Utopia im Nordatlantik
Dieser Artikel ist heute in der “Welt” erschienen.
Auf einer fernen Insel, weit im Norden, sturmumtost, mit Eispanzern bedeckt und von Vulkanschlünden zerrissen, lebte einst ein Volk, das sich kümmerlich von der Schafzucht und vom Fischfang nährte. Sie waren schwere Zeiten gewohnt, Hungersnöte und Fremdherrschaft, bis sich ihr Los mit einem Mal zu wenden schien: Reiche und mächtige Nationen wollten mit ihnen Handel treiben, wollten ihren Fisch, wollten ihren Strom und wollten die Zinsen, die ihre Banken zahlten. Und Geld floß zuhauf in die Taschen der Inselbewohner, ihr Leben wurde bunt und lustig. Sie gingen zum Shoppen nach Manhattan statt zum Fischen auf den Kutter, sie kauften überdimensionierte Geländewagen, jedes Jahr einen neuen. Und ihre braven Politiker, die sich wie jeder im Lande mit Vornamen anreden ließen, wandelten sich zu aalglatten Finanzhaien, die lieber logen als mit schlechten Nachrichten den Börsenboom zu gefährden.
Und dann kam der Tag, da das ganze Inselvolk mit einem Mal merkte, dass das ganze Geld, das ganze lustige Leben nur eine einzige riesengroße Lüge gewesen war, und die Wahrheit ein entsprechend riesengroßer Berg von Schulden. Die reichen und mächtigen Nationen waren gar nicht mehr freundlich. Sondern sie wollten ihr verschwundenes Geld zurück.
Das Inselvolk jedoch klagte nicht lang, sondern entsann sich ihrer seiner alten Tugenden, versammelte sich, um sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und als Gemeinschaft von freien Männern und mittlerweile auch Frauen in brüder- bzw. schwesterlichem Zusammenwirken über alle Parteigrenzen hinweg die politischen Fundamente ihres Zusammenlebens neu zu gießen – in Gestalt einer neuen Verfassung.
Als Narrativ ist sie schier unwiderstehlich, diese Island-Saga von Übermut, Strafe und Neubeginn. Vor allem ihr letzter Akt scheint wie eine real gewordene Utopie: 25 Männer und Frauen, aus der Mitte des isländischen Volks gewählt, setzen sich zusammen und schreiben einen Verfassungsentwurf für ihr Land. Und das isländische Volk ist über Facebook, YouTube und Internet-Livestream die ganze Zeit mit dabei, kommentiert, kritisiert, diskutiert, schlägt Änderungen vor – ein wahr gewordener Traum des bürgerlich-intellektuellen Republikanismus.
Wer geglaubt hatte, die Amateure würden scheitern, hatte sich getäuscht: Ende Juli ist der Entwurf fertig geworden. Er stärkt die Beteiligung des Volks an der Politik und öffnet sich für neue verfassungspolitische Entwicklungen wie die Garantie der Netzneutralität und eine umfassende Transparenzpflicht des Staates. Jetzt liegt der Ball wieder im Feld der Politik: Die Entscheidung, den Entwurf in Kraft zu setzen, liegt beim Parlament.
Für die Politik ist schon die bloße Existenz dieses Gremiums eine Herausforderung: Jeder Isländer und jede Isländerin konnte sich für den Verfassungsrat zur Wahl stellen, ausgenommen Politiker mit Regierungsamt oder Parlamentsmandat. Hier sollte der Beweis erbracht werden, dass Politik möglich ist ohne Grabenkämpfe, Lobbyismus, Karrierismus und strategische Machtspiele. Hier sollte ein Modell errichtet werden für eine neue, eine andere Art der Politik, die nicht in Lüge und Schulden mündet, sondern in Verantwortung und Freiheit.
Für ein solches Modell gibt es nicht nur in Island Nachfrage: In diesen Zeiten der Finanz- und Eurokrise gerät überall in Europa die parlamentarische Demokratie in Lieferschwierigkeiten. Immer mehr Bürger verlieren ihren Glauben, dass die Politik in den Händen der Profis am besten aufgehoben ist. Teils bleibt dieser Glaubensverlust latent, teils bricht er offen aus, wie auf dem Syntagma-Platz in Athen, der Puerta del Sol in Madrid und der künftigen Baustelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs.
Der Hauptunterschied zwischen dem Verfassungsrat und dem herkömmlichen demokratischen Politikparadigma ist, dass der Verfassungsrat nicht abstimmt. Seine Mitglieder entscheiden stets und prinzipiell im Konsens. Anstatt Meinungsunterschiede zur Profilierung im politischen Wettbewerb auszunutzen und zu vertiefen, macht der Verfassungsrat sie fruchtbar für die Suche nach der besten Lösung: Wer anderer Meinung ist als der Rest, wird nicht einfach überstimmt, sondern als Träger nützlicher Informationen ernstgenommen und einbezogen.
Island ist freilich für eine solches Demokratieexperiment geeignet wie so leicht kein zweiter Ort auf der Welt: Bevölkerungsmäßig ist das Land mit seinen gut 300.000 Einwohnern kleiner als Bielefeld. Island ist überdies ethnisch, ökonomisch, linguistisch und religiös vergleichsweise homogen, blickt auf eine lange republikanische Tradition zurück, ist territorial abgeschlossen und rings von Ozean umgeben – die sprichwörtliche Insel, die fast alle Klassiker der utopischen Literatur zur Ansiedelung ihrer Gedankenexperimente verwenden.
Doch selbst unter Laborbedingungen wie in Island zeigt sich, dass die Praxis viel haariger ist, als das hehre Ideal es vermuten lässt. Das fing schon bei der Wahl zum Verfassungsrat an, die viele als chaotisch empfanden: Wie wählt man aus Hunderten von idealistischen Individualisten die 25 Besten aus? Parteien, so unbeliebt sie auch sein mögen, haben doch zumindest einen unbestreitbaren Vorzug: Sie organisieren die Vielfalt und reduzieren die Optionen auf ein handhabbares Maß.
Vor allem aber hilft auch der kühnste Utopismus nicht über die Tatsache hinweg, dass die Verfassungsreform im Rahmen der geltenden Verfassung stattfinden muss: Und die sieht vor, dass ihre Änderung vom Parlament beschlossen und dieses danach aufgelöst werden muss, auf dass das neu gewählte Parlament die Verfassungsreform bestätigt.
Das heißt faktisch, dass vor 2013, wenn turnusmäßig wieder Wahlen anstehen, aus der Reform sowieso nichts wird – wenn überhaupt. Die derzeitige linke Regierung hat derzeit in den Umfragen keine Mehrheit. Und die konservative Opposition macht keinen Hehl daraus, dass sie das ganze Experiment ohnehin für im höchsten Grade überflüssig hält.
Doch auch, wenn das isländische Experiment am Ende an der politischen Wirklichkeit scheitert – man sollte es nicht als blauäugige Träumerei einer Handvoll naiver Idealisten abtun. Der Verfassungsrat ist keine Utopie im wörtlichen Sinne: Es gab ihn wirklich. Was er an Innovationen produziert, was für Erfahrungen er gemacht, welche Verfahren er erprobt hat und mit welchem Resultat, das lohnt das Studium allemal. Denn in Zeiten wie diesen, wo in einem EU-Mitgliedsstaat wie Griechenland der Zusammenbruch des ganzen politischen Systems vorstellbar geworden ist, sollte die Demokratie für jede Gelegenheit, dazuzulernen, dankbar sein.
Ein wunderschöner Artikel von einer Vision – ich habe Gänsehaut beim lesen bekommen – allein die Vorstellung das so etwas versucht wird ist lobenswert und ich hoffe wirklich, dass es gelingt, allein um den anderen Nationen zu zeigen, wie sehr sie doch auf dem Holzweg sind mit ihrer immer währenden Gier nach mehr – mehr Macht, mehr Geld, mehr Selbststsucht.
[…] De Souverän, dat ass de Bierger8, wéi en z.B. momentan um Beispill Island gesäit. Während déi al Garde u Politiker mat Ënnerstëtzung vun der Wirtschaft d’Land an de Bankrott gezunn hunn sinn et d’Awunner selwer déi Island zu enger vun de modernsten Demokratien op der Welt maachen. Zum Entsetze vun den alle Politiker, déi de “Crash” iwwerlieft hunn hunn et d’Islänner fäerdeg bruecht eng nei Verfassung ze “crowd-sourcen” a per gewieltem Biergerrot nidder ze schreiwen[Méi dozou am Verfassungsblog.]. […]
[…] Sommer war ich in Island, um mir anzuschauen, wie dort die Bürger an der professionellen Politik vorbei eine neue […]
[…] Stückchen Vulkangestein im Nordatlantik ist entstanden, als ich vor zwei Jahren im Auftrag der WELT nach Reykjavik fuhr, um das isländische Verfassungsexperiment aus der Nähe zu beobachten. Diesmal […]