18 November 2020

Versammlungen im Herzen der Demokratie

Für den heutigen Mittwoch ist in Berlin eine weitere Demonstration gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie angekündigt. Medienberichten zufolge sind verschiedene Versammlungen von mehreren hundert Teilnehmern auf dem Platz der Republik angemeldet worden. Neben einer Kundgebung „Stoppt das Infektionsschutzgesetz“ soll auch zu einer „Bundestags-Blockade“ aufgerufen worden sein. Als im August eine Gruppe offenbar rechtsextremer Demonstranten für kurze Zeit die Absperrgitter zu einer Treppe des Deutschen Bundestages überwand, um dort im enthemmten Taumel über ihren vermeintlichen Coup schwarz-weiß-rote Reichsflaggen zu schwenken, hat dies in weiten Teilen der Öffentlichkeit Bestürzung hervorgerufen. Man mag sich fragen, ob seinerzeit nicht etwas mehr demokratische Gelassenheit gutgetan hätte. Statt den Demonstranten auf den Leim ihres inszenierten Tabubruchs zu gehen, hätte man auch an die Zufälligkeit ihres scheinbaren Erfolges erinnern können: was sie überwanden, war ein nachlässig gesichertes Absperrgitter, sonst nichts. Zwar scheitern Demokratien auch an der Fahrlässigkeit ihrer Verteidiger, aber nicht jede Fahrlässigkeit bringt gleich die Demokratie zum Scheitern.

Der Vorfall hat jedoch die politische Bedeutung der symbolischen Besetzung öffentlicher Räume noch einmal schlagartig ins Bewusstsein gerückt. Wenn zum Kern des modernen Versammlungsrechts das Recht gehört, über den Ort der Versammlung selbst zu bestimmen, wie ist dann rechtlich mit der symbolischen Inbesitznahme des zentralen Orts politischer Repräsentation umzugehen? Das BMI hat im Einvernehmen mit dem Bundestag eine Genehmigung der geplanten Versammlungen abgelehnt. Rechtsgrundlage dafür ist das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG), das ein Sonderversammlungsrecht für bestimmte Versammlungsorte im Umkreis der Verfassungsorgane des Bundes enthält. Bei näherer Betrachtung wirft es eine Reihe interessanter verfassungsrechtlicher Fragen auf, die ein Schlaglicht auf die verfassungsrechtliche Konzeption des Bundestages im deutschen Verfassungsrecht werfen.

Außerordentlicher Genehmigungsvorbehalt

Das Gesetz, das unter anderem Namen und in veränderter Form seit 1955 existiert, schränkt die Versammlungsfreiheit in der direkten Umgebung des Bundestages, des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichts signifikant ein. Anders als das allgemeine Versammlungsrecht statuiert es nicht nur eine bloße Anmeldepflicht für Versammlungen (§ 14 VersammlG), sondern ein lokal umgrenztes Versammlungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt für die durch das Gesetz näher definierten Orte. Im Fall des Bundestages fällt darunter auch der Platz der Republik. In seiner heutigen Fassung gewährt das Gesetz – anders als das ursprüngliche „Bannmeilengesetz“ – einen gebundenen Anspruch auf Zulassung einer Versammlung, wenn „eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Fraktionen, des Bundesrates oder des Bundesverfassungsgerichts sowie ihrer Organe und Gremien und eine Behinderung des freien Zugangs zu ihren in dem befriedeten Bezirk gelegenen Gebäuden nicht zu besorgen ist“ (§ 3 Absatz 1 BefBezG). Das Gesetz etabliert in § 3 Absatz 1 Satz 2 BefBezG zugleich die gesetzliche Regelvermutung, dass im Falle von Bundestag und Bundesrat von einer Beeinträchtigung nicht auszugehen ist, wenn keine Sitzungen stattfinden. Dies entspricht im Ergebnis der allgemeinen verwaltungsrechtlichen Dogmatik, die im Anwendungsbereich besonderer Freiheitsrechte bei bloßen Erlaubnisvorbehalten regelmäßig zu einem Anspruch auf Genehmigung kommt.

Das Zusammenspiel mit dem allgemeinen Versammlungsrecht, das sich in Berlin noch immer weitgehend nach dem Versammlungsgesetz des Bundes richtet, funktioniert dabei wie folgt: Wer eine Versammlung oder einen Aufzug in einem befriedeten Bezirk beabsichtigt, muss nach § 3 Absatz 2 BefBezG einen entsprechenden Antrag beim BMI stellen, das darüber im Einvernehmen mit dem Bundestag durch selbständigen Bescheid entscheidet. Daneben gelten die allgemeinen versammlungsrechtlichen Anforderungen und die Anmeldepflicht nach § 14 VersammlG jedoch fort (§ 3 Absatz 3 BefBezG). Das BefBezG etabliert also ein außerordentliches Genehmigungserfordernis für bestimmte Versammlungsorte mit einem selbständigen Genehmigungsverfahren. Die Durchsetzung beider Regelungskomplexe liegt in der Hand der Landesversammlungsbehörde, die dazu auf die Befugnisse des VersammlG zurückzugreifen muss. Versagt das BMI die Genehmigung, kann eine Versammlung im befriedeten Bezirk des Bundestages nicht stattfinden. Die Versammlungsbehörden werden dies regelmäßig mit Auflagen nach § 15 Absatz 1 VersammlG umsetzen, wobei im drohenden Verstoß gegen § 2 Satz 1 BefBezG die erforderliche unmittelbare Gefahr liegt. Wird gegen die Auflage verstoßen, kann die Versammlung nach den allgemeinen Regeln aufgelöst werden.

Parlamentarische Autonomie unter Regierungsvorbehalt

Materiell kommt eine Zulassung nach § 3 Absatz 1 Satz 1 BefBezG nur in Betracht, wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Bundestages, der Fraktionen oder des freien Zugangs zum Bundestag nicht zu besorgen ist. Die Gesetzesformulierung bringt zum Ausdruck, dass die Störungsfreiheit im Rahmen der erforderlichen Gefahrprognose ex ante positiv festgestellt werden muss. Eine Zulassung kommt danach nur in Betracht, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass es nicht zu Störungen kommt. Im Zweifel ist nach der Gesetzeskonzeption wegen der überragenden verfassungsrechtlichen Bedeutung des Bundestages die Zulassung zu versagen. Die Rechtsprechung billigt auf Landesebene den Landtagspräsidentinnen dabei keinen Beurteilungsspielraum zu. Das übersieht jedoch die verfassungsrechtlich garantierte Bedeutung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie. Das Recht des Parlaments, über sein Verfahren in den verfassungsrechtlichen Grenzen selbst zu entscheiden, dürfte auch das Recht umfassen, abschließend zu beurteilen, wann dieses Verfahren gestört ist und wann nicht.

Warum aber soll, wie § 3 Absatz 2 Satz 2 BefBezG es vorsieht, das BMI über die Zulassung einer Versammlung (mit-)entscheiden können, wenn es um den Funktionsschutz des Bundestages geht? Welche selbständigen Gesichtspunkte kann es geltend machen, wenn der Bundestag erklärt, dass er sich durch eine beantragte Versammlung nicht gestört sieht? Diese Frage hat nicht nur eine politische, sondern auch eine unmittelbar verfassungsrechtliche Seite: Wenn man eine Verwaltungskompetenz des Bundes für den Vollzug des BefBezG annehmen will, ist nicht klar, warum sie nicht verfassungsunmittelbar durch Art. 40 Absatz 2 Satz 1 GG dem Bundestagspräsidenten im Rahmen seiner Polizeigewalt zugewiesen ist, außer man wollte sich allzu sehr an den Wortlaut „im Gebäude“ klammern.

Eine andere Frage betrifft den Beurteilungsmaßstab für die Versagung. Wann ist eine „Störung der Tätigkeit“ eines Parlaments zu „besorgen“? Und warum kommt es überhaupt auf eine solche Funktionsstörung an? Soweit es Rechtsprechung zu dieser Frage gibt, ist sie erstaunlich ambivalent. Einerseits scheint sie die Gefahrenprognose der Parlamentspräsidentinnen an den allgemeinen versammlungsrechtlichen Anforderungen zu messen. Danach müsste eine nicht nur konkrete, sondern zeitlich qualifizierte ‚unmittelbare‘ Gefahr für eine Funktionsstörung vorliegen. Das dürfte im Einzelnen nicht leicht darzulegen sein, wie die Versammlungsbehörden aus leidvoller Erfahrung wissen. Es ist nicht ohne weiteres klar, zu welchen Störungen des parlamentarischen Betriebs eine Versammlung im befriedeten Bezirk führt, der ja recht großzügig definiert ist. Die Mauern des Reichstages sind dick. Auch der Zugang kann leicht gewährleistet werden, wenn man die Eingänge von der Versammlung separiert. Gewiss, wird wie im Fall der heutigen Anti-Corona-Demo schon im Vorfeld aktiv zu einer Blockade des Bundestages aufgerufen, dürfte auch diese hohe Schwelle überschritten sein. Zumal wenn sich durch polizeiliche Erkenntnisse belegen lässt, dass mit gewalttätigen Ausschreitungen oder erhöhten Gesundheitsgefahren zu rechnen ist, weil Teilnehmer der Versammlung sich weigern, die erforderlichen Masken zu tragen.

Das ‚Verfassungsorgan‘ Bundestag

Bleibt die Frage, was die so verstandene Konstruktion eines befriedeten Bezirks dann eigentlich soll: unmittelbare Gefahren für die Funktionsfähigkeit „einer staatlichen Einrichtung“ berechtigen als Gefahr für die öffentliche Sicherheit ohnehin schon nach § 15 Absatz 1 VersammlG zu Auflagen. Eines eigenen Verfahrens bedürfte es dazu nicht. In der Sache sind die Gerichte bei ihrer Kontrolle denn auch sehr viel zurückhaltender und messen der Einschätzung des Parlaments „ein nicht unerhebliches Gewicht“ bei – was auch immer dies heißen soll. Vielleicht liegt darin das stillschweigende Eingeständnis, dass der normative Sinn der befriedeten Bezirke über den Schutz vor konkret belegbaren Gefahren für die parlamentarische Funktion hinausgehen könnte, so wichtig sie auch sein mag. Worin dieser Sinn besteht, lässt sich in den tradierten Kategorien des deutschen Verfassungsrechts allerdings schwer ausdrücken: Ihm ist die Vorstellung einer rechtlich privilegierten räumlich ausgezeichneten Sphäre des Parlaments, in der die allgemeinen Gesetze nur mit Einschränkungen gelten, immer fremd geblieben. Es gibt kein parliamentary privilege des Bundestages, wie es das englische Parlament traditionell genießt. Darin lag zwar ursprünglich vor allem ein der Monarchie abgetrotztes Bündel von Sonderrechten, aber zunehmend auch das Symbol für die politische Freiheit zur Setzung neuen Rechts. Im Herzen der parlamentarischen Demokratie wohnt die Freiheit: zur parlamentarischen Rede, aber auch die Freiheit vor plebiszitärem politischem Druck. Bis zu einer Reform im Jahr 2005 war es daher selbstverständlich, dass das englische Parlament die Polizei anweisen konnte, bei Bedarf Versammlungen im direkten Umfeld des Parlaments aufzulösen. Das deutsche Parlament wird demgegenüber spätestens seit dem Kaiserreich als ‚Organ‘, später als ‚Verfassungsorgan‘ beschrieben: als eine staatliche Funktionsstelle unter vielen zur Erfüllung einer Aufgabe, die man in der Regel verkürzt mit Gesetzgebung wiedergibt. Diese Perspektive hat weitreichende Folgen, auf die das BefBezG ein Schlaglicht wirft. Wenn der Bundestag nur über seine vermeintliche Aufgabe zur Gesetzgebung definiert wird, dann kann sich auch sein Schutz vor den Zumutungen wütender und latent gewaltbereiteter Versammlungen nur auf konkret belegbare Beeinträchtigungen dieser Funktion stützen.

Was folgt daraus?

Politisch liegen die Schwierigkeiten im Umgang mit rechtspopulistischen Aktionen vielleicht am ehesten in der taktischen Frage, wie sich die Autorität des Bundestages gegenüber symbolischen Provokationen wirkungsvoll behaupten lässt. Die versammlungsrechtliche Schwierigkeit im Umgang mit den befriedeten Bezirken aber liegt in der tiefergehenden Frage, wie dabei vom Bundestag normativ gedacht wird. Es würde schon helfen, das deutsche Parlament nicht mehr als ‚Verfassungsorgan‘ unter vielen zu beschreiben, sondern es bei seinem demokratischen Namen zu nennen. Der Bundespräsident hat dies in seiner Reaktion auf die Vorfälle im August getan, als er klarstellte, dass das „Herz unserer Demokratie“ der Bundestag ist, das „frei gewählte deutsche Parlament“. Vielleicht ist auch das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes in dieser Frage klüger, als sein Titel vermuten lässt. Denn nicht alle ‚Verfassungsorgane‘ werden durch das BefBezG in dieser Weise geschützt, sondern nur die deliberativen. Das BMI liegt nicht in einem befriedeten Bezirk.


SUGGESTED CITATION  Neumeier, Christian: Versammlungen im Herzen der Demokratie, VerfBlog, 2020/11/18, https://verfassungsblog.de/versammlungen-im-herzen-der-demokratie/, DOI: 10.17176/20201118-200227-0.

3 Comments

  1. HansCastorp Fri 20 Nov 2020 at 01:41 - Reply

    Vielleicht stehe ich auf dem Schlauch, aber woraus folgt überhaupt die Kompetenz des Bundes für das BefBezG? Sollte da etwa mit ungeschriebenen Kompetenzen im Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gearbeitet werden? Ich kanns mir eigentlich kaum vorstellen, vielleicht mag mich jemand belehren.