und hätte eine Sperrklausel grosso modo für noch weniger Mitte-Mandate gesorgt.
Daraus aber abzuleiten, dass Weimar GEGEN eine Sperrklausel spricht, ist aber überschießend und verkürzt: 1. Natürlich sorgt eine Sperrklausel dafür, dass sich die politische Willensbildung kanalisiert und zwar regelmäßig zur Mitte hin, weil sie entsprechende Anreize sowohl für die Parteien bei ihrer strategischen Ausrichtung als auch für die Wähler bei ihrer Stimmabgabe schafft. 2. Viel wichtiger noch: Die politische Radikalisierung in Weimar hatte sicherlich auch damit zu tun, dass radikale Kleinparteien die Parlamente als Bühne nutzen konnten und die Mitte-Parteien permanent unter Druck setzen und sie bei Kompromissen der Prinzipien- und Rückgratlosigkeit zeihen konnten. Das Fehlen der Sperrklausel war also nicht wegen der durch sie ermöglichten Zersplitterung, sondern wegen der mittelbar durch sie verursachten Verächtlichmachung und Verunmöglichung von Kompromissen fatal.
Vielen Dank für den Kommentar.
Das “Weimar-Argument” wird tatsächlich fälschlicherweise für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Sperrklausel verwendet, früher auch vom Bundesverfassungsgericht. Im Parlamentarischen Rat war man da schon weiter und hat explizit davon Abstand genommen, sie im Grundgesetz zu regeln. Mehrheitlich und über die Parteigrenzen hinweg war man sogar der Ansicht, dass ohne eine entsprechende Ermächtigung im Grundgesetz eine Sperrklausel unzulässig sei.
Ich habe allerdings nicht gesagt und bin auch nicht der Meinung, dass “Weimar” GEGEN eine Sperrklausel spricht. Gegen sie gibt es jedenfalls in dieser Höhe genügend andere Gründe – nicht nur die klare Positionierung im Parlamentarischen Rat, sondern auch die von mir genannten Effekte. Dass man mit Sperrklauseln die Leute dazu bringen kann, wieder brav die großen Volksparteien zu wählen, ist nicht sehr realistisch. Die Sperrklausel ist ein Instrument der Exklusion von Demokraten – das können wir gerade nicht so gut gebrauchen.
Die Sperrklausel ist an sich nicht unproblematisch. Das größere Problem ist aber meines Erachtens, dass die durch die Sperrklausel invalidierten Stimmen vollständig aus der Rechnung herausgenommen werden. Es wird nicht ermittelt, was der hypothetische Wählerwille gewesen wäre, wenn vorher bekannt gewesen wäre, dass die 5 %-Hürde nicht überschritten werden würde. Das führt (auch) zu strategischer Abstimmung, bei der die Wähler absichtlich eine aus ihrer Sicht suboptimale Partei wählen, weil sie davon ausgehen, dass ihre präferierte Partei nicht in das Parlament einziehen wird. Dies kann dazu führen, dass sogar Parteien, die eigentlich mehr als 5 % der Wählerstimmen erhalten würden, sozusagen als Ergebnis einer selbsterfüllenden Prophezeiung nicht in das Parlament einziehen. Dieser Problematik kann durch integrierte Stichwahl (ranked choice voting) nahezu nachteilslos entgegengewirkt werden. Das BVerfG hat eine solche für nicht verfassungsrechtlich geboten gehalten (BVerfG, Beschl. v. 19.09.2017 – 2 BvC 46/14), was m. E. nicht überzeugt (näher Barlet, ZJS 2018, 179 ff.). Bei einer Reform der Sperrklausel wäre die Einführung einer integrierten Stichwahl aber dringend zu bedenken.