Völkerrechtswidrigkeit benennen: Warum die Bundesregierung ihre Verbündeten für den Syrien-Luftangriff kritisieren sollte
Fast haben wir uns schon daran gewöhnt. An das Leiden in Syrien ohnehin. An die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft, diesen schon sieben Jahre andauernden Konflikt beizulegen. An die unfassbare Grausamkeit, mit der auf praktisch allen Seiten in diesem Krieg vorgegangen wird. An die Beteiligung der externen Mächte auf unterschiedlichen Seite. An den Einsatz von Chemiewaffen. Und an die militärische Reaktion auf den Einsatz von Chemiewaffen.
Wie schon 2017 haben die Vereinigten Staaten auf den Einsatz von Chemiewaffen im Syrienkonflikt mit militärischer Gewalt reagiert. Am 13. April 2018 konnten sie dabei auf die Unterstützung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zählen (für eine erste Reaktion auf dem Verfassungsblog hier). Die Bundesrepublik Deutschland hat sich an diesen Angriffen nicht beteiligt. Die Bundesregierung hat aber verlauten lassen, dass sie die Luftangriffe für „verhältnismäßig und erforderlich“ halte. Solche Stellungnahmen sind für die Weiterentwicklung des Völkerrechts potentiell bedeutsam. Das Völkerrecht ist eine dezentrale Rechtsordnung – ohne zentrale Rechtssetzungs- und Durchsetzungsinstanz. Das Recht kann sich durch den Austausch von Rechtspositionen weiterbilden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Rechtspositionen sich auf eine konkrete Praxis beziehen.
Das Argument (hier und hier) der eingreifenden Mächte lautet: Wir dürfen den Einsatz von Chemiewaffen nicht tolerieren. Eine zentrale Norm der internationalen Beziehungen muss verteidigt werden. Andere Kanäle, auf den Syrienkonflikt einzuwirken, waren aussichtslos. Es bliebe nur die Möglichkeit des Einsatzes von Waffengewalt, um eine „rote Linie“ zu verteidigen, die Präsident Obama 2013 zwar behauptet, dann aber nicht durchgesetzt hat.
Auf den ersten Blick liest sich diese Argumentation wie eine auch völkerrechtlich geprägte Rechtfertigung. Immerhin soll eine Norm verteidigt werden. Aber wichtig sind hier die Details: Von den drei eingreifenden Staaten hat nur das Vereinigte Königreich auch eine klare Rechtsbehauptung aufgestellt. Es gehe davon aus, dass der Angriff auf die Chemiewaffenbasen und anderen Einrichtungen vom Völkerrecht gedeckt sei. Die Vereinigten Staaten und Frankreich haben ihre Argumente dagegen in eine Sprache der Politik und Moral gekleidet. Es ist die Rede davon, dass die Militärschläge angemessen und legitim, notwendig und erforderlich gewesen seien. Von einer Rechtsbehauptung keine Spur.
Wie rechtfertigt nun das Vereinigte Königreich sein Eingreifen? Downing Street No. 10 hat die eigene Rechtsposition am 14. April 2018 in einem „Policy Paper“ dargelegt. Darin heißt es, dass das Völkerrecht es erlaube, in Ausnahmefällen, Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichen Leiden abzuhelfen. Die Rechtsgrundlage dafür sei die Doktrin der humanitären Intervention, für die drei Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen seien. Erstens sei es erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft als Ganzes überzeugt sei, dass es eine extreme humanitäre Notlage gebe, der unmittelbar und unverzüglich abzuhelfen sei. Zweitens dürfe es keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben. Und drittens müsse die Gewaltanwendung notwendig und verhältnismäßig sein.
Diese Voraussetzungen sieht das Vereinigte Königreich als erfüllt an, trotz entgegenstehender Positionen Russlands und Syriens. Durch die Blockade des UN-Sicherheitsrates gebe es zudem keine andere Handlungsmöglichkeit, und die gezielten Angriffe auf die Infrastruktur für den Chemiewaffeneinsatz würden sich auch als notwendig und verhältnismäßig darstellen.
Nach derzeitigem Völkerrecht kann diese Argumentation nicht überzeugen. Zu oft hat sich eine klare Mehrheit der Staaten gegen die Möglichkeit einer unilateralen, das heißt nicht vom UN-Sicherheitsrat ermächtigten humanitären Intervention ausgesprochen. Besonders deutlich wurde dies nach der Kosovo-Intervention 1999 und sechs Jahre später im Rahmen der Reformdiskussionen auf UN-Ebene, als die Ausübung der Schutzverantwortung durch die internationale Gemeinschaft an die Voraussetzungen eines Mandats des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta geknüpft wurde. Selbst wenn man die britische Rechtsposition akzeptieren würde, würden sich weitere Fragen nach der Kohärenz der Argumentation stellen. Sind die Militärschläge wirklich geeignet gewesen, weiteres Leiden zu verhindern? Ist den mutmaßlich zu besorgenden weiteren zukünftigen Opfern des Syrienkonflikts mit diesem Eingriff gedient?
Als Präzedenzfall für die humanitäre Intervention taugt der Einsatz der Waffengewalt am vergangenen Freitag somit nicht. Viel eher stellt er sich als Rückkehr zu einer Form der bewaffneten Repressalie dar (so auch Andreas Kulick hier), die das Völkerrecht eigentlich überwunden geglaubt hatte. Das umfassende Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta erlaubt militärische Gewaltanwendung nur in zwei Ausnahmefällen, die hier beide nicht vorliegen. Weder hat der UN-Sicherheitsrat Gewaltanwendung autorisiert, noch können sich die westlichen Mächte auf ein Recht zur Selbstverteidigung stützen.
Gleichwohl muss die britische Position ernst genommen werden. In ihr liegt eine Rechtsbehauptung. Sie zielt auf eine Veränderung des Völkerrechts ab. Durch die Offenheit und Flexibilität der Völkerrechtsordnung kann sich das Völkerrecht wandeln, auch durch informelle Prozesse, die sich aus einer Mischung aus Praxis und Rechtsüberzeugung zusammensetzen. Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler sprechen hier von nachfolgender Praxis, die zur Auslegung eines Vertrages herangezogen werden kann – hier der UN-Charta – und von einer Fortentwicklung des ungeschriebenen Völkergewohnheitsrechts.
Bisher gibt es wenig Anzeichen dafür, dass sich eine Mehrheit der Staaten dafür entscheiden würde, dem britischen Vorstoß Folge zu leisten. Besorgniserregend ist es aber gleichwohl, dass es außer den „üblichen Verdächtigen“ Russland, Syrien und Iran kaum Staaten gibt, die das westliche Eingreifen in Syrien als das benennen, was es ist: einen Völkerrechtsverstoß. Politisch stoßen die Angriffe auf die syrischen Chemiewaffenbasen auf breite Zustimmung, was auch 2017 schon der Fall war.
Die Bundesregierung betont gerne, dass Deutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung stehe. Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist ein zentraler Eckpfeiler dieser Ordnung. Es zu verteidigen sollte Anliegen der deutschen Bundesregierung sein – auch gegenüber den westlichen Verbündeten. Dabei muss sich die Bundesregierung nicht mit Russland gemein machen. Im Gegenteil: Die Glaubwürdigkeit der richtigen Politik der Nichtanerkennung der Annexion der Krim hängt auch davon ab, dass der Westen nicht mit zweierlei Maß misst. Ein Unrecht rechtfertigt dabei kein anderes. Russlands Politik in der Ukraine wird nicht dadurch völkerrechtskonform, dass westliche Staaten in Syrien ebenfalls gegen das Völkerrecht verstoßen. Die Überzeugungskraft einer Politik, die auf Einhaltung des Völkerrechts pocht, hängt aber davon ab, dass Doppelstandards möglichst vermieden werden.
Natürlich kann auch die Bundesregierung zu der Auffassung kommen, dass am völkerrechtlichen Gewaltverbot in seiner bisherigen Form nicht festgehalten werden soll. Dann sollte sie aber auch diese Rechtsposition klar artikulieren und darlegen, ob sie einer Doktrin der humanitären Intervention oder der Rückkehr bewaffneter Repressalien das Wort reden möchte. Es wäre dann aber nicht mehr die Völkerrechtsordnung, die wir kennen.
Danke für diesen lesenswerten Artikel. In der Sache kann ich nur zustimmen. Und selbst wenn sich die Bundesregierung zu einer Kritik ihrer Verbündeten nicht hat durchringen können: Schweigen wäre hier besser gewesen, als diesen völkerrechtswidrigen Angriff zu billigen. Erinnert ein wenig an Frau Merkels Freude über den Tod von Osama bin Laden: Möge sie sich über das gezielte Töten auf fremdem Territorium ohne Gerichtsverfahren freuen, aber das bitte nicht in unser aller Namen.
Eine kurze Anmerkung: In seinem gestrigen Fernsehinterview hat Emmanuel Macron das Eingreifen in Syrien ebenfalls völkerrechtlich gerechtfertigt. Er sprach davon, dass der Angriff legitim (“légitime”) innerhalb der Regeln des Völkerrechts war. Als Rechtfertigung führte er an, dass Syrien das Chemiewaffenabkommen nicht respektiert habe. Außerdem habe eine Mehrheit der ständigen Vertreter im UN-Sicherheitsrat gehandelt.
Interessant. Ist ein Veto der USA dann auch nicht mehr relevant? Und rechtfertigt der Besitz von Chemiewaffen bspw. durch die USA dann auch Militärschläge?
Einfach nur traurig. Man will sich politisch ja kaum auf die Seite Russlands oder gar Syriens stellen. Aber rechtlich… fällt es schwer, das nicht zu tun.
Zeigt nicht gerade der Angriff auf Syrien die massiven Schwächen der Argumentation einer “Humanitären Intervention” auf?
Auf Basis eines unbewiesenen Völkerrechtsbruch (Giftgaseinsatz) wird mal eben gebombt. Wenn bereits der Verdacht ausreicht, um den Einsatz von Gewalt in Form eines Angriffs als völkerrechtskonform zu erachten, dann kann man doch eigentlich auch direkt wieder sagen: Kloppt euch alle, denn wenn das einmal Schule macht, dann wird schlichtweg -wie es eigentlich eh und je der Fall war- die Lüge vornan eines Konflikts nicht nur eh gebracht sondern auch tatsächlich reichen, um ein anderes Land legal anzugreifen.
Wenn ich die Art einer solchen Argumentation weiterdenke, dann kommen da auch “lustige” Ideen bei rum. Hätte Russland nicht auch die USA angreifen dürfen als die mit ihrer wahnsinnigen Folterdoktrin unter Bush loslegten oder als im Irak die umfangreichen Folterungen von Gefangenen bekannt wurden?
Und noch weiter gedacht: Als die USA den Irak 2003 angriffen, war das ja nun doch recht unumstritten ein Völkerrechtsbruch und zwar ein extrem starker. Auch darauf hätte jedes Land dieser Welt mit der Argumentation der Briten die USA und alle beteiligten Parteien (u.A. eben auch die Briten) angreifen dürfen, ohne dass es irgend ein Mandat des Sicherheitrates gibt oder?
Zu Ende gedacht würde die Durchsetzung und Anerkennung der Argumentation der Briten IMO das Völkerrecht soweit aushölen, dass es auch gleich abgeschafft werden könnte.