Sperrwirkungen der Sperrklausel
Wie so oft in der Geschichte seien es Sozialdemokraten gewesen, die Extremisten auf dem Weg zur Macht gestoppt hätten, jubilierte Dietmar Woidke, Ministerpräsident des Landes Brandenburg, am Wahlsonntag unmittelbar nach Schließung der Wahllokale. Die freudetrunkene Erinnerung an die glorreiche Geschichte erwärmte die sozialdemokratische Seele und ließ sie in spätromantischer Verklärung für eine kurze Wahlnacht ihre Flügel über das ganze Land ausspannen. Aber am Morgen danach war es dann mit der guten alten Zeit auch wieder vorbei.
Continue reading >>Stressfaktor Staatsexamen
Das Erste Juristische Staatsexamen zählt aufgrund der Menge des in einem Block geprüften Stoffumfangs und der damit verbundenen langen Prüfungsvorbereitung zweifellos zu einer der anspruchsvollsten Prüfungsphasen des deutschen Hochschulsystems. Das JurSTRESS-Projekt konnte mithilfe moderner biopsychologischer Methoden und einem detaillierten, longitudinalen Design bestätigen, dass die Vorbereitung auf die Erste Juristische Staatsprüfung eine sehr belastende Zeit für die Studierenden darstellt. Besonders bedenklich sind dabei die hohen Raten an zu mindestens einem Messzeitpunkt auffälligen Werten in den Dimensionen Ängstlichkeit (48%), Depressivität (19%) und chronisches Stresserleben (59%).
Continue reading >>Vergesellschaftungsverzögerungsgesetz
Nach dem Ergebnis des Volksentscheids entschied sich die damalige rot-rot-grüne Regierung dazu, eine Kommission mit Expert*innen mit der Erstellung eines Gutachtens über die Verfassungsmäßigkeit der Vergesellschaftung zu beauftragen, das nun vorgelegt wurde. Der regierende Bürgermeister Kai Wegner kündigte entsprechend dem Koalitionsvertrag ein „Vergesellschaftungsrahmengesetz” an, dessen genauer Inhalt bislang noch unbekannt ist, das aber jedenfalls keine unmittelbare Vergesellschaftung bewirken soll. Hinter dem Rahmengesetz steht das Kalkül, eine verfassungsgerichtliche Kontrolle zu erzielen, bevor tatsächliche Vergesellschaftungsmaßnahmen ergriffen werden. Mit diesem Plan begibt sich der Senat sowohl verfassungsrechtlich als auch politisch auf einen Irrweg.
Continue reading >>„Stop Racial Profiling“?
Das Bundespolizeigesetz ist in die Jahre gekommen und soll nach einem nun veröffentlichten Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium umfassend reformiert werden. Obwohl der Entwurf das Problem anerkennt, unternimmt er leider nur halbherzige Anstrengungen, um effektiv vor polizeilichem Racial Profiling zu schützen.
Continue reading >>Entgleisung des Bundesrechnungshofs
In seinem Sonderbericht vom 15. März übte der Bundesrechnungshof vernichtende Kritik an der Deutschen Bahn, die die Presse in der vergangenen Woche dazu veranlasste, von der Notwendigkeit einer „Zerschlagung“ der Bahn zu sprechen. Zerschlagung meint in diesem Falle jedoch weniger eine Restrukturierung als solches, sondern als vor allem eines: Privatisierung. Der Bundesrechnungshof bewegt sich damit auf einem schmalen Grat zwischen ökonomischer Evaluation und politischer Intervention. Die Schlussfolgerungen erscheinen allerdings keinesfalls notwendig und in Anbetracht des institutionellen Mandats des Bundesrechnungshofs diskussionswürdig.
Continue reading >>Vom Chancentod zur Chance: Ein wahlrechtlicher Vorschlag zur Güte
Durch den Wegfall der Grundmandatsklausel rückt aber die 5%-Klausel wieder in den verfassungsrechtlichen Fokus. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Maßstäbe hierzu verschärft, und diese Maßstäbe wird es auch an die im veränderten Kontext des neuen Verhältniswahlrechts stehende 5%-Klausel anlegen. Ob sie ihnen standhalten wird, lässt sich kaum verlässlich prognostizieren. Für die politische Kultur wäre es aber am besten, wenn es gar nicht erst zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommen müsste.
Continue reading >>Jenseits der Pandemie
Als die WHO am 11. März 2020 COVID-19 als weltweiten Gesundheitsnotstand einstufte, wurde auch der größten Optimistin klar: Jetzt wird es ernst. Wenige Tage später erschienen die ersten Beiträge auf dem Verfassungsblog, der sich zur wichtigsten Plattform der rechtswissenschaftlichen Diskussion und Vergewisserung in der Pandemie entwickeln sollte. Nun, drei Jahre später, ist es auch hier still geworden. Das Virus, das so viel Unheil und Unfrieden angerichtet hat, ist auf Abschiedstournee in den endemischen Modus. Es beginnt die Zeit der öffentlichen Bilanzen, die mal selbstgerecht, mal selbstkritisch ausfallen.
Continue reading >>Eigentumsverhältnisse sind antastbar
Die aktuellen Debatten um Kohleausstieg und Energiewende zeigen, dass Entscheidungen auf dem Gebiet der Energiewirtschaft hochpolitisch sind und nicht ohne Blick auf das Wohlergehen dieser sowie folgender Generationen gefällt werden können. Insbesondere die anhaltenden Proteste gegen den Braunkohleabbau unter Lützerath belegen, dass die privatwirtschaftliche Nutzung und Verwertung fossiler Energien zugunsten privater (Rekord-)Gewinne in Zeiten der Klima- und Energiekrise zunehmend auf Ablehnung stößt. Vermehrt werden daher auch Forderungen laut, private Profitinteressen aus den Entscheidungsprozessen auszuschließen und den gewonnenen Entscheidungsraum mit demokratisch legitimierter und gemeinwohlorientierter Unternehmenspolitik zu füllen.
Continue reading >>Nicht tragfähig begründbar
Wenig überraschend hat das Bundesverfassungsgericht die sog. Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für verfassungswidrig erklärt. Es knüpft an seine vor allem seit 2010 entwickelte Rechtsprechungslinie an und lässt die Absenkung von Leistungen wie bei den Sanktionen 2019 an fehlenden Erkenntnissen des Gesetzgebers scheitern.
Continue reading >>Die umweltrechtliche Verbandsklage lernt Auto fahren
Der Europäische Gerichtshof hat in der causa Klagebefugnis von Umweltverbänden (wieder einmal) gesprochen. Anerkannten Umweltverbänden darf es demnach nicht unmöglich gemacht werden, EG-Typgenehmigungen des Kraftfahrtbundesamtes gerichtlich überprüfen zu lassen. Das Urteil lehrte der umweltrechtlichen Verbandsklage nun das Autofahren, bereitet ihr aber gleichzeitig den weiteren Weg des Erwachsenwerdens. Denn im Besonderen hat der Gerichtshof über die Justiziabilität der Genehmigung von knapp fünf Millionen Fahrzeugen entschieden. Im Allgemeinen aber über die Justiziabilität sämtlicher staatlicher Entscheidungen, die möglicherweise gegen Umweltrecht verstoßen.
Continue reading >>Wo ein Kläger, da kein Richter?
Nicht viele bayerische Verwaltungsvorschriften dürften es zu einem langen Beitrag auf den vorderen Seiten der New York Times geschafft haben. So widerfuhr es vor einigen Monaten jedoch § 28 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern (AGO): „Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“ heißt es dort seit einem Beschluss des Ministerrats vom April 2018.
Continue reading >>Verstößt die Energiekostenpauschale gegen den Gleichheitssatz?
Um die Energieversorgung sicherzustellen und bei steigenden Energiepreisen die Bevölkerung zu entlasten, entschließt sich die Bundesregierung zu immer neuen Maßnahmen. Zu diesen Entlastungsmaßnahmen gehört die Ende Mai vom Gesetzgeber verabschiedete Energiepreispauschale, die über den Arbeitgeber an Arbeitnehmer:innen ausgezahlt wird. Im Umkehrschluss sind davon alle Personen ausgenommen, die nicht über Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen.
Continue reading >>Missbrauchsunabhängige Entflechtung – verfassungswidriger Kartellrechtspopulismus oder sinnvolle Ultima Ratio?
Nach Veröffentlichung ministerieller Pläne zu möglichen Gesetzesänderungen kommt es häufig vor, dass sich Rechtswissenschaftler*innen rasch mit konträren Positionen zu Wort melden. Wenn die Vorschläge zwei Rechtsgebiete betreffen, umso mehr. Seltener ist es, dass die Rechtswissenschaflter*innen mit einer einschlägigen Spezialisierung streiten und die mit einer anderen Spezialisierung schweigen. Diese Situation ergab sich jetzt im Juni 2022. Was war geschehen?
Continue reading >>Peace and Security for Ukraine and Europe are not Created on the Drawing Board of the West
Viewing Ukraine as an object rather than a subject of negotiations is not an unfamiliar pattern of international security policy. It goes hand in hand with the dangerous tendency to turn Russia’s ‘Near Abroad’ ultimately into a ‘buffer zone’ even in Western political and academic discourses. This pattern has been at work in the course of the annexation of Crimea and the armed conflict in Donbas over the past eight years.
Continue reading >>Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens
Der Kreml ist nicht voller Raumtheoretiker und ‚Schmittianer‘ und auch nicht voller beleidigter Geopolitiker mit einer „Russian Angst“-Neurose vor der Erweiterung der NATO. Der russische Staat unter der aktuellen Führung produziert und assimiliert Konzepte und Ideen, die seinen Zielen und seiner tatsächlichen oder angestrebten Stellung innerhalb der regionalen und globalen Ordnung entsprechen. Rechtliche und politische Konzepte in Bezug auf Raum, Souveränität, territoriale Grenzen und Staatsbürgerschaft sind dabei zentrale Themen.
Continue reading >>Passportization
Putin’s alleged arguments to conduct a “special military operation” to “demilitarise and denazify” Ukraine revolve around protecting the people of the Donbas, including citizens of the Russian Federation, “facing humiliation and genocide.” One of the tools Russia used to justify its political and military engagement in the post-Soviet space has been passportization. This policy effectively created Russian citizens in the contested territories of neighbouring states in the context of protracted conflicts of secession. Just as in Georgia, passportization worked as a tool of interference with Ukrainian sovereignty.
Continue reading >>Whatever it takes II?
Mit der Debatte über die Impfpflicht ist es in Deutschland wie mit dem Virus: Sie entwickelt immer neue Varianten. Bis Mitte November 2021 waren praktisch alle dagegen, dann dauerte es nur wenige Tage, und plötzlich waren unter dem Eindruck der vor allem durch die ungeimpften Teile der Bevölkerung rauschenden Delta-Variante ganz viele dafür. Und jetzt?
Continue reading >>Sollten Impfunwillige im Triage-Fall nachrangig behandelt werden? Teil III
Das abstrakte Prinzip, es sei gerecht, dass jedermann die Konsequenzen seiner freien und eigenverantwortlichen Entscheidungen selbst zu tragen hat, klingt an sich nicht unplausibel. Jedenfalls fallen einem leicht Umstände ein, in denen man das Prinzip gern in Anspruch nehmen würde. Der Fall eines Impfunwilligen, der auf die Intensivstation eingewiesen wird, ist dazu aus mehreren Gründen nicht analog.
Continue reading >>Sollten Impfunwillige im Triage-Fall nachrangig behandelt werden? Teil II
Kann es ein Argument sein, Ungeimpfte in der Corona-Triage zurückzustellen, weil sie sonst wegen ihrer langen Inanspruchnahme von Intensivpflege gegenüber anderen Patienten "bevorzugt" werden? Eine Klärung der Diskurslage zu dieser "Bevorzugungsthese" ist nicht trivial, was heißt: Es sind nicht nur Missverständnisse am Werk.
Continue reading >>Bayern first, Deutschland second?
Wieso nicht eine allgemeine Impfpflicht auf Länderebene? Nicht zuletzt die großen Unterschiede hinsichtlich der Impfquoten zwischen den einzelnen Bundesländern legen das nahe, selbst wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann die Verantwortung hierfür dem Bund zuweist. Kompetenzrechtlich wäre es jedenfalls möglich, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn der Bund eine partielle Impfpflicht einführt.
Continue reading >>Sollten Impfunwillige im Triage-Fall nachrangig behandelt werden? Teil 1
Der Vorschlag, Impfunwillige im Triage-Fall zurückzustellen, verschafft sich zunehmend Gehör. Das Tabu verliert an Wirkung – auch in der Rechtswissenschaft. Tabus, die als solche angesprochen und kommentiert werden, haben schon an Kraft verloren. Mit der Warnung vor Tabubrüchen kann man sie nicht mehr stabilisieren, auch nicht mit empörten Reaktionen. Diskutieren wir also über das Thema.
Continue reading >>Pandemiepolitik On Fire?
Franz Mayer hat auf diesem Blog das erste Gesetzgebungsprojekt der Ampel durchaus rustikal kritisiert. Mit der geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes werfe die Feuerwehr „mitten im Einsatz Teile ihrer Ausrüstung ins Feuer“. Wer an effektiver Brandbekämpfung interessiert ist, muss zunächst beeindruckt sein. Dennoch würde ich der rot-grün-gelben Feuerwache, lieber Franz, gerne einen gemeinsamen Kurzbesuch abstatten. Dort würden wir gemeinsam nicht nur neue, bessere Ausrüstung vorfinden, die aufgrund der Erfahrungen mit der Brandbekämpfung in der Vergangenheit angeschafft worden ist, sondern auch die alte Ausrüstung, die mitnichten verbrannt wurde, sondern griffbereit in den Feuerwehrfahrzeugen liegt
Continue reading >>Epidemie ohne epidemische Lage
In der Gewissheit, bald von der Last des Amts befreit zu sein, macht sich jetzt auch der Bundesminister für Gesundheit locker. Der Bundestag solle die bis zum 25.11.2021 wirksame Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ nicht mehr verlängern, genauer gesagt: ihr Fortbestehen nicht noch einmal feststellen. Wird also der 26.11.2021 zum Freedom Day?
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