Sternstunde innerparteilicher Demokratie? Gedanken zur „offenen“ Wahl der nächsten CDU-Parteivorsitzenden
Auf ihrem Bundesparteitag Ende der Woche wählt die CDU einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende. Dabei treten mindestens fünf Kandidaten an. Dies ist ein Novum in der Historie der Partei. Bisher gab es erst zweimal überhaupt eine Kampfabstimmung. Beim ersten Parteitag der CDU 1951 in Goslar traten die Herren Kaiser, Holzapfel und Arnold gegen Konrad Adenauer an, der deutlich mit 97,4 % der Delegiertenstimmen zum ersten Bundesvorsitzenden der CDU gewählt wurde. 1971 in Saarbrücken setzte sich Rainer Barzel mit 66,4 % der Stimmen gegen Helmut Kohl durch. Jenseits dieser Ausnahmen bescherten die Delegierten den alleinigen Bewerbern um den Bundesvorsitz der CDU regelmäßig traumhafte Ergebnisse von über 90 %; Adenauer schaffte es gar drei Mal hintereinander, alle Stimmen der Delegierten auf sich zu vereinen. So galten die 88,4 %, die Angela Merkel auf dem Bundesparteitag in Düsseldorf 2004 erreichte, vielen Beobachtern schon als „enttäuschendes Ergebnis“. Dies brachte der CDU auch den Spitznamen „Kanzler(innen)wahlverein“ ein.
Nun also bewerben sich mindestens fünf Mitglieder um den Vorsitz der CDU, und auf dem Parteitag am 7./8. Dezember 2018 in Hamburg könnten es sogar noch mehr werden. Diese fünf sind jedenfalls öffentlich bekannt: Jan-Philipp Knoop, Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz, Andreas Ritzenhoff und Jens Spahn. Drei dieser Kandidaten durften sich auf Regionalkonferenzen der Parteibasis vorstellen, die anderen nicht. Wie ist also diese neu entdeckte Auswahlfreude zu bewerten? Erlebt die CDU und wir mit ihr eine Sternstunde der Demokratie?
Die Grundlagen innerparteilicher Demokratie
Das Grundgesetz verpflichtet die politischen Parteien in Art. 21 Abs. 1 S. 3 auf innerparteiliche Demokratie: „Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“ Was genau „demokratische Grundsätze“ meint, ist Gegenstand eines akademischen Streites, der schon lange schwelt. Die einen beziehen sich für die Definition auf das Demokratieprinzip aus Art. 20 GG, während die anderen postulieren, Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG liege ein eigener Demokratiebegriff zugrunde. Einigkeit besteht jedenfalls dahingehend, dass es Mindestanforderungen an die innerparteiliche Organisation gibt, die erfüllt sein müssen: Dazu gehört zuvörderst, dass die Willensbildung in den politischen Parteien sich „von unten nach oben“ vollziehen muss, wie es das Bundesverfassungsgericht schon 1952 feststellte. Die binnenorganisatorischen Willensbildungsprozesse müssen für die Mitglieder transparent ausgestaltet sein; die Mitglieder sind darüber hinaus ausreichend zu unterrichten, so dass sie in die Lage versetzt werden, informierte Entscheidungen zu treffen. Zumindest auf einer Gliederungsebene müssen Parteimitglieder auch die Möglichkeit haben, an Entscheidungen der politischen Partei partizipieren zu können. Dies wird meist durch Mitgliederversammlungen auf lokaler Ebene gewährleistet. Schließlich müssen Parteiämter per Mehrheitsbeschluss einer Parteiversammlung besetzt werden; und auf diesen Versammlungen muss es den Mitgliedern möglich sein, aus ihrer Mitte Vorschläge einzubringen.
Wie die Parteien aber ihre internen Prozesse und Verfahren ausgestalten, muss ihnen überlassen bleiben. Das verlangt schon der Grundsatz der Freiheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, der auch die innere Freiheit umfasst und damit in einen schonenden Ausgleich mit dem Gebot der innerparteilichen Demokratie zu bringen ist.
(K)eine Gewissensentscheidung: Woran sind Delegierte eigentlich gebunden?
Das Gebot innerparteilicher Demokratie wird sodann im Parteiengesetz konkretisiert: § 9 Abs. 4 bestimmt, dass der Parteitag den Parteivorstand und insbesondere auch ihren Vorsitzenden oder ihre Vorsitzende wählt. Deshalb wäre hier etwa auch eine Urwahl, wie sie etwa SPD und Grüne für die Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl vorsehen, nicht möglich. Letztlich bestimmen die Parteien in ihren Satzungen, wie die Delegierten für die Parteitage bestimmt werden und wie viele es gibt. sind aber alle Delegierte auf den Parteitagen von einer Untergliederung der Partei oder einer Vereinigung entsandt. So überrascht es nicht, dass sich zahlreiche Verbände und Untergliederungen der CDU zu ihren präferierten Kandidaten im Vorfeld des Parteitages in Hamburg geäußert haben. Die CDU Saar und die Frauen-Union sprachen sich für Annegret Kramp-Karrenbauer aus, der Wirtschaftsrat der CDU und der Berliner Kreis machen für Friedrich Merz Werbung. Die Junge Union Hessen lässt gar ihre Mitglieder abstimmen, wer von den ihr zugehörigen Delegierten unterstützt werden soll.
Dabei stellt sich ganz grundsätzlich die Frage nach der rechtlichen Wirkung solcher Positionierungen. Folgt aus ihnen gar ein imperatives Mandat? § 15 Abs. 3 S. 3 PartG verneint dies mit deutlichen Worten: „Bei Wahlen und Abstimmungen ist eine Bindung an Beschlüsse anderer Organe unzulässig“. Zwar kann durch diese Festlegung nur eine rechtliche Bindung an Beschlüsse anderer Organe ausgeschlossen werden, nicht aber eine politisch-faktische. Dennoch weist die Regelung eindeutig darauf hin, dass die Entscheidung für oder gegen eine Kandidatin oder einen Kandidaten eine freie Gewissensentscheidung der einzelnen Delegierten darstellt. Diesem Gedanken trägt auch § 15 Abs. 2 S. 1 PartG Rechnung, der die Geheimheit der Wahl der Vorstandsmitglieder anordnet. Eine rechtliche Bindung der oder des einzelnen Delegierten ist deswegen schon faktisch nicht durchsetzbar.
Ist es dennoch sinnvoll, im Vorhinein „Meinungsbilder“ in den einzelnen Verbänden einzuholen, die die Delegierten entsenden? Formell ist das entsendende Organ nicht zwangsweise der Kreisverband, sondern bisweilen auch der Landesverband (so in Nordrhein-Westfalen) oder der Bezirksverband (so in Baden-Württemberg). Im Sinne einer Willensbildung „von unten nach oben“ mag man den einzelnen Delegierten sogar nahelegen, sich auf möglichst niedriger Ebene mit anderen Parteimitgliedern auszutauschen und ein so eingeholtes Meinungsbild mit den eigenen Präferenzen abzugleichen und abzuwägen. Dies ist ganz im Sinne eines repräsentativen demokratischen Systems – wie der Abgeordnete nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG frei in seiner Entscheidung ist, ist auch der Delegierte nur seinem Gewissen verantwortlich.
Wettbewerb vorprogrammiert? Die Rolle der Regionalkonferenzen
Mit ihren Regionalkonferenzen bot die CDU nicht nur den Delegierten, sondern gar einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit, drei Bewerber kennenzulernen: Kramp-Karrenbauer, Merz und Spahn. Den restlichen Bewerbern blieb eine Teilnahme auf dem Podium hingegen versagt. Dies entsprach einem Beschluss des Parteivorstands: Um auf einer Regionalkonferenz sprechen zu dürfen, musste ein Bewerber danach von einer CDU-Untergliederung nominiert werden. Dies ist zwar in den Statuten der CDU nicht ausdrücklich festgelegt, wird aber damit begründet, dass gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1-5 der Geschäftsordnung der CDU die Untergliederungen umfassend antrags- und vorschlagsberechtigt auf Parteitagen sind. Anderen Kandidaten steht es damit frei, auf dem Parteitag selbst zu kandidieren, was dann auch den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die innerparteiliche Demokratie genügt. Aber kommt nicht den auf den Regionalkonferenzen präsenten Kandidaten ein uneinholbarer Wettbewerbsvorteil zu? Werden die Mindestanforderungen an die innerparteiliche Demokratie somit zwar formal eingehalten, faktisch aber unterlaufen? Dann bestünde Chancengleichheit der Bewerber nur auf dem Papier. Jedenfalls einer der Kandidaten wollte dies gerichtlich überprüfen lassen.
Natürlich steht es jeder Kandidatin und jedem Kandidaten frei, Wahlkampf für sich zu betreiben. Dabei können nicht nur Regionalkonferenzen Mittel zur Überzeugung darstellen, sondern etwa auch Interviews mit überregionalen Zeitungen oder Social-Media-Aktivitäten. Zudem wird im Rahmen des Gebots innerparteilicher Demokratie der einzelnen Partei gerade kein bestimmtes Verfahren zur Wahl ihres Vorstands auferlegt. Es entspricht vielmehr der Freiheit der Partei, ihre Binnenorganisation im Rahmen der Mindestvoraussetzungen selbstständig auszugestalten – und damit auch Verfahren für den innerparteilichen Wahlkampf festzulegen.
Dies gilt aber nur, solange das Gebot innerparteilicher Demokratie, zu dem auch die Chancengleichheit der Bewerberinnen und Bewerber zählt, gewahrt bleibt. Hier kommen die erheblichen faktischen Auswirkungen der Regionalkonferenzen zum Tragen: Auf ihnen und um sie herum findet der Willensbildungsprozess von Mitgliedern und Delegierten maßgeblich statt. Sie beeinflussen dabei nicht nur die innerparteiliche, sondern auch die bundesdeutsche Debatte – so beschäftigen sich Tageszeitungen und Fernsehsender umfassend mit den Konferenzen. Eine hier nicht präsente Person hat vor diesem Hintergrund keine realistische Chance, sich der Partei und den wählenden Delegierten vorzustellen, und kann mit privaten Mitteln den von der Partei organisierten und finanzierten Wahlkampf um die Delegiertenstimmen kaum ausgleichen. Dies alles geschieht auf Grundlage einer nicht in der Satzung der CDU geregelten Plattform. Die Rolle der Regionalkonferenzen im innerparteilichen Wahlkampf kann daher nicht überbewertet werden: Warum man nicht allen Kandidaten die Teilnahme ermöglicht, die zumindest (wie Ritzenhoff) die Unterstützung mindestens eines Delegierten vorweisen können, bleibt unverständlich. Auch eine Beteiligung unbekannterer Kandidaten im Vorfeld muss möglich bleiben, ansonsten kommt es faktisch zu einer parteiführungsseitigen Vorselektion (und letztlich Kooptation), welche die innerparteiliche Gleichberechtigung zugunsten bekannter und von den Parteiführungsgremien erwünschter Politiker verschiebt.
Sternstunde im Nebel
Als die CDU bekannt gab, dass auf ihrem Bundesparteitag offen mehrere Kandidatinnen und Kandidaten gegeneinander antreten werden, war schon das eine kleine Revolution. Hört man sich an der Parteibasis um, so wird die stärkere Offenheit durchweg begrüßt. Es gehört vielleicht auch ein Stück weit ins 21. Jahrhundert, Transparenz und Partizipation groß zu schreiben. Am Beispiel der CDU zeigt sich, dass innerparteiliche Demokratie wichtiger und von den Parteien auch ernster genommen wird. Insbesondere wird deutlich, dass dabei nicht zwangsweise ein direktdemokratischer Weg gewählt werden muss, sondern dass auch eine repräsentativ-demokratische Lösung den Grundsätzen innerparteilicher Demokratie entsprechen kann. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Verfahren des innerparteilichen Wahlkampfs noch verbesserungswürdig ist. Vielleicht kann man also tatsächlich von einer Sternstunde sprechen — selbst wenn der Blick in die Sterne noch von etwas Frühnebel getrübt ist.