VG Stuttgart: Europarecht bremst Grenzschützer
Die Bundespolizei darf im Grenzgebiet nicht verdachtsunabhängig Personen kontrollieren, um illegal Einreisende aufzuspüren. Die Regelung in § 23 Bundespolizeigesetz, die ihr im 30 km-Grenzgebiet jederzeit anlasslose Identitätsfeststellungen erlaubt, ist europarechtswidrig und daher unanwendbar. Das hat das Verwaltungsgericht Stuttgart gestern entschieden (Az. 1 K 5060/13) – ein Urteil, das in diesen Zeiten europaweiter Diskussionen um Grenzzäune und Transitzonen noch für viel Wirbel sorgen dürfte.
Geklagt hatte ein dunkelhäutiger Mann, der 2013 in einem ICE im deutschen Grenzgebiet zu Frankreich ohne Anlass kontrolliert wurde und sich in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt fühlte. Ob die Kontrolle verhältnismäßig war und ob generell gezielte Kontrollen „ausländisch“ aussehender Menschen diskriminiernd ist („racial profiling“), ließ das Gericht offen. Denn schon die Ermächtigungsnorm §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz hielt das Gericht für rechtswidrig, weil sie gegen den Schengener Grenzkodex verstoße. Der Schengener Grenzkodex ist eine im Jahre 2006 erlassene EU-Verordnung (Nr. 562/2006), die das Ziel verfolgt, die Politiken zur Kontrolle der Außen- und Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raumes zu regeln.
Das VG Stuttgart argumentiert, dass der Schengener Grenzkodex verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Grenzgebiet zu anderen Schengen-Staaten verbietet, soweit solche Maßnahmen die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. Für anlasslose Personenkontrollen ist somit nur dann Raum, wenn diese tatsächlich nicht die Kontrolle der Grenze bezwecken und sich äußerlich auch eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden, d.h. insbesondere nur stichprobenartig durchgeführt werden. Kein Problem hat das Gericht auch mit Kontrollen, die aufgrund konkreter Informationen oder Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit angeordnet werden, insbesondere der grenzüberschreitenden Kriminalität.
Das Gericht stützte sich dabei auf eine Entscheidung des EuGH, der im Jahr 2010 in einem französischen Fall diese Linie vorgegeben hatte (EuGH, Urt. v. 22.06.2010 – C-188/10 und C-189/10 “Melki und Abdeli“): Die Ermächtigungsnorm lenke das Handeln der Behörden nicht ausreichend. Um zu verhindern, dass Personenkontrollen die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen entwickeln, verlangt der EuGH nämlich konkret, dass den nationalen Polizeigesetzen verbindliche Anhaltspunkte über die Häufigkeit und Intensität der Kontrollen zu entnehmen sind, was in §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz offensichtlich nicht der Fall ist. Aus diesem Grund läuft momentan ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland (vgl. BT-Drucks. 18/4149), dessen Ergebnis noch aussteht.
Der Entschluss der Bundesregierung, vor einigen Wochen die Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen des Schengen-Raums vorübergehend wieder einzuführen, ist allerdings durch das Urteil nicht berührt. In diesem Ausnahmefall nämlich ist es der deutschen Bundespolizei auf Grundlage des §23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz tatsächlich gestattet, auch im 30 km-Grenzbereich Personenkontrollen durchzuführen, die faktisch wie Grenzkontrollen wirken.
Ein europäisches 2Binnengrenzkontrollverbot” könnte Ausfluss europäischer Freizügigkeit und dies könnte zunächst nur Unionsbürgerrecht sein. Nicht-EU-Bürger könnten dann evtl. nur indirekt etwa über die grundrechtlichen allgemeine Handlungsfreiheit Rechte daraus herleiten o.ä. Besitzen normale (Landes-)Verwaltungsgerichte heute europäisch-/grundrechtliche “(Bundes-)Normverwerfungskompetenz”?
(Für EU-Bürger könnte etwa noch europäisch ermessensgebundene Stichprobengefahrerforschung denkbar sein. Weiterungen auf erstes Ansprechen könnten andere Befugnisse zu Grunde liegen o.ä).
@Peter Camenzind:
Das VG kann eine europarechtswidrige (bundesgesetzliche) Norm zwar nicht erga omnes “verwerfen” aber unangewendet lassen. Es gibt im Übrigen neben dem BVerwG (Revisionsinstanz) keine eigenen “Bundes-VGs”.
Eine europarechtliche Unanwendbarkeit könnte vielleicht allein gegenüber EU-Bürgern in Betracht kommen. Im Einzelfall könnten solchen gegenüber evtl. noch allgemein polizeiliche Stichproben-gefahrerforschungsmaßnahmen möglich sein. Bei Nicht-EU-Bürgern könnte dagegen evtl. nur eine grundrechtlich-europäische Normverwerfung in Betracht kommen, soweit diese nicht unmittelbar aus EU-Recht/Grundfreiheiten eigene Rechte herleiten können. Ob ein “normales” Verwaltungsgericht eine solche grundrechtliche Verwerfungskompetenz haben kann, könnte problematisch scheinen. Inwieweit entsprechend dem VG-Stutggart-Urteil innerhalb eines 30-Km-Grenzbereiches Stichprobenkontrollen allgemein als unzulässig zu gelten haben, könnte danach noch zweifelhaft sein.
Ich habe eine Frage zu dem Artikel, die mir hoffentlich jemand beantworten kann: Wieso gilt § 23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz trotz Schengen? Auf welcher Grundlage ist es für die Bundesregierung möglich die Grenzkontrollen ohne weiteres wieder einzuführen?