Verfassungsmüdigkeit
Chiles neuer Verfassungsprozess
Im März 2023 beginnt ein neuer Verfassungsprozess in Chile. Die Rahmenbedingung hierfür bildet ein Gesetz, das das Chilenische Parlament im Januar 2023 mit großer Mehrheit beschlossen hat. Zuvor war im Dezember 2022 nach dreimonatigen Verhandlungen ein neues “Abkommen für Chile” (Acuerdo para Chile) zwischen den verschiedenen Abgeordneten beschlossen worden, das sich nun auch in dem Gesetzesvorschlag widerspiegelt.
In der Verhandlungsphase von September bis Dezember steckte vielen Abgeordneten noch das Ergebnis des Referendums vom 4. September 2022 über den vorherigen Verfassungsvorschlag in den Knochen, der mit einer Mehrheit von 62 % abgelehnt wurde.
Nun wurde mit dem Abkommen für Chile ein neuer Anlauf gestartet. Schon jetzt zeichnet sich allerdings ab, dass der neue Verfassungsprozess sehr viel stärker durch die politisch Etablierten geprägt ist als der vorherige. Dem steht eine Bevölkerung gegenüber, deren Aufmerksamkeit für und Erwartung an den neuen Verfassungsprozess deutlich zurückgegangen ist.
Undurchsichtige Expertenkommission
Der geschlossene und wenig partizipative Charakter des neuen Prozesses lässt sich zunächst anhand der Expertenkommission nachvollziehen, die in dem Abkommen von Chile als Organ in dem Verfassungsprozess festgelegt wurde. Der letzte Verfassungsprozess wurde unter anderem dafür kritisiert, dass die vom Volk gewählten Mitglieder des Konvents über keinerlei Expertise im Bereich des Verfassungsrechts verfügten.
Dieser Vorwurf soll nun in dem neuen Verfassungsprozess mit der Expertenkommission entkräftet werden, die am 6. März dieses Jahres als erstes Organ des neuen Verfassungsprozesses zusammenkommen und drei Monate Zeit haben soll, einen ersten Verfassungsentwurf zu erarbeiten. Hierzu haben der Senat und der Kongress bereits jeweils 12 Mitglieder bestimmt.
Jede politische Partei konnte dabei nach eigenen Maßstäben und Kriterien die Expert:innen auswählen. Die Auswahl fand hinter verschlossenen Türen statt und wurde nicht transparent gestaltet. Vielmehr ging es vielen Parteien darum, Parteifreund:innen und Politiker:innen mit langer politischer Laufbahn als Expert:innen auszuwählen und es wurden Namen von Kandidat:innen in den Raum geworfen, die gegenseitig genehmigt wurden: “Wenn du meinen Kandidaten akzeptierst, dann akzeptiere ich auch deinen”. Die Proteste im Jahr 2019, die den neuen Verfassungsprozess erst angestoßen hatten, richteten sich eigentlich genau gegen jene Art des politische Geschacheres und gegen die immergleichen politischen Eliten in wichtigen Ämtern. Daher zeigt sich ein Teil der Bevölkerung, der bei den Protesten einen tiefergehenden Wandel gefordert hatte, bereits jetzt enttäuscht von dem neuen Verfassungsprozess.
Übergangene Forderungen
Ein weiterer Kritikpunkt an dem vorherigen Verfassungsprozess war der langwierige Prozess, der sich durch die Pandemie noch einmal mehr in die Länge gestreckt hat. Dies soll im kommenden Verfahren anders sein. Während die Expertenkommission arbeitet, wird am 7. Mai in einer obligatorischen und allgemeinen Wahl ein Verfassungsrat mit 50 paritätischen Mitgliedern aus dem Volk gewählt, der am 7. Juni zusammenkommen und dann fünf Monate Zeit haben wird, um auf Grundlage des Vorschlags der Expert:innen einen neuen Verfassungsvorschlag zu erarbeiten. Am 17. Dezember soll dann das abschließende Referendum über den neuen Vorschlag abgehalten werden. Dieser Zeitplan ist deutlich kürzer als der vorherige, sodass der Bevölkerung diesmal ein überschaubareres Verfahren geboten wird.
Das “Abkommen für Chile” hat darüber hinaus zwölf Punkte festgeschrieben, die in Teilen im vorherigen Verfassungsvorschlag und in der anschließenden gesellschaftlichen Debatte umstritten waren und die nun für den neuen Prozess als Grundlage gelten sollen. So sind die nationalen Symbole, wie die Flagge, aber auch die polizeilichen Institutionen, als bereits gegeben in dem neuen Verfassungsvorschlag festgeschrieben. Dabei waren die Rolle und weiten Kompetenzen der polizeilichen Organe nach den sozialen Protesten 2019 und auch in dem vorherigen Verfassungsvorschlag in Frage gestellt worden.
In diesem Rahmen waren auch die bisherigen politischen Institutionen im vorherigen Verfassungsprozess in Frage gestellt worden. Die politischen Institutionen sichern sich in den nun festgeschriebenen Punkten im Abkommen auch ihr eigenes Überleben, da beispielsweise im vorherigen Diskurs teilweise von einigen Stimmen gefordert wurde, den Senat abzuschaffen. Gleichzeitig wurde in dem Abkommen aber auch das Prinzip eines Sozialstaats fest verankert. Die vielen Diskussionen im vorherigen Prozess bezüglich der Plurinationalität und der Rolle der indigenen Bevölkerung haben keinen Eingang in das Papier gefunden und sind somit ebenfalls nicht Teil des kommenden Verfassungsprozesses. Die indigenen Völker sollen verfassungsrechtlich anerkannt werden, aber es wird nur eine chilenische Nation geben, die unteilbar ist.
Ermüdete Zivilgesellschaft
Generell ist zu beobachten, dass sich eine gewisse Müdigkeit in Bezug auf den Verfassungsprozess in der allgemeinen Bevölkerung eingestellt hat. Auch an gesellschaftlichen Gruppen, die im vorherigen Prozess aktiv beteiligt waren, lässt sich jene Müdigkeit nachvollziehen. Wie auch in anderen Ländern ist die Inflation in Chile sehr hoch und viele Menschen sorgen sich bezüglich der steigenden Lebenshaltungskosten. Die wirtschaftliche Situation im Land ist insgesamt angespannt. Die einstig hohen Erwartungen an den Verfassungsprozess scheinen nun dem Wunsch gewichen zu sein, alltägliche Herausforderungen zu bewältigen. Darüber hinaus sind auch die Themen “Kriminalität” und “Migration” in Chile erneut auf der politischen Agenda, sodass die einstige Aufmerksamkeit auf den Prozess nicht mehr vorhanden ist. Die Kommunikationsstrategie des Verfassungsrates muss sich daher zunächst darauf konzentrieren, überhaupt die Menschen für dieses Verfahren zu interessieren und wird dabei um seinen Platz im politischen Diskurs kämpfen müssen.
Die angesprochene Müdigkeit ist allerdings auch bei anderen sozialen Akteurinnen und Bewegungen zu spüren, die sich teilweise erst bei den sozialen Protesten zusammengeschlossen oder gegründet haben. Diese Akteure haben im ersten Verfahren versucht, auf verschiedene Weise, sei es durch Präsentationen bei Anhörungen im Verfassungskonvent, durch Lobbyarbeit oder durch Themensetzung im politischen Diskurs Einfluss auf die Verfassungsgebung auszuüben. Diese sehr diversen Gruppen leisteten zudem auch viel Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Während des vorangegangenen Verfahrens gingen junge Menschen von Tür zu Tür, um Menschen zu überzeugen, für den Verfassungsvorschlag zu stimmen.
Fazit
Nach den Protesten im Jahr 2019 sollte nicht nur eine neue Verfassung, sondern auch neues Vertrauen in die staatlichen Institutionen geschaffen werden. Es ist fraglich, inwieweit die Auswahl der Expertinnen und Experten ohne festgelegte Kriterien und von Seiten gerade derjenigen politischen Parteien und Institutionen, die während der Proteste so stark in der Kritik standen, zu höherem Vertrauen führen wird. Ein positives Zeichen ist jedoch, dass trotz des verheerenden Scheiterns in der Abstimmung über den vorherigen Verfassungsvorschlag überhaupt der politische Wille da ist, um einen neuen Verfassungsprozess zu beginnen.
Eine weitere Blamage wäre für die progressiv angetretene Regierung allerdings nur sehr schwer zu verkraften, da diese bereits nach dem letzten gescheiterten Referendum eine Regierungskrise und eine Umbildung des Kabinetts erlebte. Der Erfolg dieses erneuten Verfassungsprozesses ist daher eng mit dem der Regierung verknüpft und scheint in naher Zukunft die vorerst letzte Chance zu sein, die bisherige Verfassung zu ersetzen.