Über den Schutz der Parlamente vor sich selbst in der Krise
Von der Öffentlichkeit noch wenig bemerkt gerät auch die Arbeit in den Parlamenten von Bund und Ländern durch die Corona-Pandemie in praktische Schwierigkeiten. Ein deutsches Parlament besteht im Plenum aus einer Versammlung von häufig mehr als hundert Menschen. Die Mitglieder deutscher Parlamente sind älter als der Bevölkerungsdurchschnitt, viele Abgeordnete gehören zu einer Risikogruppe und wollen aus verständlichen Gründen größere Treffen vermeiden. Dies betrifft auch die Ausschussarbeit. Die Arbeit so zu organisieren, dass die Abläufe praktikabel bleiben und die verfassungsrechtlichen Vorgaben eingehalten werden, ist nicht einfach. Es setzt institutionelle Kooperationsbereitschaft über die politischen Lager hinweg voraus. Dass dies nicht überall der Fall ist, zeigt sich an Sachsen, wo die AfD am Mittwoch eine Plenarsitzung des Landtages erzwungen hat, vielleicht auch, um die Handlungsfähigkeit des Sächsischen Landtags offensiv in Frage zu stellen. Dass dies mit der Gefährdung von Abgeordneten einher ging, müsste als politischer Skandal nach dem Ende der Corona-Krise in Erinnerung bleiben. Es ist ein sicherer Beleg für die institutionelle Verfassungsfeindlichkeit der Partei.
Wie aber können die Parlamente auf die Herausforderung reagieren? Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass es nicht um ein institutionell-politisches, sondern um ein technisches Problem geht. Den zeitweisen Ausfall von Abgeordneten sollten die anderen Fraktionen so kompensieren, dass Mehrheitsverhältnisse erhalten bleiben (sog. pairing-Verfahren). Plenarbeschlüsse können, wenn die Beschlussfähigkeit nicht gerügt wird, auch in kleiner Besetzung gefasst werden. Dies setzt freilich (siehe oben) die Kooperationsbereitschaft aller Fraktionen voraus. Erst, wo es an dieser fehlt, wäre darüber nachzudenken, ob Möglichkeiten einer proportionalen Verkleinerung des Plenums auch verfassungsrechtlich vorgesehen werden können.
Davor aber stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die physische Präsenz von Abgeordneten so zu organisieren, dass sie sich nicht wechselseitig infizieren können. Dies ist zweifellos sehr aufwändig, aber für eine staatliche Kernfunktion eben auch bedeutsam. Es dürfte selbst für die politisch wichtige namentliche Abstimmung machbar sein, die der Bundestag wegen der Krise im Moment vielleicht etwas zu schnell abgesetzt hat. Die praktische Bedingung für dieses Verfahren, nämlich einen allgemein einsehbaren Raum zu finden, der zugleich Transparenz und physische Distanz erlaubt, ist sicherlich eine Herausforderung, aber eben nur eine technische. Grundsätzlich müssen all solche Fragen konkret und normativ niedrigschwellig auf Ebene der Geschäftsordnungen angegangen werden. Dazu gehört es auch, die Beschlussfähigkeit im Geschäftsordnungsrecht zu regeln und nicht, wie im aktuell zum Problem werdenden Fall des Art. 43 Abs. 1 der Verfassung von Berlin, eine Mindestbeschlussfähigkeit verfassungsrechtlich zu erzwingen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten dagegen, was sie taten: Das Grundgesetz spricht von Beschlussfähigkeit nur in seiner 1969 eingefügten und durchweg missglückten Notstandsverfassung der Art. 115a ff.
Ein pragmatischer Blick auf die Lösung der vor den Parlamenten liegenden Herausforderungen wird auch dadurch verstellt, dass manche Landesverfassungen ihrerseits wenig gelungene Notstandsregelungen vorsehen, in denen für bestimmte Fälle der Landtag durch ein Notparlament oder einen speziellen Ausschuss ersetzt werden kann. Unter ihnen ist Art. 113 der Sächsischen Landesverfassung, soweit ich sehe, die einzige, von der schon einmal Gebrauch gemacht wurde: Als es dem Sächsischen Landtag beim Elbhochwasser im Sommer 2002 nicht möglich war, sich im überfluteten Gebäude zu versammeln, stellte der Präsident des Landtages die Verhinderung des Landtages fest. Der Fall dokumentiert recht schön die Probleme einer solchen Norm, denn es ist alles andere als klar, warum die Unzugänglichkeit des Parlamentsgebäudes mit der Verhinderung des Parlaments, sich zu versammeln, gleichgesetzt werden könnte.
Vergleichbare Regeln in anderen Landesverfassungen (Art. 62 Abs. 1 Verf. Ba-Wü, Art. 60 Abs. 1 Verf. NRW) werfen ähnliche, völlig ungeklärte Fragen eines essentiellen Felds des Staatsorganisationsrechts auf: Sie alle haben notwendig undeutliche Tatbestandsvoraussetzungen, sie geben den Landtagspräsidenten, die nicht selten einer Regierungspartei angehören, eine gewaltige institutionelle Macht und sie eröffnen zumindest transitorisch den Weg zu einer Regierungsform, die den Namen parlamentarisch nicht mehr verdient. Die Anlage solcher Ausschüsse, die in aller Regel nicht öffentlich tagen (vgl. auch § 10 GO Gemeinsamer Ausschuss), läuft eher darauf hinaus, Vorlagen der Regierung durchzuwinken, als darin, ein politisches Forum zu bieten, in denen auch Alternativen debattiert werden können. Zeiten wie diese suggerieren, dass es alternativlose politische Lösungen gesellschaftlicher Probleme gäbe – aber schon der Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass dies noch nicht einmal für die Seuchenbekämpfung zutrifft. Gerade in einem Moment, in dem öffentliche Versammlungen verboten sind, muss der öffentliche Versammlungsraum des Parlaments aufrechterhalten werden, will die Demokratie keinen Schaden nehmen.
Dass in vielen Landtagen, aber auch im Bundestag, im Moment darüber diskutiert wird, die genannten Normen zum Vorbild zu nehmen, gibt Anlass zur Besorgnis. Dass die Bundestagsverwaltung in einem nicht gezeichneten „Aktenvermerk“ die Einführung eines „Notausschusses“ entwirft, der aus Elementen der Regeln für den Verteidigungsfall zusammengebastelt wurde, umso mehr. Sicherlich sind diese Vorschläge gut gemeint. Sie wollen die Parlamente schützen. Aber nicht allein das politische Signal, ohne Not die eigene Handlungsfähigkeit zu bezweifeln, erscheint überflüssig und schädlich. Es ist noch nicht einmal wirklich klar, für welches Problem solche Regelungen eine Lösung sein sollten. In Zeiten starker Exekutiven haben die Parlamente in Bund und Ländern die Pflicht, ihre Handlungsfähigkeit sicherzustellen, ohne sich dabei selbst in Frage zu stellen. Normativ kennt das Grundgesetz keine Stunde der Exekutive. Gerade in der Krise ist der Gesetzgeber gefordert. Dies zeigen auch die Vorlagen, die den Bundestag in der nächsten Woche beschäftigen werden.
Dear Professor Moellers,
thank you for this fascinating text. Thank you, in particular, for expressing your doubts over the inaccessibility of the parliament building to amount to incapacity of the parliament.
Do you happen to have an opinion on the possibility of the parliament to hold a distance-session, with the use of technological means, which would enable both deliberations as well as casting a vote? It seems clear to me that many of the same suspicions that typically surround e-elections/e-voting arise. But that, in your conceptual frame, would probably amount to a technical rather than an institutional-political issue? Or can we identify a deeper issue behind this?
I would be grateful to hear your thoughts on the matter.