Vermittlungsausschuss: BVerfG streckt die Waffen vor der Flucht ins Informelle
Jedes Verfahren zur Entscheidungsfindung kann nur entweder perfekt effizient oder perfekt legitim sein. Wenn irgendwo einer einsam entscheidet: so wird’s gemacht!, dann wäre das zwar perfekt effizient, aber ohne Zwang werden der Entscheidung nicht viele folgen wollen. Wenn alle Betroffenen mit am Tisch sitzen und ihr Wort erheben und Einfluss nehmen können, dann wäre das Ergebnis zwar perfekt legitim, käme aber kaum jemals zustande. Das Parlaments- und Staatsorganisationsrecht steckt voller Versuche, zwischen diesen beiden Polen eine prekäre Balance herzustellen: Das Repräsentationsprinzip ist so einer. Die Fünfprozentklausel ein weiterer. Das Zusammenspiel von Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechten. Und das sind genau die Stellen, an denen das Recht nie zur Ruhe kommt und immer neue BVerfG-Entscheidungen gebiert.
Ein recht aktiver Eruptionsherd dieser Art ist das Thema Vermittlungsausschuss, und der ist heute in Gestalt einer Senatsentscheidung aus Karlsruhe erneut eindrucksvoll ausgebrochen. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Im Zweiten Senat scheint unter den Kräften, die hier miteinander ringen, die Effizienz im Augenblick die Oberhand über die Legitimität zu behalten.
Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat ist bekanntlich dazu da, Blockaden zwischen Parlament und Länderkammer aufzulösen: Wenn beide überkreuz miteinander liegen, soll eine Auswahl von Vertretern beider Seiten sich zusammensetzen und ausloten, wie man zueinander kommen kann. Seit 2004 ist klar, dass jedenfalls die Bundestagsseite nicht etwa die Bundestagsmehrheit, sondern das gesamte Parlament spiegelbildlich abbilden muss. Das heißt, die Zahl der Köpfe schrumpft, nicht aber die der vertretenen Positionen. Die kleinen Oppositionsparteien sitzen weiter überall mit drin und beharren auf ihren formellen Beteiligungs- und Verfahrensrechten. Sie stören. Was tut man? Man bildet noch kleinere, noch informellere Einheiten. Arbeitsgruppen. Gesprächskreise. Dort wird alles besprochen und ein Ergebnis “vorgeformt”, das dann im Plenum nur noch formell abgesegnet werden muss. Flucht ins Informelle nennt man das.
So geschehen in der vergangenen Wahlperiode, als Schwarz-Gelb mit den mehrheitlich rot-grün regierten Ländern um die Hartz-IV-Reform rang. Um zu einem Ergebnis zu kommen, wurde bei einer “informellen” Sitzung des Vermittlungsausschusses eine Art Quadratvermittlungsausschuss eingerichtet, eine Arbeitsgruppe, in der Vertreter von Schwarz-Gelb und Rot-Grün saßen nebst Mitgliedern der Bundesregierung, nicht aber Vertreter der Linkspartei.
Das wollten die sich nicht gefallen lassen und klagten. Die erste Schwierigkeit: wogegen? Der Vermittlungsausschuss selbst hatte die Einrichtung der Arbeitsgruppe schließlich offiziell gar nicht beschlossen; seine Mitglieder waren ja nur “informell” zusammengekommen auf eine E-Mail des Vorsitzenden hin. Was hat das mit ihm zu tun, wenn die Mitglieder sich anderenorts und in anderer Struktur miteinander unterhalten?
So weit will das BVerfG allerdings dann doch nicht gehen: Wenn sich die Mitglieder des Vermittlungsausschusses in den Räumen des Vermittlungsausschusses treffen und eine Arbeitsgruppe zu einem Thema des Vermittlungsausschusses einrichten, dann trifft sich da der Vermittlungsausschuss, ob formell als solcher zusammengerufen oder nicht.
Sind nun die Linken-Mitglieder des Vermittlungsausschusses in ihren Organrechten verletzt, wenn sie bei der Arbeitsgruppe außen vor gehalten werden? Nein, findet der Zweite Senat, das sind sie nicht. Der Ausschuss selbst müsse zwar spiegelbildlich zum Parlament zusammengesetzt sein, wie der Senat ausführlich wiederholt. Nicht aber Arbeitsgruppen. Bei deren Einrichtung habe der Ausschuss einen “weiten Spielraum autonomer Verfahrensgestaltung” einschließlich der Befugnis, “sich formeller und informeller Gremien zur Vorbereitung der Beschlussfassung zu bedienen”. Denn im Vermittlungsverfahren gehe es nicht um Deliberation und öffentliche Meinungsbildung, sondern um Konsenssuche, um das vertrauliche und nicht-öffentliche Aushandeln von Kompromissen. Wenn das leichter geht in einer informellen Arbeitsgruppe, in der man auch externen Expertenrat einbinden kann und nichts protokollieren muss, dann bitte sehr. Anders als das Bundestagsplenum im Verhältnis zum Vermittlungsausschuss ist der Vermittlungsausschuss im Verhältnis zur Arbeitsgruppe auch nicht an deren Ergebnis gebunden: Er kann es abändern, ergänzen und modifizieren, wenn er will, und alle Mitglieder können entsprechende Vorschläge einbringen. (Dass die außen vor gelassenen Minderheitenvertreter das mangels Erfolgsaussicht auch gleich bleiben lassen können, sei halt ihr Schicksal als Minderheit.)
Nun hatte das Vermittlungsverfahren im Fall der Hartz-IV-Reform 2010 noch eine weitere Wendung genommen: Auch die Arbeitsgruppe, die sich ihrerseits in drei Unterarbeitsgruppen aufgeteilt hatte, konnte sich auf kein gemeinsames Ergebnis einigen. Was folgte, war der endgültige Flucht hinter den Vorhang der Informalität – ein “Gesprächskreis” fand sich zusammen, dessen Existenz ebenso unbestätigt blieb wie Zahl und Namen seiner Teilnehmer_innen sowie der Ort seines Zusammentreffens. Gab es ihn überhaupt? Das weiß keiner genau, sagt das Bundesverfassungsgericht, und deshalb sei die Klage der Linken, ihm nicht angehört zu haben, von vornherein unzulässig: So informell waren diese Gespräche, dass sie dem Vermittlungsausschuss nicht mehr zuzurechnen seien.