15 September 2011

Unterkomplexes Väterrecht ist menschenrechtswidriges Väterrecht

Komplexe Familienverhältnisse erfordern ein komplexes Familienrecht. Das deutsche Familienrecht mit seiner Entscheidung, in einer Ehe geborene Kinder als Kinder der Eheleute zu behandeln und den biologischen Vater möglichst draußen zu halten, ist unterkomplex. So sieht das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und hat aus diesem Grund heute der deutschen Justiz mal wieder tüchtig eins auf die Mütze gegeben.

Erst im Dezember 2010 hatte der EGMR im Fall Anayo einem Mann, der mit einer verheirateten Frau ein Kind gezeugt und familienrechtlich mit diesem in einer Ehe geborenen Kind nicht verwandt ist, trotzdem zu einer Rechtsposition verholfen, die in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK (Recht auf Familienleben) fällt – auch wenn er das Kind nie gesehen hatte und daher eigentlich gar kein Familienleben, das geschützt werden könnte, hatte. Dem EGMR reichte, dass er sich um ein solches Familienleben aktiv bemüht hatte.

Im heute entschiedenen Fall Schneider bekräftigt der EGMR diese Linie noch einmal nachdrücklich, und geht noch einen Schritt weiter: Auch wenn gar nicht feststeht, dass man überhaupt Vater des Kindes ist, darf einem nicht pauschal der Umgang mit dem Kind verwehrt werden.

Das ist konsequent: Dem EGMR geht es nicht darum, die Frage der Vaterschaft biologistisch zu entscheiden und Männern, die mit anderer Leute Ehefrauen schlafen, zu dem Recht zu verhelfen, deren Familien kaputtzumachen.

Vielmehr geht es, wie schon in Anayo, um das Versäumnis der deutschen Gerichte, sich mit den konkreten Umstände des Falls zu befassen – vor allem mit den Belangen des Kindes. Vielleicht ist es zu dessen Schaden, wenn sich ein fremder Mann ihm nähert und behauptet, er sei sein Vater. Vielleicht aber auch nicht. Ein Familienrecht, das das Verhältnis von biologischem Vater und Ehemann abstrakt-generell als eine Frage von Vorrang des einen vor dem anderen behandelt, bekommt diese Frage gar nicht erst in den Blick – und das ist es, was der EGMR als Verstoß gegen Art. 8 EMRK brandmarkt:

Having regard to the realities of family life in the 21st century, (…), the Court is not convinced that the best interest of children living with their legal father but having a different biological father can be truly determined by a general legal assumption. Consideration of what lies in the best interest of the child concerned is, however, of paramount importance in every case of this kind (…). Having regard to the great variety of family situations possibly concerned, the Court therefore considers that a fair balancing of the rights of all persons involved necessitates an examination of the particular circumstances of the case.

Diese EGMR-Rechtsprechung finde ich auch über die konkrete familienrechtliche Frage hinaus spannend: Abstrakt-generelle Fallgruppenpriorisierung als Menschenrechtsverstoß – was heißt das eigentlich genau? Wie genau wird mein Menschenrecht verletzt, wenn sich der Gesetzgeber gegen eine kasuistische Interessenabwägung entscheidet? Was passiert genau mit mir und meinen Rechten, wenn ein Gericht verabsäumt, die Interessen eines Dritten (des Kindes ) in Betracht zu ziehen? Wie verhält sich diese Art von Menschenrechtsverstoß zu den Verfahrensgrundrechten, wie zum Gleichheitssatz?

Jemand auf der Suche nach einem Dissertationsthema? Das wäre doch was…


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Unterkomplexes Väterrecht ist menschenrechtswidriges Väterrecht, VerfBlog, 2011/9/15, https://verfassungsblog.de/unterkomplexes-vterrecht-ist-menschenrechtswidriges-vterrecht/, DOI: 10.17176/20181008-120523-0.

9 Comments

  1. G. Kraemer Thu 15 Sep 2011 at 16:57 - Reply

    Ein Umgangsrecht für den One-Night-Stand, selbst wenn der nicht mal erwiesenermaßen der Erzeuger ist?? Was soll man da denn im Einzelfall prüfen?? “Geh schön mit dem Onkel spielen, mit dem hat vor 8 Jahren die Mama den Papa betrogen, und vielleicht ist der Papa gar nicht Dein Papa, sondern der Mann da ist Dein Papa.” Man könnte heulen.

    (Und man könnte den Tag verfluchen, an dem man sich mit dem Beitritt zur EGMR noch so einen Haufen Justizdesparados eingehandelt hat, die jetzt aus ein paar harmlosen Programmsätzen die Befugnis ableiten, 47 demokratischen Nationen ihre individuellen Richtigkeitsüberzeugungen z.B. vom Familienrecht zu oktroyieren.)

  2. Max Steinbeis Thu 15 Sep 2011 at 20:04 - Reply

    Erst mal Urteil lesen, bevor Sie zu heulen anfangen. Wenn der Onkel nur ein One-Night-Stand war, dann hat er beim EGMR keine Chance. Es geht darum, ob im Einzelfall der leibliche Vater dem Kind guttut oder nicht. Drum heißt’s ja Einzelfallprüfung.

  3. Obiter Dictum Thu 15 Sep 2011 at 20:51 - Reply

    Das ist in der Tat erstaunlich, denn ansonsten scheint abstrakt-generelle Fallgruppenpriorisierung ja nachgerade ein menschenrechtliches Gebot zu sein.

  4. Max Steinbeis Thu 15 Sep 2011 at 21:29 - Reply

    Obiter! Lange nichts gehört von Ihnen. Schön, dass Sie sich wieder mal melden.

  5. G. Kraemer Thu 15 Sep 2011 at 23:30 - Reply

    Für den EGMR ist entscheidend, dass der Mann sich für das Kind interessiert – ob One-Night-Stand oder längerdauerndes ehebrecherisches Verhältnis (alles, was der Bf. sonst noch so vorträgt, wird von der Kindsmutter ja lebhaft bestritten), spielt in der Argumentation des EGMR keine nennenswerte Rolle.

    Als Sie Ihre Überschrift zu diesem Beitrag gebildet haben, wussten Sie im Übrigen noch, dass es hier um “Väterrecht” geht und nicht um Kindeswohl. Das ist auch eine vollkommen richtige Interpretation des Urteils – das Kindeswohl ist hier ein Lippenbekenntnis, und Umstände, die es bei einer “Einzelfallprüfung” als irgendwie positiv für das Kind erscheinen lassen könnten, dass man seine bislang heile Welt jetzt mal richtig schön kaputtmacht, werden vom EGMR nicht genannt und sind doch auch nicht im Ernst vorstellbar.

    Aber das Dollste ist ja, dass der Mann möglicherweise gar nicht der Erzeuger war, und der EGMR auch nicht verlangt, dies jetzt mal schleunigst zu klären. Er hält also offenbar im Ernst für möglich, die Eltern zu zwingen, ein Kind vom Kleinkindalter bis zur Volljährigkeit einem wildfremden und womöglich biologisch nicht verwandten Mann anzuvertrauen. Grotesker geht’s ja wohl nicht.

    (Faktisch schafft der EGMR so eine Art mittelbaren staatlichen Zwang zum Vaterschaftstest – die einzige Chance der Eltern, den Prätendenten von dem Kind fernzuhalten, wäre ja der Nachweis der bilologischen Vaterschaft des Ehemannes der Mutter. Und staatlicher Zwang zum Vaterschaftstest im Namen einer Norm, bei der es dem Normgeber darum ging, den Staat aus der Familie herauszuhalten. Man möchte heulen, wie gesagt.)

  6. Obiter Dictum Fri 16 Sep 2011 at 21:07 - Reply

    @ Max Steinbeis:
    Vielen Dank für diese freundliche Begrüßung nach langer, durch die Umstände erzwungener Kommentar-Abstinenz.

    Zum Thema noch etwas:
    Meines Erachtens hat diese Judikatur schon eine biologistische Grundtendenz. Denn sie setzt voraus, dass der Kontakt zwischen dem leiblichen Vater und dem Kind eine privilegierte bzw. zu privilegierende Beziehung ist.
    Denn wenn es nur um das Kindeswohl ginge, müsste man auch Männern, die in keinem biologischen oder juristischen Verwandtschaftsverhältnis zu einem Kind stehen, sich aber redlich darum bemühen, gegen den Willen der Mutter eine Vaterrolle einzunehmen, eine derartige Einzelfallprüfung bzgl. des Rechts auf Familienleben ebenfalls zugestehen.
    Und wenn es um Väterrechte geht, dann kann man diese biologistische Grundannahme nicht wegdiskutieren, denn warum soll ein Erzeuger, der mit dem Kind nie in einer familiären Konstellation zusammengelebt hat, mehr Rechte genießen als z.B. der nette Nachbar, der einen regelmäßigen Kontakt mit dem Kind pflegt?
    So hart das klingt und sosehr meine Meinung durch zivil-, insbesondere erbrechtliche Praktikabilitätserwägungen beeinflusst sein mag: Es gab gute Gründe dafür, den juristischen vom biologischen Verwandtschaftsbegriff abzukoppeln. Dabei sollte es auch bleiben.

  7. Max Steinbeis Fri 16 Sep 2011 at 22:13 - Reply

    Ist es dann auch Ausdruck einer “biologistischen Grundtendenz”, dem Kind einen Anspruch auf Kenntnis seiner Abstammung zu geben, BVerfGE 79, 256ff.?

    Wenn jemand ein Kind gezeugt zu haben glaubt und darunter leidet, es nicht kennenlernen zu können, dann spinnt der doch nicht einfach. Warum soll das von vornherein keine Position sein, die es verdient, rechtlich gehört zu werden?

    Warum soll man die Kollision mit den natürlich auch schutzwürdigen Interessen der Familie, dass nicht irgend ein Idiot daherkommt und sinnlos eine intakte Familie ins Chaos stürzt, der Einzelfallabschätzung der Gerichte überlassen können? Nur darum geht es doch.

    Dass der Mann nicht beweisen kann, dass er tatsächlich der Vater ist, ändert doch an dem Dilemma nichts: Das kann er ja auch nicht, solange die Mutter das nicht will.

    Ich bin ja sonst immer sehr dafür, das Recht von biologistischen Rückgriffen auf scheinbare Naturgesetzlichkeiten, mit denen man sich vor der Verantwortung herumdrückt, rechtliche Sachverhalte rechtlich zu definieren, frei zu halten. Beginn des Rechts auf Leben fällt mir da zB ein…

    Aber das kann nicht bedeuten, dass man so tut, als sei eine Konstellation aus vier Personen (Mutter, Vaterschaftsprätendent 1, Vaterschaftsprätendent 2, Kind) nur eine aus drei Personen (Mutter, Vater, Kind). Eine solche Vierer-Konstellation dadurch zu entschärfen zu versuchen, dass man einem der vier sagt, dich gibt’s rechtlich gar nicht, ist vielleicht zivil- und erbrechtlich praktikabel, aber dem Vierten wird da halt nun mal für meine Begriffe eklatant Unrecht getan.

    Im Übrigen, mit zivil- und erbrechtlichen Praktikabilitätserwägungen wurde auch lange Zeit das uneheliche Kind aufs Grässlichste diskriminiert. Da sind wir doch auch nicht mit einverstanden, oder?

  8. Obiter Dictum Wed 21 Sep 2011 at 20:05 - Reply

    Ja, es ist Ausdruck einer biologistischen Grundtendenz, wenn man dem Kind einen Anspruch auf Kenntnis seiner Abstammung gibt. Dass das BVerfG (und ganz ähnlich der österreichische VfGH) diesen Anspruch für gegeben hält, ändert daran nichts. Denn das Kind kann an der Kenntnis seiner Abstammung doch nur dann ein juristisch beachtliches Interesse haben, wenn man diese als für das Kind prägend erachtet. Und der biologische Vater ist ja nur deshalb für die Einzelfallprüfung qualifiziert, weil er eben der biologische Vater ist.

    Und nein, die Benachteiligung unehelicher Kinder ist durch nichts zu rechtfertigen: Denn diese Kinder können ja wirklich nichts für die rechtliche Beziehung oder Nichtbeziehung, in der ihre biologischen Eltern zueinander stehen. Die Juristerei ist bekanntlich ars boni et aequi und es ist weder aequum noch bonum, jemanden für etwas zu bestrafen, das er nicht beeinflussen kann.

    Aber wenn man ungeachtet des Vorstehenden davon ausgeht, dass diese Einzelfallprüfung statthaft ist: Anhand welcher Kriterien soll diese erfolgen? Nach Maßgabe des Kindeswohls oder des Interesses bzw der Bemühungen des leiblichen Vaters, sein leibliches Kind kennenzulernen? Gelangt man da nicht in vielen Fällen zu einem argumentativen Zirkel?

  9. […] des biologischen Vaters auf Familien- bzw. Privatleben vereinbar? Nach den Entscheidungen Anayo und Schneider hätte man vielleicht vermuten können, dass er auch hier den biologischen Vätern ein Recht auf […]

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