Wählen heißt Auswählen – aber zwischen Parteien
Erwiderung auf Matthias Friehes „Überlegungen zu einer grundlegenden Wahlrechtsreform“
Matthias Friehe bringt mit seinem Beitrag semantische Klarheit in den von politischer Rhetorik vernebelten Wahlrechtsdiskurs. Er erinnert daran, dass Wählen „Auswählen“ bedeutet:
„Jede Wahl setzt voraus, dass die Wähler eine Auswahl treffen können. Dafür ist wiederum erforderlich, dass klare Alternativen bestehen: dies oder das.“
So weit ist ihm ausdrücklich zuzustimmen. Dann aber macht er einen Gegensatz auf, der hinter den bereits erreichten Stand des Wahlrechtsdiskurses zurückfällt. Er schreibt nämlich Mehrheits- und Verhältniswahlrecht zwei unterschiedliche Arten von Alternativenbildung zu:
„Beim Mehrheitswahlrecht können Wähler zwischen unterschiedlichen Kandidaten auswählen. Beim Verhältniswahlrecht können Wähler zwischen unterschiedlichen Listen auswählen.“
Diese Unterscheidung verwendet Friehe dann zu zwei Zwecken: Zum einen, um das geltende Wahlrecht dafür zu kritisieren, dass es keine Auswahl zwischen Kandidaten im Wahlkreis zulasse, und zum anderen als Argument für seinen Vorschlag eines Grabenwahlsystems, das klare Alternativen schaffen soll.
Friehes Unterscheidung taugt aber weder zu dem einen noch zu dem anderen Zweck. Denn bei näherem Hinsehen zeigt sich: Das geltende Wahlrecht ermöglicht die entscheidende Auswahl bereits – und auch bei der Grabenwahl wären die Wähler mit den Alternativen konfrontiert, die sie schon nach dem geltenden Wahlrecht haben: der Auswahl zwischen Parteien.
Ob einzeln oder im Paket, Kandidat bleibt Kandidat
Schon wahltechnisch ist die Entgegensetzung von Mehrheits- und Verhältniswahl entlang der Linie Kandidatenauswahl/Listenauswahl nicht richtig. Denn auch bei der Verhältniswahl auf der Grundlage von Listen haben die Wähler die Auswahl zwischen Kandidaten. Nur sind diese Kandidaten eben auf Listen gereiht, während sie den Wählern bei der Mehrheitswahl im Einerwahlkreis als Einzelne gegenübertreten. Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Listenwahl schon früh als vereinbar mit dem Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl angesehen:
„Bei der Verhältniswahl mit gebundenen Listen […] wird […] dem Wähler die Möglichkeit, eine bestimmte Einzelperson zu wählen, insoweit beschränkt, als seine Stimme mehreren Wahlbewerbern, die derselben Liste angehören, nicht aber einer bestimmten Person auf dieser Liste zugerechnet wird. Dadurch wird jedoch die formal zu interpretierende Unmittelbarkeit der Wahl der Abgeordneten nicht aufgehoben“ (BVerfGE 7, 63 [68 f.]).
Wahltechnisch sind nicht Kandidatenauswahl und Listenauswahl miteinander zu kontrastieren, sondern Einzelkandidatur und Listenkandidatur als verschiedene Kandidaturformen, die sowohl bei der Mehrheits- als auch bei der Verhältniswahl zum Einsatz kommen können (die Verbindung von Einzelkandidatur und Verhältniswahl gibt es in historischen Stimmkreissystemen, z. B. dem bayerischen Landeswahlrecht in der Weimarer Republik, aber auch heute noch in Systemen mit übertragbarer Einzelstimmgebung, etwa in Irland). Egal, ob als Einzel- oder als Listenkandidaten – aus wahltechnischer Sicht werden immer nur Kandidaten gewählt.
Kandidaten als Exponenten von Parteien
Matthias Friehe will mit seinem Gegensatz auf etwas anderes hinaus, wie seine Ausführungen zu den Alternativen der Wähler in einem Grabenwahlrecht mit zwei Stimmen zeigen:
„Mit der einen Stimme können sie zwischen mehreren Direktkandidaten im Wahlkreis auswählen, mit der anderen Stimme zwischen mehreren Parteilisten. Die eine Hälfte des Parlaments würde aus erfolgreichen Wahlkreisabgeordneten gebildet, die andere Hälfte mit Abgeordneten von den Parteilisten bestückt.“
Listen erscheinen hier nur noch als „Parteilisten“. Die Auswahl, die die Wähler mit der Zweitstimme treffen, charakterisiert Friehe hier also als Auswahl zwischen Parteien. Und das ganz zu Recht. Denn in der Demokratie, die „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“ ist (Kelsen 1929), ist die Auswahl zwischen Wahlvorschlägen von Parteien notwendig und unvermeidlich eine Parteienwahl.
Doch gilt das, anders als Friehe mit der Rede von „Direktkandidaten“ und „Wahlkreisabgeordneten“ insinuiert, ebenso für die Auswahl zwischen den Kreiswahlvorschlägen von Parteien. Auch bei Einzelkandidaturen, die von Parteien eingereicht werden, stimmen die Wähler in erster Linie für die Partei und nicht für die Person auf dem Wahlvorschlag. Etwas anderes gilt nur für die sog. Einzelbewerber, die nicht von Parteien, sondern von mindestens 200 Wahlberechtigten vorgeschlagen werden (vgl. § 20 Abs. 3 BWahlG). Nur sind diese, vom Gesetz so genannten „anderen Kreiswahlvorschläge“ politisch vollkommen irrelevant (seit 1953 wurde kein „unabhängiger“ Bewerber mehr gewählt), was wiederum den Charakter der Wahlkreiswahl als einer Parteienwahl bestätigt.
Dass auch die Wahlkreiswahl eine Parteienwahl und keine Personenwahl ist, ist nicht nur eine historisch informierte verfassungstheoretische Annahme (vgl. Michl/Mittrop 2023), sondern wird auch von der empirischen Wahlforschung gestützt. Diese hat in den letzten Jahren zu Genüge herausgestellt, dass (abgesehen vom parteitaktischen Stimmensplitting) die Erststimme der Zweitstimme folgt und die Wahlkreiskandidaten den meisten Wählern unbekannt sind (vgl. etwa Niendorf/Oppelland 2015; Westle 2021). Es war daher ein Gebot der Ehrlichkeit, dass der Reformgesetzgeber 2023 die „Personenwahl“ aus dem Bundeswahlgesetz (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG a. F.) gestrichen und damit endgültig in das weite Feld der Wahlrechtsmythen verbannt hat (das Bundesverfassungsgericht konnte sich von der liebgewonnenen Vokabel noch nicht lösen, vgl. BVerfG Urt. v. 30.7.2024, Rn. 210).
Wenn also sowohl in der Wahlkreiswahl mit der Erststimme als auch in der Listenwahl mit der Zweitstimme Kandidaten zur Auswahl stehen, die aber nur als „Exponenten ihrer Partei“ (so schon Leibholz 1931) gewählt werden, fällt der von Friehe aufgemachte Gegensatz in sich zusammen. Keinesfalls kann er den Vorschlag eines Grabenwahlrechts tragen, das den Wählern keine andere Alternative eröffnen würde als das geltende Wahlrecht: die Auswahl zwischen Parteien. Im Gegenteil könnten die Wähler in einem Grabenwahlsystem ihre Parteipräferenz nicht mehr so klar zum Ausdruck bringen wie unter dem geltenden Wahlrecht. Denn im Mehrheitswahlsegment (Wahlkreiswahl) müssten sie sich ernsthaft fragen, ob ihre Partei überhaupt eine Chance auf die Mehrheit hat. Falls nein, müssten sie ihre Stimme entweder „wegwerfen“ oder taktisch für den Kandidaten einer anderen Partei abgeben, die ihnen als das kleinere Übel erscheint. Oder die Entscheidung würde ihnen von vornherein abgenommen, weil die Parteien – wie auch Friehe annimmt – Wahlkreisbündnisse bilden. Die vermeintlich klarere Alternative der Grabenwahl führt so zu einer Reduktion des politischen Angebots, wie die Erfahrung mit Grabenwahlsystemen in der Nachkriegszeit belegt (vgl. Michl 2023).
Wozu noch Wahlkreise?
Man mag nach alledem fragen, weshalb es dann überhaupt noch Einzelkandidaturen in Wahlkreisen gibt oder geben sollte. Wenn die Wähler schon mit ihrer Stimme für Listenkandidaten ihre Parteipräferenz zum Ausdruck bringen können, weshalb sollten sie dann – zusätzlich nach ihrer Parteipräferenz – einen Einzelkandidaten auswählen? Die Antwort ist nicht bei der Wahl selbst, sondern bei der Vorauswahl der Kandidaten durch die Parteimitglieder zu suchen (§§ 21, 27 BWahlG). Aus Sicht der Parteibasis macht es nämlich einen erheblichen Unterschied, ob ein Bewerber für eine Einzel- oder eine Listenkandidatur zu nominieren ist. Denn die Aufstellung von Kandidaten auf Landeslisten kann ein „einfaches“ Parteimitglied meist nur mittelbar beeinflussen: durch die Wahl von Delegierten zu einer Versammlung auf Landesebene, die am Ende über die Listenaufstellung entscheidet. Bei der Aufstellung von Wahlkreiskandidaten ist der Einfluss der Parteibasis hingegen deutlich größer. Denn häufig findet diese in Mitgliederversammlungen auf der Wahlkreisebene statt, in der das „einfache“ Mitglied selbst Kandidaten vorschlagen und wählen kann. Selbst wenn die Partei auch auf der Wahlkreisebene eine Delegiertenversammlung durchführt, ist das „einfache“ Mitglied immer noch einflussreicher als bei der Listenaufstellung, da seine Stimme bei der Delegiertenwahl auf der niedrigeren Ebene ein größeres Gewicht hat.
Die Beibehaltung der Wahlkreiswahl, an der aufgrund von politischen Pfadabhängigkeiten ohnehin kein Weg vorbeiführen dürfte, fördert so den Grundsatz der innerparteilichen Demokratie, dem die Vorschriften des geltenden Wahlrechts über die Kandidatenaufstellung dienen. Die binnendemokratische Kandidatenaufstellung ist ein Korrelat der Parteienwahl zum Parlament, zumal die Mitgliedschaft in Parteien allen Wahlberechtigten offensteht. Wer bei der Wahl des Bundestages nicht nur eine Partei wählen, sondern auch das Personal auswählen will, das diese Partei im Parlament vertritt, braucht daher kein Grabenwahlrecht, sondern ein Parteibuch. Das lässt sich auch leichter beschaffen.