Symptomlose HIV-Infektion ist Behinderung im Sinne des AGG
Wo Krankheit aufhört und Behinderung anfängt, ist keine Frage medizinischen Expertenwissens, sondern hängt von der sozialen Stigmatisierung des Betroffenen ab. Dies hat das Bundesarbeitsgericht am Donnerstag in einem weitreichenden Grundsatzurteil (Az. 6 AZR 190/12) festgestellt.
Der zugrunde liegende Fall ist schnell erzählt: Sebastian Fehn (nennen wir ihn für die Zwecke dieses Beitrags einmal so) hatte sich erfolgreich auf eine Stelle als chemisch-technischer Assistent in der Medikamentenherstellung beworben. Seinen Arbeitsplatz sah er indes nicht lange. Nachdem er bei der Einstellungsuntersuchung seine HIV-Infektion offenbart hatte, wurde er umgehend von seinen Pflichten entbunden und die Kündigung ausgesprochen. Seine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit dieser Kündigung sowie auf Schmerzensgeld nach § 15 Abs. 2 AGG blieb erfolglos.
Das Bundesarbeitsgericht nahm die Revision nun zum Anlass, gleich mehrere Fragen zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu klären. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte noch offengelassen, ob das AGG auf den Fall überhaupt anwendbar sei. Denn § 2 Abs. 4 AGG könnte als Anwendungsausschluss für Kündigungssachverhalte verstanden werden, zumal wenn die Kündigung wie hier bereits in der „Probezeit“ erfolgte. Ein solches Verständnis verstieße indes gegen die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG, die gerade einen umfassenden Diskriminierungsschutz im Arbeitsleben bezweckt. So kam das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil mit der Anwendbarkeit des AGG auch zur Kernfrage des Falls: Ist eine HIV-Infektion, die aufgrund ihrer medikamentösen Einstellung gänzlich symptomlos verläuft, eine Behinderung im Sinne des § 1 AGG?
Hier hat das Bundesarbeitsgericht nun eine gegenüber den Vorinstanzen wichtige Wende vollzogen, die auch für die anderen Diskriminierungsmerkmale des § 1 AGG nicht ohne Konsequenz bleiben dürfte. Im Einklang mit der jüngsten EuGH-Rechtsprechung (Rs. HK Danmark, C-335/11 u.a. vom 11.04.2013) legt das Gericht nun ein dynamisches Verständnis des diskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriffs zugrunde, indem es die Kontextabhängigkeit der Behinderung hervorstellt. Es kann eben nicht ein für allemal festgestellt werden, welche körperliche oder seelische Kondition die Schwelle von der Krankheit zur Behinderung überschreitet. Neben einer gewissen Dauer der nachteiligen körperlichen oder seelischen Kondition kommt es entscheidend darauf an, ob zusätzlich Barrieren bestehen, die eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe hindern. Diese Barrieren können tatsächlicher Art oder aber in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Kondition begründet sein. Der Blick fällt also auf gesellschaftliche Stigmatisierung und darin gründendes soziales Vermeidungsverhalten. Die Kündigung macht die (chronische) Krankheit somit gewissermaßen erst zur Behinderung. Ein Rollstuhl oder sonstige technische Hilfsmittel sind dagegen allenfalls die Folge einer Behinderung, nicht jedoch Definitionsmerkmal derselben.
Die Anerkennung der symptomlosen HIV-Infektion als Behinderung im Sinne des Antidiskriminierungsrechts hat nun zur Folge, dass auch in der „Probezeit“, in der die Mechanismen des Kündigungsschutzgesetzes noch nicht greifen und eine Kündigung regelmäßig nicht begründet werden muss, nicht ohne Weiteres wegen der Infektion das Arbeitsverhältnis aufgelöst werden kann. Zwar ist die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung im Einzelfall gerechtfertigt, wenn objektiv die Gefahr einer Ansteckung besteht. Im Gegenzug obliegt es jedoch der Arbeitgeberin den Arbeitsplatz mit angemessenem Aufwand behindertengerecht anzupassen. Ob die Beklagte gegenüber Sebastian Fehn dem nachgekommen ist, hat nun wiederum das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zu ermitteln, an welches das Bundearbeitsgericht den Fall zurückverwies. Das LAG wird zunächst zu klären haben, ob tatsächlich die Gefahr einer Kontamination der intravenös zu verabreichenden Medikamente drohte, die Sebastian Fehn herstellen sollte. Dies ist bei erfolgreicher Medikation der HIV-Infektion bereits mehr als zweifelhaft, da die Virenkonzentration heutzutage unterhalb die Grenze des Nachweisbaren gedrückt werden kann, so dass selbst bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr eine Ansteckung als nahezu ausgeschlossen gilt. Jedenfalls wird die Beklagte aber darlegen müssen, dass die Abläufe bei der Verarbeitung ihrer Medikamente nur mit unangemessenem Aufwand umgestaltet werden können, um auch das unterstellte Restrisiko einer Kontamination auszuschließen.
Der Umgang mit Menschen mit einer HIV-Infektion ist immer noch von diffusen Ängsten geprägt. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wird zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen. Denn diese diffusen Ängste tragen nun – zumindest im Recht – den Stempel der Willkür.The difference between an illness and a disability is not a matter of medical expert knowledge but of social stigmatization. This was established by the Federal Labor Court (Bundesarbeitsgericht) last Thursday in what promises to be a leading decision in German anti-discrimination law (case 6 AZR 190/12).
When Sebastian Fehn (who shall be named as such for the purpose of this article) was hired as a chemical assistant to a pharmacy company, he did not last long on the job. He was immediately fired and sent home after he had disclosed his infection with HIV to the company’s medical director. His actions for compensation of immaterial damage were dismissed before the Berlin Labor Courts.
However, the Federal Labor Court (Bundesarbeitsgericht) now took Sebastian Fehn’s case to strengthen the provisions of Germany’s Anti-Discrimination Act (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – AGG). In its second instance ruling, the State Labor Court for Berlin and Brandenburg had raised doubts concerning the applicability of the AGG in general to the termination of labor contracts, and, in particular, the qualification of an asymptomatic HIV infection as a “disability” under par. 1 AGG. The Federal Labor Courts however, overturned this ruling, which may well be an important signal for the overall understanding of German anti-discrimination law.
The Federal Labor Court held that the termination of a labor contract has to be measured against the Anti-Discrimination Act even during the first six months of the contractual relationship. While par. 2 (4) AGG read alone might lead to a different conclusion, the underlying European directive 2000/78/EC is unequivocal: the law aims at providing a comprehensive ban of discriminating behavior in private law and particularly in labor law.
Secondly, the Federal Labor Court ruled, that even certain chronic illnesses, such as an asymptomatic HIV infection, may qualify as a disability under the anti-discrimination act. The most important aspect of this ruling is a new understanding of what a disability actually encompasses: “disability” is not a static medical category but a social construction. There is no way to determine once and for all, which particular bodily or psychological condition does not only form an illness but also a disability. Apart from a protracted impact, said condition must confront certain barriers. In accordance with a recent judgment by the ECJ (case HK Danmark, C-335/11, decided April 11th, 2013), these barriers need not be physical. Also social barriers, that potentially deprive a person of an equal participation, can constitute a disability. That means, that in a sense, the termination of the labor contract itself transforms the (mere) chronic illness into a disability, whereas a wheel chair or other auxiliary means may be the visual result of a disability but not its constituent.
The Federal Labor Court’s ruling has several important consequences: Even during the first six months of the contract, a person that is infected with HIV cannot simply be fired because of her illness. While the termination of a labor contract may be justified in case of an objective threat to the health of co-workers and customers, the employer must first provide for certain adjustments to the workspace and work routines. In the case of Sebastian Fehn, the State Labor Court for Berlin and Brandenburg will have to reevaluate, firstly, if there has ever been a serious threat of contaminating the pharmaceutical products he was handling and, secondly, if his former employer has done enough to accommodate his specific needs even in case there should be a (rather theoretical) risk of contagion (Sebastian Fehn is well-medicated and, as a result, standard laboratory methods can no longer detect the HI-virus in his blood).
Studies show, that people infected with HIV are still confronted with widespread stigmatization. At least when it comes to legal disputes, the Federal Labor Court’s ruling will help to make the debate more objective.
Wäre nach dieser Argumentation nicht auch sowas wie Übergewicht vom AGG umfasst? Die (chronische) Erkrankung ist das Zusammentreffen von körperlicher und verhaltenstechnischer/seelischer Anfälligkeit für Adipositas, welche selbst – wie der Rollstuhl – nur das (ggf. temporäre) sichtbare Merkmal ist. Dass dies ab einer gewissen Grenze behindernd wirkt, dürfte logisch sein.
Und wendet man den folgenden Absatz auf das Thema an, müsste das doch ein Volltreffer sein, oder?
“Neben einer gewissen Dauer der nachteiligen körperlichen oder seelischen Kondition kommt es entscheidend darauf an, ob zusätzlich Barrieren bestehen, die eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe hindern. Diese Barrieren können tatsächlicher Art oder aber in der gesellschaftlichen Reaktion auf die Kondition begründet sein. Der Blick fällt also auf gesellschaftliche Stigmatisierung und darin gründendes soziales Vermeidungsverhalten.”
Die “Argumentation” des BSG verschleift den Unterschied zwischen “behindert sein” (durch eine Behinderung) und “behindert werden” (durch andere Menschen). Das nenne ich Willkür.
Das dynamische Verständnis des diskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriffs finde ich sehr interessant. Ich bin juristisch leicht (belastend weil halbweise) vorgebildet, aber mit emphatischen Halbwissen und euch sehr dankbar für diesen Artikel, der für meine Arbeit sehr wichtig ist.
Neben dem Lob noch meine Frage:
entspricht das dynamische Verständnis des diskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriffs wegen seiner Kontextualisierungsmechanik dann