Spießrutenlauf für Schwangere
Sind Versammlungen von Abtreibungsgegner:innen vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zumutbar?
In Baden-Württemberg dürfen sich Abtreibungsgegner:innen vor einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle versammeln, solange sie sich deren Besucher:innen nicht „unausweichlich“ in den Weg stellen. Das hat der dortige Verwaltungsgerichtshof (VGH) mit Urteil vom 25. August 2022 entschieden und damit in zweiter Instanz eine Auflage der Stadt Pforzheim für rechtswidrig erklärt, die eine Versammlung nur außerhalb direkter Sichtbeziehung zur Beratungsstelle pro familia zuließ.
Damit verkennt der VGH, welche Bedeutung dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der ungeplant Schwangeren zukommt. Weil deren Intimsphäre vor Beratungsstellen in der Regel unmittelbar gefährdet ist, sind staatliche Schutzmaßnahmen rechtmäßig, wenn nicht sogar rechtspolitisch erforderlich: So will die Ampel-Regierung sog. Gehsteigbelästigungen „wirksame gesetzliche Maßnahmen“ entgegensetzen (S. 116), was auch den jüngsten Empfehlungen des Europarats entspricht. Sog. buffer zones (Bannmeilen) sichern u.a. in den USA, Australien, Neuseeland, Spanien, Nordirland und Kanada schon heute den Zugang zu Beratungsstellen und zu Einrichtungen, die Abbrüche vornehmen.
Im Lichte der Versammlungsfreiheit ist eine pauschale ortbezogene Untersagung von Versammlungen durchaus kritisch zu prüfen. Denn die Versammlungen können unterschiedliche Formen annehmen. Mal singen und beten die Abtreibungsgegner:innen, häufig jedoch mit (schockierenden) Plakaten, teilweise werden Frauen direkt angesprochen, beschimpft oder gar mit Schockfotos und Plastik-Embryonen belästigt.
„40 Days For Life“
Anlass des VGH-Urteils waren Versammlungsauflagen der Stadt Pforzheim: Während der Fastenzeit 2019 planten Abtreibungsgegner:innen, sich zu einem „stillen Gebetsvigil“ 40 Tage lang für mehrere Stunden vor der Beratungsstelle zu versammeln. Die 20 Teilnehmenden wollten Besucher:innen nicht aktiv ansprechen, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, singen, beten und Plakate hochhalten. Dahinter steht die US-amerikanische christliche Organisation „40 Days For Life“, die inzwischen international Anti-Abtreibungsproteste koordiniert. Erklärtes Ziel ist es, Beratungsstellen und Abtreibungskliniken zu schließen und Abbrüche zu verhindern. Die Stadt Pforzheim hatte allerdings schon 2018 Erfahrungen mit „40 Days For Life“ gemacht. Damals haben sich Frauen beschwert, die sich von den Abtreibungsgegner:innen belästigt, eingeschüchtert und bedrängt fühlten. Zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Besucher:innen ordnete die Stadt deshalb an, die Versammlung 2019 zeitlich und örtlich zu verlegen.
Dagegen klagte die Versammlungsleiterin vor dem VG Karlsruhe. Sie hielt die Auflage insbesondere deshalb für rechtswidrig, weil die vermeintlichen Belästigungen auf bloßen Vermutungen beruhten. Die Versammlung sei im Vorjahr friedlich abgelaufen und ohnehin örtlich und akustisch von der Beratungsstelle getrennt. Zudem ziele die Versammlung nicht darauf ab, Frauen anzuprangern, sondern solle nur einen Beitrag zur öffentlichen Abtreibungsdebatte leisten.
Das überzeugte das VG Karlsruhe sowohl im Eil- als auch im Hauptsacheverfahren nicht. Mit Urteil vom 12.5.2021 wies das Gericht die Klage ab, weil es die öffentliche Sicherheit durch die Versammlung gleich doppelt gefährdet sah. Erstens sei mit dem Persönlichkeitsrecht der Schwangeren ein subjektives Rechtsgut gefährdet; zweitens sei das Beratungskonzept des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) und damit die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung nachhaltig beeinträchtigt.
Die öffentliche Sicherheit als Spießrutenlauf
Der VGH sah das nun anders und gab der Berufung der Klägerin statt. Insbesondere hielt er den Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren für gerechtfertigt. Zwar könne das Persönlichkeitsrecht bereits betroffen sein, wenn die Versammlung „psychischen Druck“ ausübe, ohne die Frauen direkt anzusprechen. Bei der konkreten Versammlung überwiege jedoch die „durch die Meinungs- und Religionsfreiheit unterstützte[n] Versammlungsfreiheit“. Es sei nämlich davon auszugehen, dass eine Versammlung so lange zulässig ist, wie sie nicht „zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf“ für die Schwangeren führt. Ein solcher Spießrutenlauf soll bei einer „unausweichliche[n] Situation“ vorliegen, d.h. „wenn die Versammlung so nahe an dem Eingang der Beratungsstelle stattfindet, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate sowie Parolen und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt sind“ (Rn. 57). Damit zitiert der VGH den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, der im März 2022 die Frankfurter „40 Tage für das Leben“ nach diesen Maßstäben für zulässig hielt.
Der „Spießrutenlauf“ soll also den Punkt markieren, ab dem die Grundrechtswaage in Richtung Persönlichkeitsrecht umschlägt. Ein untauglicher Kipppunkt: Die Vokabel stammt aus einer Entscheidung des BVerfG, in der es um Protest vor einer Arztpraxis ging. Betroffen war dort in erster Linie das Persönlichkeitsrecht des Arztes, der dort Abbrüche durchführte – nicht das der ungeplant Schwangeren. Nur in einem obiter dictum setzte sich das BVerfG damals mit deren Grundrechten auseinander: „Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, [könnten] sich durch dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen“. Weil die Meinungsfreiheit nicht das Aufdrängen von Meinungen schütze, könne ein solcher Spießrutenlauf „im Einzelfall ein verfassungsrechtlich tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen“ rechtfertigen. Allein der Wortlaut macht deutlich, dass die vom BVerfG skizzierten Umstände nur hinreichende, nicht jedoch notwendige Bedingungen für ein verfassungsmäßiges Verbot im Einzelfall sind. Maßgeblich ist allein, ob die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist – und die schützt eben nicht nur vor Spießrutenläufen. In diesem Sinne argumentierte auch das VG Freiburg, dass „der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Spießrutenlauf nicht die unterste Grenze“ für ein behördliches Einschreiten markiere, und hielt die dort streitgegenständliche Gehsteigberatung für unzulässig.
Anders nun die Einschätzung des VGH zur Pforzheimer Versammlung: Dort wären die Schwangeren nicht in eine unausweichliche Situation geraten, weil sich zwischen ihnen und den Abtreibungsgegner:innen eine 17 m breite Straße befunden hätte. Jedenfalls hätten die Frauen der Versammlung entkommen können, indem sie die Straßenseite wechseln oder den Blick abwenden (Rn. 58). Die Situation sei also nicht unausweichlich – kein „Spießrutenlauf“ – und die Auflage deshalb rechtswidrig.
Der Abwägung ausgewichen
Indem der VGH seine Prüfung derart auf den „Spießrutenlauf“ verkürzt, bleiben wesentliche Gesichtspunkte der grundrechtlich gebotenen Abwägung auf der Strecke.
So stellt der VGH schon nicht fest, welche Sphäre des allgemeinen Persönlichkeitsrechts überhaupt betroffen ist. Während die Versammlungsleiterin bloß die Sozialsphäre berührt sieht (Rn. 23), ordnet das BVerfG die Schwangerschaft zu Recht der Intimsphäre zu, was bekanntermaßen die Rechtfertigungsanforderungen erhöht. Dies muss umso mehr im ersten Schwangerschaftsdrittel gelten, wenn die Schwangerschaft nach außen noch nicht sichtbar ist. Der VGH thematisiert zwar die „besondere[n] psychische[n] Belastungssituation“ und den „höchstpersönlichen Konflikt“ (Rn. 55) der Schwangeren, zieht daraus jedoch keine Konsequenz für die anschließende Rechtfertigung.
Ebenfalls unbeantwortet bleibt, welchen inhärenten Ortsbezug der Versammlungszweck hat. Das ist erstaunlich, ging es doch gerade um die Rechtmäßigkeit einer örtlichen Verlegung. So argumentierte das VG Karlsruhe in der Vorinstanz deutlich, dass der Ort hier „bewusst als Mittel zum Zweck eingesetzt“ werde, weil es gerade darum ginge, auf die ungeplant Schwangeren (unzulässig) einzuwirken. Wollte die Versammlungsleiterin tatsächlich nur „ihren Standpunkt in der Abtreibungsfrage zum Ausdruck“ bringen (Rn. 12), wie sie in erster Instanz behauptete, dann ist sie gerade nicht an einen speziellen Ort gebunden. Im Berufungsverfahren trug die Klägerin ergänzend vor, dass die Beratungsstelle „aufgrund der symbolträchtigen Wirkung als Versammlungsort ausgewählt worden“ sei (Rn. 23). Doch was genau die Beratungsstelle symbolisieren soll – und wie schützenswert eine etwaige Symbolwirkung angesichts des Eingriffs in die Intimsphäre ist – diskutiert der VGH nicht.
Bemerkenswert ist auch, dass sich der VGH nicht mit der außergewöhnlich langen Dauer der Versammlung auseinandersetzt. Während das VG Karlsruhe der 40-tägigen Dauer „ganz besondere Bedeutung“ zumaß, weil die Versammlung „damit in gewisser Weise ein dauerhaftes Ausgesetztsein der betroffenen Frauen“ bewirke, stellt der VGH primär auf räumliche Kriterien ab, insbesondere auf die Straße zwischen Demo und Beratungsstelle. Zeit spielt im Schwangerschaftskonflikt jedoch eine entscheidende Rolle: Nur innerhalb von 12 Wochen kann der Abbruch straffrei sein – und nur, wenn sich die Schwangere mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer staatlich anerkannten Stelle beraten ließ (§ 218 a Abs. 1 StGB). Wird vor der Beratungsstelle 40 Tage lang protestiert, können Frauen von der zeitkritischen Pflichtberatung abgehalten werden, selbst wenn der Protest auf der anderen Straßenseite stattfindet. Wie der Australian High Court in einem ähnlichen Fall treffend formuliert: „[S]ilent but reproachful observance of persons accessing a clinic for the purpose of terminating a pregnancy may be as effective, as a means of deterring them from doing so, as more boisterous demonstrations“. In diesem Zusammenhang lässt der VGH auch unter den Tisch fallen, dass pro familia die einzige konfessionslose Beratungsstelle in Pforzheim ist (daneben gibt es nur noch eine Beratungsstelle der Diakonie). Eine Dauerversammlung wirkt sich deshalb auch empfindlich auf das Recht der Schwangeren aus, unter einem pluralen wohnortnahen Angebot die für sie passende Beratungsstelle auszuwählen (§ 8 S. 1 SchKG). So gefährdet die Versammlung auch das gesetzliche Beratungskonzept, das der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben dient und Teil der öffentlichen Sicherheit ist.
Einfach den Blick abwenden?
Besonders irritierend ist jedoch das Argument, dass insbesondere deshalb keine „unausweichliche Situation“ vorliege, weil „die Frauen der Versammlung und den dort geäußerten Auffassungen durch einen Wechsel der Straßenseite und ein Abwenden des Blickes“ entziehen könnten. Das ist umso zynischer, weil es sich bei der Schwangerschaftskonfliktberatung um eine Pflichtberatung handelt. Der Staat verpflichtet die Schwangere also zu einer Beratung, um ihr in einer Not- und Konfliktlage zu helfen (§ 219 Abs. 1 S. 4 StGB) – lässt sie dann aber allein, wenn sie auf dem Weg dorthin zusätzlicher Belastung ausgesetzt wird. Stattdessen müssten die Anforderungen an die Rechtfertigung besonders hoch sein, wenn wegen einer gesetzlichen Pflicht intimste Lebensfragen in den außerhäuslichen Bereich gezerrt werden.
Wenn es um Protest von Abtreibungsgegner:innen vor Beratungsstellen geht, sind sich nicht nur die Gerichte uneins – auch die Behörden sind in der Praxis oft verunsichert. Hier streiten auf beiden Seiten gewichtige Grundrechte. Doch weil sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Handhabung etwas sperrig anfühlen kann, geben die Versammlungsbehörden eher ihrem Brot-und-Butter-Grundrecht den Vorrang. Das ist mit Blick auf die Intimsphäre der Schwangeren in der Regel nicht hinnehmbar. Um ungeplant Schwangere in ihrem höchstpersönlichen Konflikt angemessen zu schützen, braucht es deshalb dringend eine gesetzliche Regelung. Die Ampel-Koalition hat bei reproduktiven Rechten in kurzer Zeit viel angestoßen. Bevor sie die große Frage der (Neu-)Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs beantwortet, könnte sie damit anfangen, überhaupt den Weg zu Beratungsstellen freizumachen.