Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht
Plädoyer für eine prozedurale Perspektive
Die Debatte um die Einführung einer möglichen Impfpflicht hält an. Hatten viele Politiker*innen noch im Frühjahr eine solche Pflicht abgelehnt, hat sich dies im Lichte der aktuellen Entwicklungen nun geändert und es werden zunehmend Stimmen laut, die eine Impfpflicht fordern – auf der Ebene der Bundesländer, in Deutschland sowie kürzlich auch auf der Ebene der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beurteilte eine Impfpflicht für Kinder (Masern, Mumps, Röteln, Kinderlähmung, Hepatitis B, Tetanus) in einem tschechischen Fall bereits im April als konventionskonform und lehnte im September im einstweiligen Rechtsschutz die vorläufige Aufhebung einer Corona-Impfpflicht für den Gesundheitssektor in Griechenland ab.
Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit ist bereits einiges gesagt worden – der Trend bei den Kolleg*innen scheint dabei aber dahin zu gehen, Impfpflichten jedenfalls grundsätzlich im Licht der aktuellen vierten Welle für verfassungsmäßig zu halten. Diese Ansicht teilen wir grundsätzlich. Die Frage wird dabei klassisch als Frage der Verhältnismäßigkeit betrachtet. Das bedeutet, der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfung muss im Lichte anderer gesetzgeberischer Ziele und Schutzpflichten verhältnismäßig sein. Gegner*innen einer Impfpflicht betonen dabei in der Regel zu Recht die hohe Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG), die für staatliche Eingriffe insoweit hohe Hürden aufstelle. Befürworter*innen verweisen demgegenüber – ebenfalls zu Recht – angesichts überfüllter Krankenhäuser auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, den Schutz unfreiwillig Ungeimpfter sowie die möglichen Langzeitfolgen von Coronainfektionen, deren statistische Bedeutung aktuell noch kaum zu überschauen ist.
So formuliert ist der Konflikt kaum auflösbar und es erscheint – wie nicht selten bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung – unklar, welche Rechte bzw. Pflichten hier im konkreten Fall rechtlich vorgehen. Dies gilt insbesondere, weil sich für die mit der Impfpflicht verbundenen unmittelbaren körperlichen Eingriffe nur wenige Parallelen in der bisherigen Verfassungsrechtsprechung finden. Insbesondere erscheinen alte Entscheidungen wie etwa zum zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln beim Verdacht von Drogendelikten mit ihrem strafrechtlichen Zuschnitt auf die Sicherstellung von Beweismitteln wenig hilfreich. Bereits vom Zweck her, den die Anwendung unmittelbaren Zwangs von staatlicher Seite aus verfolgt, ist dies nicht mit einer zwangsweisen Impfung vergleichbar. Selbst die Impfpflicht bei Masern – zu der eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch aussteht – ist nur bedingt vergleichbar, gibt es einerseits bei Masernerkrankungen doch eine gesichertere Datengrundlage, was Krankheitsverlauf, Wirksamkeit des Impfstoffes und mögliche Impfkomplikationen angeht, andererseits nicht den Kontext der andauernden Pandemie. Auch führt die Masernimpfung zur grundsätzlich lebenslangen Immunität, während die Dauer des Impfschutzes der Covid-19-Impfstoffe ausweislich des RKI nach ca. 4-6 Monaten schwindet und die Transmission trotz Impfschutzes nicht verhindert werden kann.
Wie könnte das Bundesverfassungsgericht im Fall der Einführung einer Impfpflicht mit dieser Situation überzeugend umgehen?
Wir meinen, die überzeugendste Lösung in dieser Situation liegt in einer Prozeduralisierung der verfassungsrechtlichen Prüfung – und zwar auf der Ebene der Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung der Verhältnismäßigkeit. Eine solche Prozeduralisierung lässt sich in zweifacher Hinsicht denken, die wir kurz in ersten Zügen skizzieren wollen.
Zum einen könnte Prozeduralisierung im Sinne eines Erfordernisses verstanden werden, dass sich gesetzgeberische Maßnahmen in ein insgesamt kohärentes Regelungsregime einfügen lassen. Im deutschen Verfassungsrecht kann man dabei an Konsistenzerfordernisse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG oder an die jüngste Rechtsprechung zur Bundesnotbremse denken. Eine Parallele ließe sich auch zur Verpflichtung zur kohärenten Rechtsetzung bei der Bekämpfung von Glücksspiel ziehen: Der EuGH erachtet ein staatliches Monopol (und damit zugleich die flächendeckende Kriminalisierung privater Anbieter) nur dann für gerechtfertigt, wenn der Staat die Bekämpfung der Gefahren des Glücksspiels „in systematischer und kohärenter Weise verfolgt“ (EuGH, 15.9.2011). Auf die Politik der Pandemiebekämpfung gemünzt, spräche dann einiges dafür, dass sich eine kollektive Inpflichtnahme Privater (mit ihrem Körper) – neben dem ganz grundsätzlichen Nutzenvorbehalt – nur rechtfertigen lässt, wenn der Staat zugleich seiner Gewährleistungsverantwortung im Gesundheitsbereich gerecht wird.
Dies könnte man etwa im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung als Frage nach anderen (gleich wirksamen) Schutzmöglichkeiten thematisieren. Insoweit man hier zunächst an Freiheitseinschränkungen denkt, wäre zweifelhaft, ob diese wirklich ein milderes Mittel darstellen. Ein Verweis auf die Einführung einer Wahlmöglichkeit – Impfung oder Freiheitseinschränkungen (wie sie in den 2G-Regeln faktisch enthalten ist) – dürfte dabei nur beim Zugang zu konkreten Örtlichkeiten, aber deutlich schlechter bei etwaigen Kontaktbeschränkungen kontrollierbar und insoweit auch nicht gleich wirksam sein. Jedenfalls insoweit man primär auf den Schutz des Gesundheitssystems (Überlastung der Krankenhäuser) abstellt, stellt sich die Frage nach dem Ausbau und der Erweiterung staatlicher Kapazitäten als milderes Mittel. Zwar kann die Lösung nicht stets darin liegen, “mehr Geld auszugeben”; trotzdem lassen sich gerade mit dem Blick auf die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und der Ausrichtung an marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten, sichtbar auch am „Pflegenotstand“ der vergangenen Jahre, hier durchaus kritische Fragen stellen. Man wird deshalb jedenfalls verlangen können, dass eine Impfpflicht Teil eines umfassenderen Schutzkonzepts im Sinne einer Daseinsvorsorge darstellt, das längerfristig Lösungen für den Umgang mit Corona bietet, die über die Statuierung einer Impfpflicht und andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen hinausgehen. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass ein Impfschutz – wie nun bekannt – mit der Zeit nachlässt und unklar erscheint, was die Impfpflicht genau umfassen sollte (Stichwort Boosterimpfung).
Eine zweite Form der Prozeduralisierung ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seltener, wenn auch nicht ganz neu. Ein Beispiel hierfür wäre das Urteil des Gerichts zur Einführung der Arbeitnehmermitbestimmung von 1981, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Reform auch mit Blick darauf bejaht wurde, dass der Gesetzgeber diese umfassend unter Einschluss der beteiligten Kreise und Expert*innen diskutiert und sich auf dieser Grundlage eine Meinung gebildet habe. Ganz ähnlich argumentiert auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wenn es um die Frage geht, welche Ermessensspielräume (margin of appreciation) den Mitgliedstaaten in konkreten Fällen zukommen (u.a. Kleinlein 2019). Weitere Beispiele für eine so (ähnlich) verstandene Prozeduralisierung finden sich in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte andere Länder wie u.a. Südafrika.
Insoweit wäre – am überzeugendsten wohl auf der Ebene der Angemessenheit – die Qualität der gesetzgeberischen Debatte über die Impfpflicht zu berücksichtigen. Dabei dürfte aus verfassungsrechtlicher Sicht zu begrüßen sein, dass die Abstimmung über das etwaige Gesetz nach aktuellen Berichten den Abgeordneten freigestellt wird und insofern keine Fraktionsdisziplin gelten soll. Denn die Fraktionsdisziplin erleichtert Abgeordneten die Entscheidung, indem eine Parteilinie vorgegeben wird. Dies dürfte in der Praxis für einzelne Abgeordnete ein intensives Nachdenken und den Austausch von Argumenten als weniger notwendig erscheinen lassen. Letzteres ist aber für die Debatte um die Impfpflicht, in der es um grundlegende Grundrechtsfragen mit einer starken ethischen Dimension geht, gerade wichtig. Es würde darüber hinaus auch der außerordentlichen gesamtgesellschaftlichen Dimension des zugrundeliegenden Konflikts gerecht und könnte, wie bei ähnlichen den Abgeordneten freigestellten Abstimmungen in der Vergangenheit, zur nachhaltigen Beilegung des tiefen gesellschaftlichen Konflikts beitragen. Zweitens müssten in der Diskussion um Impfpflichten die medizinischen Expert*innen, eine Bandbreite an Sachverständigen aus unterschiedlichen Disziplinen und Impfgegner*innen eine Stimme erhalten. Dabei müssten auch Nebenwirkungen der Impfung ebenso wie (wenn auch geringe) Risiken von Langzeitschäden und entsprechende Sorgen thematisiert werden. Zweifel und Bedenken, auch wenn sie letztlich nicht wissenschaftlich überzeugen, sollten eine Stimme erhalten. Nicht zuletzt braucht es einen ernst gemeinten Austausch von Argumenten, bei dem sich die Abgeordneten auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes mit dem Gewicht der unterschiedlichen Rechtsgüter redlich auseinandersetzen und nicht in Polemik verfangen.
Soweit Regierung und Bundestag beides plausibel darlegen können – dass sich Impfpflichten in ein übergeordnetes langfristiges Schutzkonzept sinnvoll einfügen und sich die Abgeordneten umfassend mit den wissenschaftlichen, grundrechtlichen und ethischen Aspekten des Falles auseinandergesetzt haben – dürfte wenig für eine Verfassungswidrigkeit sprechen. Damit sind freilich noch nicht alle Fragen gelöst. So dürfte etwa eine Durchsetzung der Impfpflicht durch physischen Zwang wohl nicht mehr zu rechtfertigen sein. Auch über Ausnahmeregelungen wird zu sprechen sein. Und nicht zuletzt stellt sich jenseits des Rechts natürlich auch die Frage nach der politischen Klugheit.
Für wertvollen Input und kritische Anregungen danken wir Aqilah Sandhu und Ibrahim Kanalan.
Ein interessanter Ansatz zu diesem wichtigen Thema! Zwei Gedanken dazu:
(1) Die Verhältnismäßigkeit kann schwer seriös geprüft werden, bevor “die (allgemeine) Impfpflicht” deutlich konkretisiert wird. So bezeichnet werden medial und politisch derzeit ganz unterschiedliche Modelle, auch wenn hier mal berufsgruppenbezogene Pflichten im Arbeits-/Dienstrecht ausgeklammert werden: Von 2G-Konzepten (“indirekte Impfpflicht”) über eine sozialrechtliche Regelung (siehe etwa H.M. Heinig: https://twitter.com/hmheinig/status/1462125377606893569) und ganz verschieden gestaltete Bußgeltatbestände bis hin zum Verwaltungszwang. Ausnahmeregelungen spricht der Beitrag an, auch Elemente wie die Frist und die Höhe eines möglichen (periodischen?) Bußgelds wären zu klären. Derzeit kann man höchstens sagen, dass verfassungsrechtlich eine allgemeine Impfpflicht nicht per se ausgeschlossen ist, oder?
(2) Als Idee für die Prozeduralisierung, wobei ich nicht sicher bin, inwieweit das von einer politischen Forderung zu einer verfassungsrechtlichen Vorgabe werden kann:
Die Impfquoten sind extrem unterschiedlich in den Bundesländern – Bremen kommt insgesamt an westeuropäische Standards heran (80%, bei den 18+ sogar 93%), bei den 12-17 Jährigen liegt Schleswig-Holstein mit 61% auffällig weit vorne (Tabelle hier: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquotenmonitoring.html). Sollten nicht alle Bundesländer zunächst einmal dokumentieren, inwieweit sie die Methoden übernommen haben, die im föderalen Vergleich bislang jeweils am besten funktioniert haben?
Ich weiß nicht, inwiefern der Hinweis auf die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems relevant ist.
Erstens geht es um eine akute Situation. Der Bau von Krankenhäusern und die Ausbildung von Ärzten und Pflegepersonal würde Jahre in Anspruch nehmen.
Zweitens lebt das deutsche Gesundheitssystem auch jetzt schon auf allen Ebenen vom Abwerben ausländischer, hauptsächlich osteuropäischer Fachkräfte. Eine zügige Kapazitätserhöhung würde also zum Brain-Drain anderswo führen. Das wäre nicht nur unsolidarisch, sondern auch epidemiologisch kontraproduktiv.
Der Beitrag kann in vielfacher Hinsicht nicht überzeugen. Er beschreibt lediglich banale Selbstverständlichkeiten: Die gewünschte Prozedualisierung findet doch ohnehin statt in allen Gesetzgebungsverfahren, die gerade den Gesundheitssektor betreffen (und dafür muss man nun wirklich nicht erst in die Rspr. des Verfassungsgerichts der 80er-Jahre zurückgehen). Warum Impfgegner (sic!) in dem Gesetzgebungsverfahren besonders gehört werden sollten, erschließt sich dem Leser auch nicht. Bei derartig gravierenden Grundrechtseingriffen kann und darf eine Debatte nicht durch jene Menschen bestimmt werden, die die Wissenschaft verachten.
Wenn der legitime Zweck die Aufrechterhaltung intensivmedizinischer Kapazitäten ist, wäre die Einführung einer altersabhängigen Impfpflicht nicht das mildere Mittel? Müsste sich nicht die Debatte generell in die Richtung verschieben, dass man vor allem Menschen mit Maßnahmen belegt, die ein ausreichendes Risiko in Zusammenhang mit Covid haben, das Gesundheitssystem übermäßig stark zu belasten?