Verfassungsrecht und sexualisierte Gewalt in der römisch-katholischen Kirche
Zu aktuellen Amtshaftungsklagen und der Relevanz des kirchlichen Selbstverständnisses
Der sexuelle Missbrauch im Raum der Religionsgesellschaften beschäftigt zunehmend die ordentlichen Gerichte. Sie tun sich mit der religionsverfassungsrechtlichen Rahmung der Verfahren nicht leicht. Unterscheidungen des staatlichen Beamtenrechts werden allzu geschwind auf den Bereich der jeweiligen Religionsgesellschaft übertragen. So wird aber das Selbstverständnis der Religionsgesellschaften verkannt, und zwar zulasten der Klägerinnen und Kläger.
Priester und Privatperson
Sofern eine von sexualisierter Gewalt durch Kleriker betroffene Person Schadenersatz anstrebt, führt dies im Fall einer öffentlich-rechtlich organisierten („korporierten“) Religionsgemeinschaft wie der römisch-katholischen Kirche zu sog. Amtshaftungsklagen. Nach überwiegender, allerdings nicht unbestrittener (LG Aachen, Urteil vom 2.7.2024, Rn. 25) Ansicht sind die eigentlich nur für den staatlichen Bereich geltenden Bestimmungen des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG auch auf jene Religionsgesellschaften anzuwenden, die im spezifisch religionsverfassungsrechtlichen Sinne Körperschaften des öffentlichen Rechts sind (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV). In den Verfahren vor den Landgerichten geht es nicht nur um Fragen der Verjährung bzw. darum, ob die Einrede der Verjährung treuwidrig (§ 242 BGB) erhoben wurde. Alle Fragen des Tatbestands des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB können streitbefangen sein. Das gilt vor allem für die Amtspflicht. Wie das LG Köln in seinem wegweisenden Urteil vom 13.6.2023 (Rn. 57) betont, können „insbesondere die Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche Amtshaftungsansprüche auslösen, da es sich um allgemeingültige, drittschützende Pflichten handelt, andere Personen nicht an ihren Rechtsgütern zu schädigen […].“
Ein derzeit ebenfalls vor dem LG Köln verhandelter Fall verdeutlicht die Brisanz des Rechtsproblems.
Es geht um die Klage eines frühen Opfers eines bereits wegen anderer Missbrauchstaten rechtskräftig zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Kölner Priesters gegen das Erzbistum Köln auf 850.000 Euro Entschädigung. Die Klägerin, die heute Ende 50 ist, war als 12-Jährige vom Bonner Jugendamt mit Genehmigung des damaligen Kölner Erzbischofs Kardinal Höffner dem seinerzeitigen Diakon und späteren Priester als Pflegekind anvertraut und dann von ihm jahrelang sexuell missbraucht worden. Das Erzbistum Köln, auf das in der Logik des Amtshaftungsrechts die Haftung für das Fehlverhalten des Klerikers überginge, verteidigt sich, aufs Wesentliche zusammengefasst, mit dem Hinweis, der Priester habe die Taten nicht als Priester begangen, also nicht gegen eine Amtspflicht verstoßen. Er habe hier vielmehr als Privatperson gehandelt, d.h. das Pflegekind sei ihm als Privatperson vom Jugendamt anvertraut worden. Die nach dem damaligen BGB gebotene (§ 1784 Abs. 1 BGB a.F.) Genehmigung des Erzbischofs habe nur gegenüber dem Staat versichern sollen, dienstliche Gründe stünden dem privaten Engagement als Pflegeperson nicht entgegen.
Das Erzbistum Köln hält von dieser Unterscheidung zwischen Priester und Privatperson viel, weil es ihm (von Fragen der Verjährung abgesehen) die Haftung erspart. Und doch muss es erstaunen, dass der Vorsteher eines Erzbistums, das nicht ohne Grund als „Rom am Rhein“ gilt, nicht auf die Beachtung des kirchenamtlich gebotenen Verständnisses vom Priesteramt dringt, obwohl er sonst für eine besonders lupenreine Lesart des römischen Selbstverständnisses eintritt. Dass die Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses aus staatlich-rechtlicher Sicht bei der Auslegung von § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB („Amtspflicht“) geboten ist, folgt aus dem sog. kirchlichen (genaugenommen: religionsgesellschaftlichen) Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 GG).
Die Ganzhingabe des Priesters
Zu diesem grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmungsrecht gehört nach bisherigem religionsverfassungsrechtlichen (staatskirchenrechtlichen) Konsens1), insbesondere nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass die Kirchen ihre Ämter „auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses“ (BVerfGE 137, 273, 302) konzipieren und vergeben (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV). Staatliche Gerichte dürfen „die Eigenart des kirchlichen Dienstes – das kirchliche Proprium – nicht außer Acht lassen. […] Die Formulierung des kirchlichen Proprium[s] obliegt allein und ausschließlich den verfassten Kirchen“ (BVerfGE 137, 273, 315). „Im Rahmen der allgemeinen Justizgewährungspflicht sind sie“ – die staatlichen Gerichte – „lediglich berechtigt, die Darlegungen“ der Kirche „auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. In Zweifelsfällen haben sie die einschlägigen Maßstäbe der verfassten Kirche durch Rückfragen bei den zuständigen Kirchenbehörden oder, falls dies ergebnislos bleibt, durch ein kirchenrechtliches oder theologisches Sachverständigengutachten aufzuklären“ (BVerfGE 137, 273, 315 f.).
Als Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche im Blick auf das Priesteramt ergibt sich nach ihrer verbindlichen Lehre und ihrem Recht Folgendes:
Das Kirchenrecht folgt einem kirchenamtlichen Verständnis des Priestertums als totaler Indienstnahme der ganzen Person. Das sog. Amtspriestertum2) ist keine bloße Berufs-, sondern eine Lebensaufgabe.3) Diese für das Priesterverständnis wesentliche „Ganzhingabe“4) ist einer der lehramtlich angeführten Gründe für die Zölibatspflicht, in der sich die vollständige Verfügbarkeit für das total beanspruchende Priestertum ausdrückt. Vorgängig zur Betrauung mit bestimmten Aufgaben etwa als Pfarrer (Leiter einer Pfarrgemeinde) ist ein Priester also immer im Dienst. Dieses kirchenamtliche Konzept des Priestertums ist Gegenstand der Priesterbildung wie der bischöflichen Verkündigung und prägt Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Priester. So schrieb Kardinal Meisner, der frühere Kölner Erzbischof, Weihekandidaten ins Stammbuch, Priester könne es „nie rein privat geben“. Sie seien „entprivatisiert in den Raum der Kirche“, davon gebe es „keine Beurlaubung“.
Das Konzept der Ganzhingabe des Priesters ist keine rein geistliche Wirklichkeit, sondern wird durch ein kircheninternes Rechtsverhältnis operabel gemacht. Mit dem Weiheamt (zunächst als Diakon, dann als Priester) wird der Rechtsstatus des Klerikers (canon [c.] 207 Codex Iuris Canonici [CIC](1983)5) begründet und dieser in der Organisationseinheit der Diözese rechtlich verortet (inkardiniert) (c. 265f.). Das Konzept der Ganzhingabe wird so in eine umfassende rechtliche Disponibilität des Geweihten überführt. Der Bischof ist sein Vorgesetzter,6) ihm ist der Kleriker zum Gehorsam verpflichtet (c. 273) und hat von ihm angetragene Aufgaben zu übernehmen und treu zu erfüllen (c. 274 § 2). Zugleich unterliegt der Kleriker der Aufsichtspflicht des Bischofs. Sie ist nicht nur Dienstaufsicht in Bezug auf konkret übertragene Aufgaben, sondern erstreckt sich schon vorgängig auf die gesetzlichen Pflichten zur besonderen klerikalen Lebensführung (c. 384),7) darunter besonders die Pflicht zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit, vor allem zum Verzicht auf Ehe und Vaterschaft (c. 277 § 1 und 3). Im persönlichen Umgang haben Kleriker auch nur potentiell anstößige Situationen zu vermeiden (c. 277 § 2), besonders in Wohngemeinschaften oder im Kontakt mit Minderjährigen. Zugleich ist der Diakon8) wie der Priester verpflichtet, seine pastorale Sorge unter Wahrung der nötigen Distanz insbesondere den hilfs- bzw. unterstützungsbedürftigen Menschen zuzuwenden, „den Leidenden, den Kleinen und Schwachen, den Kindern, den Menschen in Schwierigkeiten, den Ausgegrenzten und Armen“.9)
Gemessen daran gilt für den Kölner Fall dies:
Der Täter hat im Kölner Fall als Inhaber des Weiheamtes, als Kleriker, zunächst als Diakon, dann als Priester, und somit als Amtsträger gehandelt. Vor dem Hintergrund des spezifisch römisch-katholischen Verständnisses vom Weiheamt trägt die im staatlichen Bereich gängige Unterscheidung von dienstlichen und außerdienstlichen bzw. amtsspezifischen bzw. amtsfernen Tätigkeiten bei römisch-katholischen Klerikern nicht. Die pastorale Sorge um die Hilfsbedürftigen, insbesondere die Kinder, gehört nicht nur grundsätzlich zur diakonalen wie priesterlichen pastoralen Sorge. Vielmehr hat im vorliegenden Fall der Bischof mit der Erlaubnis, die staatliche Pflegschaft zu übernehmen, diese in den Aufgabenbereich des Klerikers verbindlich einbezogen und insoweit dessen drittbezogene Amtspflichten nach kirchlichem Selbstverständnis konkretisiert. Das ist etwas vollkommen anderes als die bischöfliche Erlaubnis, dass ein Kleriker entgegen dem Verbot, Gewerbe oder Handel auszuüben, ausnahmsweise den elterlich geerbten Weinberg mit kleinem Weinhandel weiterführt (c. 286). Der Bischof übernimmt damit keinerlei betriebliche Verantwortung.
Wer wissen wollte, konnte wissen und hat wissen müssen
Anders bei der Genehmigung der Pflegschaft: Das Ansinnen des Klerikers, eine Kindespflegschaft nach staatlichem Recht zu übernehmen, war nicht nur außergewöhnlich. Nach damaligem, bei der Entscheidung des Kardinals maßgeblichem Kirchenrecht durften Priester Frauen, zu denen der Kontakt aufgrund ihrer Jugend problematisch erschien, weder in ihren Haushalt aufnehmen noch sie öfter besuchen oder empfangen.10) Den Bischof traf hier eine Prüfpflicht (c. 133 § 3 CIC/1917 sowie der heutige c. 277 § 3). Der Priester lebte nicht nur mit einem 12-jährigen Mädchen zusammen, das kirchlich mit 14 Jahren als heiratsfähig galt. Er übernahm auch eine Pflegschaft, also ein permanent auszuübendes umfassendes persönliches Betreuungsverhältnis, das zu einer Eltern-Kind-Bindung führt. Dass beides mit dem Zölibat ebensowenig vereinbar ist, wie mit der darin ausgedrückten totalen Verfügbarkeit, musste ihm schon damals klar sein. Seine Zustimmung zur Pflegschaft hat Kardinal Höffner allerdings erklärtermaßen mit Blick auf das Kindeswohl erwogen und erteilt. Damit hat er kraft seiner Amtsgewalt die pflegschaftliche Sorge um das Mädchen in den Aufgabenkreis seines Klerikers einbezogen, seinen Einsatz also im Einzelfall bewusst am Wohl des Mädchens ausgerichtet und im Hinblick auf diese „dritte“ Person konkretisiert.
Erschwerend kommt hinzu: Gerade unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls, auf das sich Kardinal Höffner berufen hat, hätten auch damals ernste Zweifel nicht nur daran bestehen müssen, ob ein Priester die Lebensgemeinschaft mit einem 12-jährigen Mädchen nicht aus egoistisch-verwerflichen Motiven erstrebt, sondern auch, ob ein Priester aufgrund seiner von der Zölibatspflicht implizierten Berufung zu Ehe- und Familienlosigkeit überhaupt pädagogisch und psychologisch geeignet ist, die Sorge für eine harmonische Kindesentwicklung auszuüben. Wäre dies seinerzeit in der gebotenen Weise geprüft und erwogen worden, hätte Kardinal Höffner die Übernahme der Pflegschaft nicht gestatten dürfen.11) In jedem Fall hätten sorgfältige Begleit- und Kontrollmaßnahmen nicht unterbleiben dürfen. Das ist umso unverständlicher als innerkirchlich immer klar war, dass jeder sexuelle Umgang von Klerikern, erst recht mit Kindern schwerst sündhaft und seit Langem auch eine kirchliche Straftat ist. Mehrfach seit den 1950er und 1960er Jahren mahnte der Apostolische Stuhl zu sorgfältiger Eignungsprüfung und praktischer Begleitung junger Priester.12) Eine eigene Verfahrensordnung für klerikale Sexualdelikte sollte geheim bleiben, war aber über einschlägige Lehrbücher faktisch bekannt.13) Die Gefahreninformation war im System immer vorhanden. Diözesanbischöfe, die sich für das Recht nicht interessierten oder es in „Pastoral“ genannter Willkür ignorierten, sind damit nicht entlastet, sondern verfehlten sich gegen ihr Amt. Wer wissen wollte, konnte wissen und hat wissen müssen.14)
In Ausübung seiner Befugnis, die Aufgaben „seines“ Klerikers zu definieren, hat Kardinal Höffner im Wissen um die Kindeswohlrelevanz gleichwohl anders entschieden, und zwar zum Nachteil des Mädchens. Er hat damit eine für das Mädchen gefährliche Situation herbeigeführt und unkontrolliert gelassen. Damit hat er seine Aufsichtspflicht sowohl über die klerikale Lebensführung des Klerikers wie auch zum Schutz des anvertrauten Kindes mindestens grob fahrlässig verletzt. Durch sein Handeln wurden die Taten ermöglicht, mindestens aber entscheidend