19 April 2021

Tatsachen, Meinungen und das Mitspracherecht des Hauses Hohenzollern

Anmerkung zum Urteil des LG Berlin v. 18.2.2021, Az.: 27 O 669/19 (Prinz von Preußen./. Süß)

Die Restitutionsansprüche, die das Haus Hohenzollern gegen den Bund und das Land Brandenburg stellt, sorgen seit Monaten für heftigen Streit – unter Historikern, unter Juristen und in der Öffentlichkeit. Auf einem Nebenkriegsschauplatz dieser Debatte, der allerdings für Meinungs- und Forschungsfreiheit der beteiligten Wissenschaftler von einiger Tragweite ist, hat im Februar das Landgericht Berlin ein Urteil gefällt und jetzt die Begründung dazu veröffentlicht. In diesem Rechtsstreit ging es um eine Interviewäußerung des Historikers Winfried Süß im NDR über die Bedeutung eines „Mitspracherechts“, das dem Haus Hohenzollern nach einem von diesem vorgelegten Entwurf eines Vertrages mit dem Land Brandenburg zustehen sollte (Abschnitt 10. 1). Süß hatte die Auffassung vertreten, manche Forderungen des Hauses Hohenzollern seien „hochproblematisch“, insbesondere „die Idee, dass es ein Mitspracherecht bei den historischen Darstellungen der Familie gibt, wenn diese Darstellungen durch Einrichtungen der öffentlichen Hand vorgenommen werden“. Das LG Berlin ordnet die Äußerung als „Tatsachenbehauptung“ ein. Das ist weder im Ergebnis noch methodisch überzeugend.

Verträge sind so gut wie immer interpretationsfähig und interpretationsbedürftig1). Und für § 10.1 des Vertragsentwurfs gilt dies ganz sicher: Er ist eindeutig uneindeutig! Die Kammer stellt ihre abweichende Auffassung nicht einmal anhand sorgfältiger Auseinandersetzung mit dem Wortlaut des Vertragsentwurfs dar. Das hätte man angesichts der grundrechtlichen Implikationen unbedingt erwarten müssen: Das BVerfG hat immer wieder die Abgrenzung von Meinung und Tatsachenbehauptung als eine wegen der Folgen für die Reichweite des Schutzes der Meinungsfreiheit im Einzelfall verfassungsrechtlich wichtige Frage angesehen2): Praktisch kommt es fast immer zur Feststellung, dass beide Momente eine Rolle spielen. Das heißt nicht, dass es keine Tatsachen gäbe, sondern nur dass die Einordnung so gut wie immer auch von sozialen Konventionen abhängig bleibt.

Es trifft durchaus zu, dass ein „Mitspracherecht“ nur für die Benutzung der durch das Haus Preußen zur Verfügung gestellten Leihgaben in Betracht kommen konnte. Weiter ergibt sich aus dem Kontext der Äußerung, dass mit „Einrichtungen“ nur solche gemeint sein konnten, die mit Leihgaben des Hauses Preußen befasst waren (z. B. nicht etwa Schulbehörden, die Unterrichtsgegenstände bestimmen). Doch praktisch ist die Begrenzung des Mitspracherechts auf eigene Leihgegenstände wiederum nicht eindeutig, weil dies nur für die unmittelbare Verfügung gilt, nicht aber mittelbar für die Formulierung von umfassenderen Bedingungen, unter denen das Haus Leihgaben für Museumszwecke im Hinblick auf die Konzeption einer Ausstellung bereit stellt.

Was steht im Vertrag?

Die vom Gericht zitierte Presseerklärung des Hauses Preußen, dass kein Einfluss auf die Kuratierung der Kunstgegenstände beansprucht worden sei, mag durchaus ernsthaft und ehrlich gewesen sein. Doch der Wortlaut des Vertragsentwurfs selbst ist alles andere als eindeutig. Dort heißt es nämlich: unter 10.1, das Haus Preußen sei “so rechtzeitig über … alle Ausstellungs-, Publikations (!)- und sonstigen (!) Aktivitäten bezüglich der Dauerleihgaben zu unterrichten, dass eine Mitsprache und Einbringung eigener Vorstellungen ermöglicht wird“3). Außerdem sind Vertreter des Hauses Hohenzollern „zu den Dauerleihgaben betreffenden Sitzungen … einzuladen und Rederecht zu gewähren“ .

Da das Haus Hohenzollern über eine sehr große Zahl von historisch relevanten Kunstgegenständen verfügt und über die Restitution einer großen Zahl weiterer Kunstgegenstände mit dem Land Brandenburg verhandelt, ist die Lesart, dass es hier nur um die Präsentation der Dauerleihgaben, nicht aber die Konzeption etwa einer größeren Ausstellung gehe, ungenau. Es kann sich um einzelne Gegenstände handeln, aber auch eine so große Zahl, dass diese die Substanz der ganzen Ausstellung oder einer Publikation ausmachen würde.

Und was soll Gegenstand der Mitsprache sein, wenn nicht die inhaltliche Präsentation – ggf. auch einzelner Werke? Die Integrität der Kunstgegenstände selbst wird durch standardisierte Verträge gewährleistet (Versicherung, Verpackung, Transport etc.). Mitspracherechte in dem durch den Vertragsentwurf formulierten Sinn sehen die von Museumsorganisationen formulierten „Empfehlungen für die Organisation großer Ausstellungen“ (2003) gerade nicht vor – was ihre Vereinbarung selbstverständlich nicht ausschließt. Es handelt sich aber nicht um einen im Museumsverkehr üblichen Vorgang.
Damit wird im Ergebnis je nach Umfang des Anteils der Dauerleihgaben an Museums- u. a. Projekten ein Mitspracherecht eingeräumt, ohne dass schon absehbar wäre, wie es in praxi ausgeübt würde. Die erwähnten „Empfehlungen“ schlagen ausdrücklich vor, die freie konzeptionelle Gestaltung der empfangenden Institution anzuerkennen. Etwas vage bleibt dort die Empfehlung Nr. 13, Autoren für die Präsentation der Werke in Katalogen zu bestimmen. Soll hier ein Mitwirkungsrecht des Leihgebers möglich sein?

Auch Publikationen sind nach dem Vertragsentwurf des Hauses Hohenzollern Gegenstand eines Mitspracherechts. Zur Konzeption heutiger Museumspräsentationen und Kuratierungen gehören darüber hinaus auch umfangreichere Kommentierungen – heute vielfach auf die Wände aufgetragen oder durch Videopräsentationen zugänglich gemacht. Auch im Hinblick darauf könnte ein Mitspracherecht (für eigenen Leihgaben) einschließlich eines Rederechts verlangt werden. Selbst wenn tatsächlich im Einzelfall nur wenige Kunstwerke oder gar nur ein einziges, z. B. ein Bild, Gegenstand des Mitspracherechts wäre, könnte dies ggf. dazu führen, dass einem Museum eine Darstellung abverlangt würde, die der Konzeption der Ausstellung im Übrigen zuwiderliefe. Auch z.B. die Hängung einzelner Bilder kann von einer Gesamtkonzeption geprägt sein. Wenn es sich um eine größere Ausstellung zur Geschichte Preußens mit entsprechend vielen Leihgaben handeln würde, bestünde praktisch doch ein sehr weitreichendes Mitspracherecht.

Im Verfahren hatte der Antragsgegner, Winfried Süß, seine inkriminierte Äußerung dahin ergänzt, dass faktisch das Mitspracherecht die Verwirklichung der Ideen zur Kuratierung allgemein blockieren könnte. Das Gericht hat dies als eine zulässige Interpretation der potentiellen Auswirkungen des Vertrages, aber nicht als eine Ergänzung oder Selbstinterpretation betrachtet, sondern als eine andere Erklärung, die rechtlich selbständig, und zwar als Meinungsäußerung zu bewerten sei. Dies erscheint nicht zutreffend: Solange die Stellungnahme zu einem Vertrag (oder Vertragsentwurf) nicht den Wortlaut des Textes falsch wiedergibt, handelt es sich um eine Interpretation und damit um eine Meinungsäußerung – selbst wenn die Interpretation fernliegend wäre. Wer behauptet, dass in einem Vertragsentwurf ausdrücklich die Einräumung eines „Mitwirkungsrechts“ verlangt werde, stellt eine Falschbehauptung auf, wenn der Begriff oder ein ähnliches Wort in dem Text nicht vorkommt. Wenn aber in den Text – wie hier – ein „Mitspracherecht“ explizit aufgenommen worden ist, wären dessen Reichweite und Varianten seiner Ausübung Gegenstand der Interpretation.

Eine mögliche Interpretation

Der Schutz der Meinungsfreiheit führt prozedural im Gerichtsverfahren zur Anerkennung eines „principle of benevolence“4). Das heißt hier: der Interpret muss nicht einen uneindeutigen Vertrag genau als einen solchen bezeichnen, er darf auch eine bestimmte Lesart als die allein richtige präsentieren, solange dies eine mögliche, durch den Kontext unterstützte, wenn auch nicht als allein richtig attestierte Interpretation ist. Es gibt kein Gebot zur Sachlichkeit von Meinungsäußerungen.

Eine Unterstützung findet die Lesart des Antragsgegners schon im Vertragstext selbst, wenn es dort am Endes Absatzes 10.1 heißt, dass die Vertragspartner sich „bei ihrer vertrauensvollen Zusammenarbeit insbesondere auch von ihrer gemeinsamen politischen und historisch-kulturellen Verantwortung leiten lassen werden“ – auch für Ausstellungen?

Hinzu kommt noch ein weiterer außertextualer Kontext, der durch den auch die Öffentlichkeit stark beschäftigenden Konflikt um die Rolle der Angehörigen des Hauses Hohenzollern bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten bestimmt wird: Die Annahme liegt daher nicht fern, dass bei entsprechendem Anlass die Hohenzollern versucht sein könnten, die Interpretation oder Präsentation z. B. der von ihnen zur Verfügung gestellten Bilder (ggf. auch Urkunden), die die Stellung der Hohenzollern in der Weimarer Zeit und unter dem Nationalsozialismus kritisch kommentieren, zum Gegenstand einer Auseinandersetzung um Leihgaben zu machen.

Georg Friedrich Prinz von Preußen hat allerdings schon vor dem Interview des Antragsgegners durch eine Presseerklärung mitgeteilt, dass er keinen Einfluss auf die „inhaltliche Präsentation von Sammlungen“ angestrebt habe. Darauf und auf eine dies bestätigende eidesstattliche Versicherung des Verhandlungsführers des Bundes und des Landes Brandenburg in den Restitutionsgesprächen, Jürgen Aretz, kommt es jedoch entgegen der Ansicht der Kammer nicht an. Der Vertragstext hält die Möglichkeit offen. Ohne eine konkrete Praxis lässt sich kaum ausschließen, das das Haus Hohenzollern bei Kommentierungen, die es als historisch „falsch“ ansähe, eben doch in vorbereitenden Sitzungen auf die Konzeption der Ausstellung Einfluss ausüben könnte. Dazu ist u.a. der Interessenkonflikt, bei dem es z. Zt. um Werte in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags geht, doch zu gravierend. Auch hier gilt aber das „principle of benevolence“: Es darf nicht unterstellt werden, dass „die Preußen“ ihr Mitwirkungsrecht in diesem Sinne ausüben würden.

Meinungsfreiheit

Abschließend muss noch einmal auf die funktionale Bedeutung des verfassungsrechtlichen Schutzes der freien Meinungsäußerung und ihrer Grenzen rekurriert werden: Es bleibt dabei, dass das, was Gegenstand des Vertragsentwurfs war, uneindeutig ist. Der Vertragsgegenstand wird selbst erst in der Zeit immer wieder kontextuell konkretisiert. Es handelt sich um einen Rahmenvertrag und nicht um einen vorab gegenständlich bestimmten Austauschvertrag („vertrauensvolle Zusammenarbeit“).

Dann erschiene es im Hinblick auf den prozesshaften Charakter des Meinens nicht angemessen, dass mit Rechtskraftwirkung zwischen den Parteien (und faktisch darüber hinaus) festgestellt würde, dass eine bestimmte Vertragsinterpretation als die richtige zu gelten hat. Zugleich darf aus demselben Grunde der Antragsgegner nicht verpflichtet werden, nur in einer bestimmten relativierenden Lesart über den Inhalt des Vertrages zu sprechen, wie in seiner späteren Ergänzung geschehen. Allein durch die Relativierung oder Präzisierung würde aus einer Tatsachenbehauptung auch keine Meinungsäußerung.
Der Prozesscharakter der Meinungsfreiheit5) verlangt im Übrigen, die für die Öffentlichkeit wichtige Frage nach der Bedeutung des Vertrages offen zu halten, anstatt sie gerichtlich zu beantworten. Der Begriff der „Tatsache“ ist von einer Paradoxie bestimmt: Er ist selbst ein normativer, also von Regeln, Institutionen und sozialen Praktiken abhängiger Begriff6).

References

References
1 OLG Hamm v. 11.7.2018, Az: 8 U 108/17 – juris; zu rechtlichen Bewertungen allg. Prinz/Peters, Medienrecht, 1999, S. 23
2 BVerfG v. 4.8.2016 , AZ 1 BvR 2619/13 – juris
3 Herv. nicht im Orig.
4 vgl. BVerfG 93, 266, 295ff.; 107, 275, 281; BVerfG, NJW 2018, 1596 st. Rspr.
5 Ladeur, KJ 2020, 172
6 Gaskins, Burdens of Proof in Modern Discourse, 2009, S. 25; historisch Barbara J. Shapiro, A Culture of Fact. England 1550 – 1720, 1983