Kampf gegen Recht(s)
Wenn sich Kommunen über das Recht hinwegsetzen
Vor allem Populisten machen die Demokratie verwundbar. Doch auch, wer die Demokratie verteidigen will, kann sie verwunden.
Ein aktuelles Beispiel ist das Verbot einer Versammlung in der Nacht vom 11. auf den 12. September 2025, dem Tag der sogenannten Brandnacht in der Stadt Darmstadt – als 1944 ca. 12.000 Menschen einem Luftangriff der Alliierten zum Opfer fielen. Wie das VG Darmstadt nun bestätigte, war ein Verbot offensichtlich nicht zulässig. Dennoch hielt die Stadt daran fest – und schwächte damit die demokratische Grundordnung, statt sie zu verteidigen.
Die Versammlung
Die Stadt Darmstadt prüfte das Verbot einer geplanten Kundgebung und eines Schweigemarschs, angemeldet von einer Person, die der rechtsextremen Szene zugerechnet wurde. Nach der Darstellung des Anmelders sollte der Opfer der Brandnacht gedacht werden. Die Frage, ob ein Verbot rechtlich zulässig und geboten ist, war in der Stadtverwaltung umstritten. Nachdem das Ordnungsamt und das Rechtsamt der Stadt die Rechtslage geprüft hatten, hielt der Ordnungsdezernent der Stadt (CDU) ein Verbot für rechtlich nicht vertretbar. Der Oberbürgermeister (SPD) war anderer Auffassung, und sprach dann das Verbot entgegen der anderslautenden Stellungnahme des Ordnungsdezernenten aus. Der Grund: Es müsse verhindert werden, dass Rechte den Tag der Brandnacht für ihre Zwecke missbrauchen, und damit den öffentlichen Frieden gefährden.
Die Rechtslage in dem Fall war eindeutig. Die Voraussetzungen für ein Verbot lagen offensichtlich nicht vor. Nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 des Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetzes (HVersFG) vom 22. März 2023 kann ein Versammlungsverbot ausgesprochen werden, wenn die Versammlung an einem Tag oder Ort stattfinden soll, dem ein an die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft erinnernder Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt und durch die Art und Weise der Durchführung der Versammlung der öffentliche Friede in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise unmittelbar gefährdet ist. Diese landesgesetzliche Regelung des Versammlungsrechts in Hessen knüpft inhaltlich an die Sonderregelungen zu Beschränkungen der Versammlungsfreiheit in § 15 Abs. 2 Nr. VersammlG des Bundes an. Der Anmelder der Versammlung wandte sich im Eilverfahren an das VG Darmstadt gegen das Versammlungsverbot.
Die klare gerichtliche Linie
Der Beschluss des VG Darmstadt vom 9. September (Az. 3 L 3485/25.DA) ist noch nicht öffentlich. Laut Pressemitteilung stellte das Gericht – zutreffend – fest, dass die Symbolkraft der sog. „Brandnacht“ nicht unmittelbar an die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft anknüpft, und deshalb die Sonderregelung des § 14 Abs. 4 Nr. 1 HVersFG nicht einschlägig ist.
Das VG Darmstadt betonte zudem, dass die Gefahrenprognose der Stadt in dem Fall „offensichtlich“ unbegründet war, da prognostizierten Gefahren zunächst mit Auflagen hätte begegnen werden können. Der Ordnungsdezernent hatte bereits ein Verbot von Fackeln und Sirenen vorgesehen (zu Beschränkungen bei provokativen oder aggressiven Begleitumständen wie Fackeln Barczak, Versammlungsrecht, § 15 Rn. 168).
Nachdem die Stadt Darmstadt Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt hatte, bestätigte der VGH Kassel die Entscheidung des VG Darmstadt (diese Entscheidung ist ebenfalls nicht öffentlich). Die Versammlung fand dann mit 15 bis 20 Teilnehmern statt, ca. 700 Gegendemonstranten rückten auf die Versammlungsteilnehmer in einer teils aggressiven Stimmung zu und umringten sie. Die Teilnehmer verzichteten auf den geplanten Schweigemarsch.
Die klaren rechtlichen Maßstäbe
Das VG Darmstadt hatte in seiner Entscheidung insbesondere auch darauf hingewiesen, dass die etwaige Gesinnung eines Bürgers für sich allein kein Versammlungsverbot rechtfertigt, solange keine unmittelbare Gefahr besteht. Denn das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit werde in verfassungswidriger Weise verkürzt, wenn politisch kontrovers diskutierte Versammlungen unter erleichterten Bedingungen verboten werden könnten.
Das VG Darmstadt hat damit auf die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG Bezug genommen. Bezogen auf § 130 Abs. 4 StG hatte das BVerfG im Fall Wunsiedel festgestellt: „Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts“. Zum Schutz des öffentlichen Frieden erfolgende Eingriffe, die lediglich „auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen“ abzielen, sind unzulässig (BVerfGE 124, 300, 334, 337 f.).
Der Schutz der Versammlungsfreiheit kommt auch extremen Meinungen zugute. Und die ohnehin problematisch weit ausgreifenden Sonderregelungen § 15 Abs. 2 Nr. VersammlG des Bundes und des § 14 Abs. 4 HVersFG müssen eng ausgelegt werden (Barczak, Versammlungsrecht, § 15 Rn. 166 f.; 380; Hong, Versammlungsrecht § 15 Rn. 376 ff., 445 ff.).
Politische Entscheidungen
Der Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt äußerte deutliche Kritik an der Entscheidung des VG. Das Gericht könne nur deshalb so entschieden haben, weil es die Darmstädter Geschichte nicht kenne. Und der Darmstädter SPD-Vorsitzende erklärte, es solle jedes Mittel genutzt werden, „um sich rechtsextremen Kräften entgegenzustellen“. Er hätte erwartet, dass auch der Ordnungsdezernent „politisch entscheidet, und sich nicht hinter formal-rechtlichen Fragen versteckt“. Auch nach Auffassung des Darmstädter Juso-Vorsitzenden stellte das Verbot eine „korrekte demokratische Handlung“ dar, um das Erinnern an die Brandnacht nicht zu verfälschen, und um die Grundwerte der Stadtgesellschaft zu schützen. Und der Bezirksvorsitzende der Jusos Hessen-Süd kritisierte den Ordnungsdezernenten, dieser habe „großen Wert auf formale Rechtsförmigkeit“ gelegt, und sich als „Schreibtisch-Dezernent“ entpuppt, statt entschlossen gegen Extremisten vorzugehen.
Nach diesen Stellungnahmen sollen derartige Streitfällen vorrangig „politisch“ entschieden werden. Der Darmstädter Oberbürgermeister erklärte zudem, er werde in ähnlichen Fällen auch zukünftig in gleicher Weise handeln. Eine Kritik an einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ist möglich und zulässig. Etwa wenn die Gefahrenprognose anders beurteilt wird, und diese thematisiert wird. Anders stellt sich die Lage dar, wenn in Frage gestellt wird, ob das Verwaltungsgericht überhaupt mit den relevanten Fragen vertraut sei, wie es in der Stellungnahme des Darmstädter Oberbürgermeisters zu Ausdruck kam. In diesem Fall geht es eher in Richtung einer pauschalen Justizkritik.
Der Streitfall um die Darmstädter Brandnacht weist eine weitere Besonderheit auf. Der Ordnungsdezernent wandte sich an die Kommunalaufsicht beim Regierungspräsidium Darmstadt. Denn der Oberbürgermeister habe „vorsätzlich rechtswidrig“ gehandelt, und das Verbot „trotz eindeutiger Hinweise auf die Rechtswidrigkeit seiner Verfügung sowohl durch das Rechtsamt als auch durch das Bürger- und Ordnungsamt angeordnet“. Dies ist ein sehr ungewöhnliches Vorgehen, da derartige Streitfragen normalerweise innerhalb der Stadt geklärt werden und geklärt werden sollten. Gerade daran zeigt sich, wie tief das Zerwürfnis zwischen den Beteiligten in der Stadt Darmstadt reicht. Die Kommunalaufsicht kam zu dem Ergebnis, dass die Bewertung des Vorgangs mit der gerichtlichen Entscheidung geklärt sei. In einem Gespräch mit den Beteiligten der Stadt Darmstadt habe Einigkeit bestanden, dass Entscheidungen zu Versammlungen im Einzelfall immer unter Beachtung der Leitlinien der einschlägigen Rechtsprechung zu treffen seien.
Stadthalle Wetzlar 2018
Auch bei der Nutzung von Stadthallen tritt immer wieder eine kommunale Verwaltungspraxis auf, die sich über das Recht hinwegsetzt. Ein besonders drastischer Fall spielte sich bekanntlich 2018 in der Stadt Wetzlar ab. Diese weigerte sich trotz entsprechender verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen, der NPD – im Gegensatz zu anderen Parteien – ihre Stadthalle zur Verfügung zu stellen. Die Besonderheit in diesem Fall bestand darin, dass die NPD sogar das Bundesverfassungsgericht anrief. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete die Stadt dazu, der NPD den Zugang zu der Stadthalle zu verschaffen. Allerdings widersetzte sich die Stadt auch dieser ausdrücklichen Anordnung, sodass das Bundesverfassungsgericht die Kommunalaufsicht nachträglich aufforderte, künftig die Beachtung von Entscheidungen des Gerichts durch die Stadt Wetzlar sicherzustellen – ein bislang einzigartiger Vorgang. Trotzdem rügte die Kommunalaufsicht die Stadt Wetzlar nicht. Sie rechtfertigte das Vorgehen mit einem angeblichen Dilemma der Stadt: zwischen BVerfG-Anordnung einerseits und (fehlendem) Versicherungsschutz der NPD andererseits. Dabei hatten die Gerichte zuvor ausdrücklich festgestellt, dass Streitfragen zum Versicherungsschutz den Nutzungsanspruch der NPD nicht in Frage stellen konnten. Damit missachtete die Stadt Wetzlar die Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gravierend – und die Kommunalaufsicht versagte vollständig (Hecker, NVwZ 2018, 787 (790 f.).
Grugahalle Essen 2024
Auch in Essen versuchte die Stadt, eine politisch unliebsame Partei von der Nutzung einer kommunalen Halle auszuschließen. Die AfD hatte Anfang 2023 mit der Messe GmbH Essen, einer kommunalen öffentlichen Einrichtung der Stadt Essen als Mehrheitsgesellschafterin (zu etwa 80 % im städtischen Eigentum), einen Vertrag zur Nutzung der Grugahalle für den AfD Bundesparteitag am 29. und 30 Juni 2024 abgeschlossen. Mit Ratsbeschluss von Mai 2024 forderte die Stadt die städtische Messegesellschaft auf, den Mietvertrag zu kündigen, wenn die AfD keine Vertragsstrafe für den Fall strafbarer Handlungen einzelner Teilnehmer (etwa verbotene SA-Parolen) akzeptiere. Nachdem die AfD dies ablehnte, kündigte die Messe den Vertrag.
Das VG Gelsenkirchen entschied im Eilverfahren am 14. Juni 2024, dass die Kündigung rechtswidrig war: Die AfD habe nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz wie andere Parteien einen Anspruch auf Nutzung der Grugahalle, und bei Nutzungsansprüchen einer Partei gelte nach ständiger Rechtsprechung ein strenger Maßstab für die Gefahrenprognose. Die Stadt Essen gab daraufhin den Widerstand auf und verzichtete auf die zunächst angekündigte Beschwerde beim OVG NRW.
Auch im Fall der Grugahalle forderte die Politik, eine Nutzung der Grugahalle durch die AfD zu verhindern, wie etwa die SPD Essen in einer Stellungnahme:
„Für uns als Essener SPD ist ganz klar: die AfD ist bei uns in Essen nicht willkommen, Rassismus und Ausgrenzung haben in unserer Stadt keinen Platz! Wir unterstützen daher die Bemühungen der Geschäftsführung und des Aufsichtsrats der Messe Essen sowie die Stadtverwaltung, die Veranstaltung mit allen rechtlichen Mitteln zu verhindern. Noch besser hätten wir es gefunden, dass es überhaupt nicht zu einer Vertragsunterzeichnung gekommen wäre.“
Fazit
Die ausgewählten Fälle unterstreichen exemplarisch, dass die Demokratie auch verwundet werden kann, wenn man sie verteidigen will. Die staatlichen Akteure missachten damit nicht nur entgegen Art. 20 Abs. 3 GG die Rechtsordnung des demokratischen Verfassungsstaats, sondern verschaffen den Betroffenen auch die erwünschte Aufmerksamkeit. So wurde etwa die Darmstädter Brandnacht-Demonstration live (und weiter abrufbar) auf dem Youtube -Kanal „DauerwelleDemoReport“ übertragen. Wer im Kampf gegen Rechts das Recht selbst bekämpft, erweist der Demokratie einen Bärendienst – und dient der gezielten Strategie einer Polarisierung von rechts.