Struktur und Teilhabe: zur gleichheitsdogmatischen Bedeutung der „dritten Option“
Der Beschluss des BVerfG zur „dritten Option“ erkennt erstmals geschlechtliche Vielfalt jenseits der Zweigeschlechtlichkeit auch rechtlich an. Im Rahmen des Symposiums konzentriert sich dieser Beitrag auf die Bedeutung dieser Entscheidung für den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz. Denn der Senat ordnet erstmals die Geschlechtsidentität nicht nur dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu, sondern auch dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Doch erschöpft sich die Bedeutung der Entscheidung in dieser Hinsicht keineswegs in einer weiten Auslegung des Begriffs „Geschlecht“ in Abs. 3 S. 1. Der Beschluss leistet vielmehr einen grundlegenden Beitrag zur Klärung der dogmatischen Struktur von Art. 3 GG, die seit der Schaffung des Grundgesetzes umstritten war. Damit wird gleichzeitig das Potential des Absatzes 3 für die Bekämpfung struktureller Diskriminierung auch über das Geschlecht hinaus entfaltet.
„Geschlecht“ ist mehr als Männer und Frauen
Während sich „Geschlecht“ als geschützte Kategorie in zahlreichen Konventionen und Verfassungen wiederfindet, gilt dies weder für Geschlechtsidentität noch für sexuelle Orientierung – zumindest was den Wortlaut angeht. Gerade in völkerrechtlichen Verträgen ermöglichen offene Listen die rechtliche Anerkennung ungeschriebener Diskriminierungsmerkmale. Doch können Selbstzuordnung und Begehren durchaus als Dimensionen von „Geschlecht“ verstanden werden; so sahen es bereits einmal der UN-Menschenrechtsausschuss in Toonen und der EuGH in P./.S. Dass dies sowohl aus der Perspektive der Geschlechterforschung als auch rechtsdogmatisch überzeugt, hat mit großer Klarheit u.a. Laura Adamietz gezeigt.
In seiner Rechtsprechung zur Transsexualität hatte sich das Bundesverfassungsgericht bisher darauf beschränkt, die geschlechtliche Identität als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anzuerkennen und sie im Rahmen des allgemeinen Gleichheitsgebots des Art. 3 Abs. 1 GG an die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG besonders geschützten Merkmale anzunähern. Nun hat es die Selbstzuordnung zu einem Geschlecht erstmals im Rahmen der Geschlechtsdiskriminierung berücksichtigt. Damit hat es damit nicht nur ausdrücklich anerkannt, dass „Geschlecht“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG mehr meint als nur „Männer und Frauen“, wie Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG formuliert (Rn. 60 ff.). Es hat die Geschlechtszugehörigkeit im täglichen Leben zugleich als Grundlage umfassender „Erwartungen“ verstanden, die „an das äußere Erscheinungsbild einer Person, an deren Erziehung oder an deren Verhalten gerichtet werden“ (Rn. 39).
Damit wird „Geschlecht“ als ein Komplex von sozialen Dimensionen erkennbar, die in einer Gesellschaft, die weiterhin auf zwei Geschlechter und heterosexuelle Lebensweisen eingestellt ist, zu navigieren sind – für die einen problemlos, für die anderen nur mit großen Hindernissen.
Exklusion vom Mainstream als Benachteiligung
Diese Hindernisse sind der dogmatische Ansatzpunkt der Ausführungen des Ersten Senats zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Sie beginnen mit der Feststellung (Rn. 57):
„§ 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG benachteiligt Menschen, die nicht männlichen oder weiblichen Geschlechts sind und sich selbst dauerhaft einem weiteren Geschlecht zuordnen, wegen ihres Geschlechts.“
Doch die weiteren Ausführungen haben es in sich: Der Senat macht deutlich, dass die Normalität, die für die meisten in unserer Gesellschaft praktisch unsichtbar bleibt, manche systematisch und strukturell ausschließt. Alle, für die die Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht unproblematisch ist, können entsprechend ihrem Geschlecht im Personenstandsregister eingetragen werden. Alle, die keines der beiden Geschlechter haben, können dies nicht. Sie müssen „entweder die unzutreffende Zuordnung zu einem der beiden genannten Geschlechter oder aber einen Eintrag hinnehmen, der den Eindruck erweckt, sie hätten kein Geschlecht“ (Rn. 57). Damit werden sie, so der Senat weiter, ungleich behandelt und wegen ihres Geschlechts benachteiligt.
Wer noch nie ein Problem mit seinem oder ihrem Geschlechtseintrag hatte, mag dazu neigen, die Bedeutung dieser Benachteiligung zu unterschätzen. Denn die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt – jedenfalls derzeit, wie der Senat klarstellt – nicht nur die Anrede oder die „Erwartungen[, die] an das äußere Erscheinungsbild einer Person, an deren Erziehung oder an deren Verhalten gerichtet werden“ (Rn. 39). Der Personenstandseintrag hat vielmehr erhebliche rechtliche Bedeutung (ebd.):
„So enthalten beispielsweise der deutsche Pass … und die elektronische Gesundheitskarte … die Angabe des Geschlechts einer Person. Die Vorlage einer Geburtsurkunde oder des Ausdrucks aus dem Geburtenregister gegenüber Behörden, Gerichten oder Dritten ist in einer Vielzahl von Lebenssituationen rechtlich vorgesehen oder jedenfalls praktisch erforderlich; beide weisen grundsätzlich das Geschlecht aus (…). Die Vorlage der Geburtsurkunde wird unter anderem für die Anmeldungen zum Studium, zu universitären Prüfungen, Staatsexamina und zur Promotion, bei Bewerbungen in den öffentlichen Dienst beziehungsweise in das Beamtenverhältnis sowie für bestimmte Ausbildungsberufe angefordert.“
In all diesen Situationen sind Menschen, deren Pass, Gesundheitskarte oder Geburtsurkunde kein oder das falsche Geschlecht ausweist, damit konfrontiert, dass an sie Erwartungen gerichtet werden, die sie nicht erfüllen können und/oder wollen – anders als all die Menschen, die in das binäre System aus männlich und weiblich problemlos hineinpassen – oder dass sie als geschlechtsloses Nullum erscheinen müssen.
Diese Benachteiligung, so der Senat, muss beseitigt werden. Aufhorchen lassen die wiederholten Hinweise, dass es dem Gesetzgeber durchaus freistehe, einfach auf den Geschlechtseintrag zu verzichten. In der Tat fragt sich, warum eigentlich Bürger*innen noch staatlicherseits in Geschlechter eingeteilt werden sollten. Denn Menschen können ihr Geschlecht sehr gut auch ohne Registereintrag leben, wie sie es für richtig halten, und sie brauchen diesen Registereintrag auch keineswegs, um zu wissen, ob sie Mann oder Frau sind, etwas drittes oder etwas dazwischen. Staatliche Ordnungsinteressen, wie sie der BGH anführte (dort Rn. 27), genügten dem Ersten Senat jedenfalls nicht zur Rechtfertigung eines auf männlich und weiblich reduzierten Geschlechtseintrags (Rn. 53–55).
Eine eigenständige Bedeutung für Abs. 3
Klarheit schafft die Entscheidung zudem zum Verhältnis zwischen Artikel 3 Absatz 2 und Absatz 3. Während nach Abs. 3 S. 1 niemand „wegen seines Geschlechtes … benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf, proklamiert Abs. 2 S. 1: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Angesichts der 1949 gerade im Zivilrecht noch weit verbreiteten rechtlichen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen war dies offensichtlich kontrafaktisch gemeint – und zwar nicht nur mit Blick auf die in Art. 117 Abs. 1 GG vorgesehene Übergangsfrist.
Bereits 1991 hat Ute Sacksofsky – neben anderen wie Sibylle Raasch oder Vera Slupik – in ihrer bahnbrechenden Dissertation zum „Grundrecht auf Gleichberechtigung“ gezeigt, dass diese Regelung im systematischen Verhältnis zum Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts in Abs. 3 nur so verstanden werden kann, dass sie als Förderauftrag gemeint ist. So sah es dann nur ein Jahr später auch das (zuvor noch abwägende) BVerfG im Nachtarbeitsbeschluss: Abs. 2 stelle ein Gleichberechtigungsgebot auf und erstrecke dies auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Klarstellend ergänzte der verfassungsändernde Gesetzgeber schließlich 1994 den bisherigen Abs. 2 um einen S. 2: „Der Staat fördert die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Das BVerfG hat seitdem jedoch die dogmatische Verortung des Verbots der Diskriminierung wegen des Geschlechts eher undogmatisch behandelt; teils wurde es Abs. 2 zugeordnet, teils Abs. 3 (vor allem in neuerer Zeit), teils auch beiden Absätzen. Damit blieb verfassungsgerichtlich ungeklärt, ob die zur Geschlechtsdiskriminierung entwickelte Dogmatik eine besondere im Rahmen von Abs. 2 ist, oder ob sie Abs. 3 zugrundeliegt und damit auch für die anderen Kategorien anschlussfähig ist. Dies gilt insbesondere für das Verbot der mittelbaren Diskriminierung, die das BVerfG – wie auch der EuGH – für das Geschlecht längst anerkannt hat, deren Geltung für die anderen Merkmale jedoch bisher umstritten ist (dazu gleich).
Nun hat das BVerfG die Diskriminierung wegen des Geschlechts – hier: wegen des weder männlichen noch weiblichen Geschlechts – unmissverständlich als Verstoß „gegen das besondere Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG“ (Rn. 56) eingeordnet. Zudem hat es das Verhältnis zwischen Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 klar sortiert (Rn. 60): „Vor allem aber besitzt Art. 3 Abs. 2 GG gegenüber Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eigenständige Bedeutung, die die engere Fassung von Absatz 2 erklärt“, der nämlich statt von „Geschlecht“ von „Männern und Frauen“ spricht.
„Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (BVerfGE 85, 191 <206 f.>). Seit 1994 betont Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis.“
Dies stand in der Tat so schon im Nachtarbeitsbeschluss (BVerfGE 85, 191). Das neue liegt in der umgekehrten Betrachtung: Das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Abs. 3 S. 1 hat eigenständige Bedeutung gegenüber Abs. 2 – mit weitreichenden Folgen.
Absatz 3: Schutz auch vor strukturellen Gefährdungslagen
Die Zuordnung der Geschlechtsdiskriminierung zu Abs. 3 S. 1 gibt dem Gericht Gelegenheit, dessen Gehalt klarer zu bestimmen (Rn. 59):
„Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 236, 244).“
Nicht nur Abs. 2 richtet sich also mit einem Gleichstellungsauftrag gegen strukturelle Diskriminierung, auch Abs. 3 S. 1 hat diese Art von Exklusion im Auge – und eben nicht nur die direkte, intendierte Diskriminierung.
In der Tat hebt Abs. 3 aus den möglichen Differenzierungskriterien gerade solche heraus, die in der NS-Vergangenheit – die 1949 bei Erlass des Grundgesetzes erst vier Jahre her war – Anknüpfungspunkt von Ausgrenzung und Verfolgung waren und/oder die auch aktuell noch bedeutsam waren: Geschlecht, familiäre Abstammung, Rasse, (Erst-)Sprache, geographische Heimat und soziale Herkunft, Glaube, religiöse oder politische Anschauungen. Die Aufmerksamkeit für solche „gleichheitsrechtlichen Gefährdungslagen“, wie Ute Sacksofsky formuliert, sind freilich historisch kontingent; so fehlt in Abs. 3 die sexuelle Orientierung und fehlte bis 1994 die Behinderung, beides ebenfalls Verfolgungsgründe im Nationalsozialismus.
Im menschenrechtlichen Diskurs werden solche Gefährdungslagen auch als Vulnerabilität oder Verletzbarkeit beschrieben – ein Begriff, den das BVerfG aufgreift, wenn es subsumiert (Rn. 59):
„Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch.“
Diese beiden Zitate sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: „strukturelle“ Diskriminierungsgefahr, „Vulnerabilität … in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft“. Damit werden gesellschaftliche Strukturen als Hindernisse für Personen beschrieben, die nicht in den Mainstream passen – und gerade deswegen eines expliziten Schutzes vor Diskriminierung bedürfen. Das Gericht legt nach, erneut mit den Worten des Nachtarbeitsbeschlusses: Das Geschlecht dürfe auch dann „nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden … wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt (BVerfGE 85, 191 <206>; stRspr).“ Auf eine Diskriminierungsabsicht kommt es damit nicht an, sondern auf die benachteiligende Wirkung – damit steht die Tür zur mittelbaren Diskriminierung sperrangelweit offen.
Ein Türöffner für die mittelbare Diskriminierung
Wird die benachteiligende Wirkung zum zentralen Fluchtpunkt, muss ein effektives Diskriminierungsverbot auch die mittelbare Diskriminierung umfassen. Sie ist nämlich nicht weniger wirkmächtig als die intendierte, direkte Diskriminierung, resultiert sie doch oft aus gewachsenen, weit verbreiteten gesellschaftlichen Strukturen, in denen bestimmte Abweichungen einfach nicht vorgesehen sind – seien es geschlechtsspezifische Lebenswege oder Doppelbelastungen, die bei der Orientierung am „Normalarbeitnehmer“ unter den Tisch fallen, sei es die gesellschaftliche Einstellung auf die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit, die ein Drittes nicht kennt.
Die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung hat zunächst der EuGH entfaltet, der sich dafür einerseits auf das Vorbild des US Supreme Court stützen konnte und andererseits auf seine eigene Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten. Im Bilka-Fall erklärte der EuGH 1986 erstmals die schlechtere Behandlung von Teilzeitarbeit für diskriminierend, weil diese im wesentlichen Frauen nachteilig betreffe. Inzwischen ist das Verbot der mittelbaren Diskriminierung fester Bestandteil der EU-Richtlinien zum Diskriminierungsschutz.
Das Bundesverfassungsgericht hat mittelbare Diskriminierung von Frauen längst anerkannt, offen ließ es jedoch bisher, ob dies eine Sonderdogmatik für Art. 3 Abs. 2 GG sei. Ob etwa die Pflicht zur Teilnahme am Unterricht „Werte und Normen“ für Kinder, die nicht am – freiwilligen – Religionsunterricht teilnehmen, eine mittelbare Diskriminierung wegen des Glaubens ist, blieb 1999 in einer Kammerentscheidung offen. Einer einschränkenden Auslegung zum Opfer fiel ein Jahr später eine mögliche mittelbare Diskriminierung wegen der Heimat hinsichtlich ostdeutscher Erwerbsbiographien – dieses Merkmal beziehe sich nach dem Entstehungszusammenhang nur auf sog. Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, so die damalige Senatsmehrheit (anders das Sondervotum von Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt).
In der Kommentarliteratur ist die Geltung der mittelbaren Diskriminierung im Rahmen von Abs. 3 S. 1 umstritten. Nur wenige haben sich bisher dafür ausgesprochen, einige plädieren für eine Anwendbarkeit nur im Rahmen von Abs. 1, wo entsprechend abgeschwächte Rechtfertigungsmaßstäbe gelten sollen. Allerdings verschärfen sich diese, wo die Differenzierungskriterien sich aufgrund ihrer Bedeutung oder Unverfügbarkeit an die Merkmale des Abs. 3 S. 3 annähern – und zwar auch bei der mittelbaren Diskriminierung, wie das BVerfG bezüglich der sexuellen Orientierung deutlich gemacht hat.
Dass die mittelbare