Sport, Spiel und Schiedszwang
Zum Pechstein-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Claudia Pechstein hat vor dem BVerfG (1 BvR 2103/16) einen Zwischenerfolg erzielt, in der Sprache des Sports könnte man sagen, sie ist wieder im Spiel. Bei Claudia Pechstein waren bei Weltmeisterschaften im Eisschnelllauf 2009 in Norwegen erhöhte Blutwerte nachgewiesen worden, die International Skating Union (ISU) verhängte auf dieser Grundlage eine zweijährige Sperre. Pechstein rief daraufhin den Court of Arbitration for Sport (CAS) an und scheiterte dort. Zwei Verfahren vor dem Schweizerischen Bundesgericht blieben erfolglos, der Schiedsspruch war damit rechtskräftig. Dann kam die überraschende Wende: Pechstein verlangte trotz der rechtskräftigen Verfahren in der Schweiz in Deutschland von der International Skating Union (ISU) Schadensersatz, weil sie aus ihrer Sicht zu Unrecht für zwei Jahre wegen Dopings gesperrt worden war.
Ihr Weg hat sie seit 2009 jedoch nicht nur durch die Schweiz und Deutschland, sondern auch vor den EGMR und nun zum BVerfG geführt. Zwischenzeitlich hatte sie 2022 mit 49 Jahren an ihren 8. Olympischen Spielen teilgenommen und war 2021 mit einer Kandidatur für den deutschen Bundestag an Gregor Gysi gescheitert. Dass Pechstein ihre Rechte so vehement und mit enormer Ausdauer verteidigt, ist ihr gutes Recht.
Der Versuch, dabei auch die gesamte Konstruktion internationaler Sportschiedsgerichtsbarkeit zu zerstören, ist jetzt aber endgültig gescheitert.
Das BVerfG sieht Pechstein durch das Urteil des BGH aus dem Jahre 2016 in ihrem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Justizgewährleistungsanspruch verletzt. Der BGH habe die Bedeutung des Anspruchs auf Öffentlichkeit des Verfahrens verkannt. Der Kartellsenat des BGH hatte keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darin sehen, dass ein Sportverband die Teilnahme eines Athleten an einem Wettkampf von der Unterzeichnung einer Schiedsvereinbarung abhängig macht, die gemäß den Anti-Doping-Regeln den CAS als Schiedsgericht vorsehe. Die Verfahrensordnung des CAS enthalte ausreichende Garantien für die Wahrung der Rechte der Athleten.
Im Rahmen der Prüfung, ob die Schiedsabrede gemäß § 19 GWB unwirksam ist, hatte der BGH zwar durchaus den in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Justizgewähranspruch Pechsteins in Betracht gezogen. Er habe aber – so jetzt das BVerfG – nicht berücksichtigt, dass die Statuten des CAS keinen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung vorsahen, die die Beschwerdeführerin erfolglos beantragt hatte. Daher habe der BGH den Gewährleistungsgehalt des Justizgewährleistungsanspruchs Pechsteins nicht mit dessen vollem Gewicht in die Abwägung eingestellt. Diese Abwägung soll das OLG München nun nachholen.
Die eigentliche Frage des Pechstein Verfahrens war aber gar nicht die Frage der Notwendigkeit mündlicher Verhandlungen vor einem Schiedsgericht, sondern die, ob die zwangsweise Etablierung von Schiedsgerichten im internationalen Sport überhaupt möglich ist.
Das Urteil des BVerfG gibt einige für die internationale Sportorganisation wichtige Antworten, betont zum Teil verfassungsrechtlich Selbstverständliches, wirft aber schiedsverfahrensrechtlich doch einige Fragen auf.
Aufoktroyierte Schiedsvereinbarungen im Sport sind grundsätzlich zulässig
Zunächst wiederholt das BVerfG seine auch in weiten Teilen der Literatur geteilte Meinung, dass weder der allgemeine Justizgewährungsanspruch noch Art. 92 GG ein Verbot privater Schiedsgerichtsbarkeit enthalten. Diese sei in der Vertragsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verankert.
Dann aber folgt eine Aussage, die man in Deutschland durchaus als historisch ansehen darf und die für die Zukunft Rechtssicherheit gewährleistet. Schiedsvereinbarungen im Sport seien zur Gewährleistung einer international einheitlichen Sportgerichtsbarkeit und zur Bekämpfung des Dopings im internationalen Sportwettbewerb, auch in Ansehung der sich aus Art. 13.2.1 des World-Anti-Doping-Codes (WADC) ergebenden völkerrechtlichen Bindungen, erforderlich und als solche verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Diese Einschätzung hatte schon dem Urteil des OLG München, später dem des BGH zugrunde gelegen und war der Grund, warum der Gesetzgeber genau dies 2015 in § 11 AntidopingG fixiert hatte:
„Sportverbände und Sportlerinnen und Sportler können als Voraussetzung der Teilnahme von Sportlerinnen und Sportlern an der organisierten Sportausübung Schiedsvereinbarungen über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten mit Bezug auf diese Teilnahme schließen, wenn die Schiedsvereinbarungen die Sportverbände und Sportlerinnen und Sportler in die nationalen oder internationalen Sportorganisationen einbinden und die organisierte Sportausübung insgesamt ermöglichen, fördern oder sichern. Das ist insbesondere der Fall, wenn mit den Schiedsvereinbarungen die Vorgaben des Welt Anti-Doping Codes der Welt Anti-Doping Agentur umgesetzt werden sollen.“
Das BVerfG ordnet die Notwendigkeit der Unterzeichnung einer Schiedsvereinbarung, um am internationalen Sport teilzunehmen, zu Recht als faktischen Schiedszwang ein. Der BGH hatte dies merkwürdig anders gesehen: Pechstein habe die Schiedsvereinbarung freiwillig unterschrieben, obwohl sie ohne Unterzeichnung nicht an der WM hätte teilnehmen können. Sie habe insofern aber „fremdbestimmt“ gehandelt. Diese merkwürdige Eigenkreation einer Definition des Begriffs Zwang des BGH ist jetzt vom Tisch. Es liegt Schiedszwang vor – es geht nur darum, ob man diesen rechtfertigen kann.
Verfassungsrechtliche Anforderungen an oktroyierte Schiedsvereinbarungen
Ein Verzicht auf den Zugang zu den staatlichen Gerichten durch Abschluss einer Schiedsvereinbarung im Bereich des Sports sei nicht uneingeschränkt möglich. Damit der Staat schiedsrichterliche Entscheidungen anerkennen und vollstrecken könne, müsse er dafür Sorge tragen, dass das schiedsrichterliche Verfahren effektiven Rechtsschutz gewährleistet und rechtsstaatlichen Mindeststandards entspricht. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass die Sportler keine andere Wahl hätten, als die Schiedsvereinbarung zu unterschreiben, um am organisierten Sportbetrieb teilzunehmen. Wenn einer der beiden Vertragspartner ein solches Gewicht habe, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt.
So richtig das ist, so selbstverständlich sollte das sein. Schiedsvereinbarungen im Sport dürfen nur zur Sicherung einheitlicher Rechtsanwendung genutzt werden, nicht aber, um verfassungsrechtlich verbürgte Rechte der Sportler zu beschneiden.
Offene Fragen
Darüber hinaus stellen sich nach dem Urteil des BVerfG auch einige schwer zu beantwortenden Fragen. Dass diese durch das Urteil nicht beantwortet sind, hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass die Verfassungsbeschwerde Pechsteins seit Jahren beim BVerfG anhängig war und nun kurz vor dem Ende der Amtszeit des Richters Paulus noch beschieden wurde.
Die Verfahrensordnung des CAS hatte im Streit um die Wirksamkeit der Dopingsperre keine Möglichkeit vorgesehen, dass die mündliche Verhandlung öffentlich durchgeführt wurde. Der EGMR urteilte dann 2018, dass dies ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK dargestellt habe. Bei unfreiwilligen Schiedsvereinbarungen müssten alle Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK eingehalten werden, eine Aussage, der sich jetzt das BVerfG anschloss. Bis dahin gingen viele davon aus, dass die Vertraulichkeit der Verfahren der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit auch auf Sportschiedsverfahren ausgedehnt werden könne. Der CAS hat dann seine Verfahrensordnung geändert, das Sportschiedsgericht der DIS ebenso.
Der EGMR hat die Schweiz daher zur Zahlung von Schadensersatz an Claudia Pechstein verurteilt, aber nicht den Schluss gezogen, dass die Schiedsvereinbarung deshalb unwirksam ist.
Dass eine (verfassungsrechtlich) unzulässige Verfahrensvorschrift dazu führen kann, dass eine Schiedsvereinbarung unwirksam ist, ist dogmatisch zunächst relativ schwer zu begründen: Im Schiedsverfahrensrecht werden die Ebenen der Schiedsvereinbarung, des Schiedsverfahrens und des Schiedsspruchs streng getrennt. Würde man die Trennung derart konsequent beachten, könnte eine unwirksame Verfahrensvorschrift nie zu einer unwirksamen Schiedsvereinbarung führen. Das aber kann nicht richtig sein. In der Einredesituation vor einem staatlichen Gericht muss der Richter die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung prüfen. Dabei kann er durchaus auch die Verfahrensordnung berücksichtigen und muss bei eklatanten Mängeln, die von vornherein ein rechtsstaatliches Verfahren ausschließen, selbst Rechtsschutz gewähren und darf die Parteien nicht auf das schiedsrichterliche Verfahren verweisen. Dass mag der Dogmatik des Schiedsrechts nicht entsprechen, ist aber richtig.
Es stellt sich aber die Frage, wie sich der Verstoß des CAS Schiedsspruchs heute im Rahmen der in Deutschland geführten Schadensersatzklage auswirkt. Heute besteht in der Verfahrensordnung des CAS grundsätzlich ein Anspruch der Sportler, dass in öffentlicher mündlicher Verhandlung verhandelt wird.
Wenn man akzeptiert, dass die Entscheidung des CAS an diesem Mangel leidet, dann kann man die Anerkennung des Schiedsspruchs verweigern, weil dieser gegen den ordre public verstößt. Aber darum geht es derzeit gar nicht. Es geht derzeit und in Zukunft vor dem OLG München nur um die Frage, ob staatliche Gerichte oder der CAS für die Schadensersatzklage Pechsteins zuständig sind. In dieser Situation muss das Gericht die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung prüfen und die Schiedsvereinbarung (vorausgesetzt es gibt sie noch, dazu sogleich) leidet heute nicht mehr am Fehlen eines Anspruchs auf eine öffentliche mündliche Verhandlung. Sie ist insofern dynamisch.
Zu einem anderen Ergebnis kann man nur kommen, wenn man der Ansicht ist, die Schiedsvereinbarung sei von Anfang an unwirksam gewesen oder sei es durch das Urteil des EGMR nachträglich geworden. Im ersten Fall muss man bedenken, dass es zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, ob Sportler vor einem Zwangsschiedsgericht einen Anspruch auf eine öffentliche mündliche Verhandlung haben. Im zweiten Fall müsste man versuchen, dies dogmatisch zu begründen, das aber fällt schwer.
Ginge man davon aus, dass die Schiedsvereinbarung noch besteht, so müsste das OLG München Pechstein an den CAS verweisen, damit über ihre Schadensersatzklage entschieden wird.
Das BVerfG hat sich weitestgehend an der Entscheidung des EGMR orientiert und insofern an einem internationalen Entscheidungseinklang mitgewirkt. Es hat erstmals als deutsches Verfassungsgericht die Notwendigkeit anerkannt, im internationalen Sport eine einheitliche Sportgerichtsbarkeit auch mit Hilfe von Zwang zu etablieren. Dabei müssen jedoch die Rechte der Sportler effektiv gesichert werden.
Mit dieser wichtigen Entscheidung vermeidet das BVerfG eine Nationalisierung globaler Sachverhalte, die die Einheitlichkeit der globalen Sportausübung beendet hätte.
Frau Pechstein hatte in ihrer Verfassungsbeschwerde auch die Auswahl von Richtern des CAS angegriffen. Das BVerfG hat dazu in der Rn. 53 des Beschlusses ausgeführt:
6. Auf die weitere Frage, ob ein strukturelles Übergewicht der Verbände insbesondere bei der Benennung der „neutralen“ dritten Schiedsrichterperson ebenfalls gegen den Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verstößt, der insoweit über die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hinausgehen kann (Art. 53 EMRK; vgl. dazu BVerfGE 128, 326 – Sicherungsverwahrung II; 148, 296 – Streikverbot für Beamte), kommt es angesichts der Nichtigkeit der Schiedsvereinbarung wegen mangelnder Öffentlichkeit nicht mehr an. Es gehört jedoch zum Wesen der richterlichen Tätigkeit, dass sie von einem nichtbeteiligten Dritten ausgeübt wird; dies erfordert Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet, dass der Einzelne im konkreten Fall vor einem Richter steht, der diese Voraussetzungen erfüllt (vgl. BVerfGE 3, 377 ; 4, 331 ; 14, 56 ; 21, 139 ; 82, 286 ; 89, 28 ; 148, 69 ). Diese Grundsätze sind auch bei der Ausgestaltung eines nationalen oder internationalen Schiedsverfahrens zu gewährleisten, das den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen gerecht werden muss, um den Rechtsschutz vor den ordentlichen nationalen Gerichten ausschließen oder einschränken zu können.