Warum der Stadionverbots-Beschluss weit mehr ist als nur Common Sense
Mit Beschluss v. 11. April 2018 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass ein bundesweit gültiges Stadionverbot eine spezifische Konstellation ist, in der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben (Rn. 41). Die Ausstrahlungswirkung des Gleichbehandlungsgebots auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen begründet zwei Pflichten privater Akteure: (1.) Stadionverbote dürfen nicht willkürlich festgesetzt werden, sondern müssen auf einem sachlichen Grund beruhen (Rn. 45). (2.) Prozedural müssen die Stadionbetreiber die Betroffenen grundsätzlich vorher anhören und ihre Entscheidung ihnen gegenüber begründen (Rn. 46). In der Sache hat das Bundesverfassungsgericht – bis auf die Anhörungspflicht – damit die Entscheidungen der Zivilgerichte bestätigt. Bereits diese haben darauf hingewiesen, dass das Stadionverbot als Ausübung des Hausrechts auf einem sachlichen Grund beruhen müsse. Mit den Worten des Bundesgerichtshofs lasse es Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu, „einen einzelnen Zuschauer willkürlich auszuschließen“. Ist der Beschluss also, wie Matthias Ruffert schreibt, lediglich eine zutreffende Einzelfallentscheidung? Warum aber hat der Senat darüber entschieden? Und warum hat er sich dafür mehr als acht Jahre lang Zeit genommen? Diese Faktoren passen nicht so recht zur These einer common sense-Entscheidung. Ich plädiere mit vier Argumenten dafür, der Entscheidung eine größere Bedeutung zuzuschreiben.
1. Das Bundesverfassungsgericht führt die Debatte zur „Drittwirkung der Grundrechte“ wieder an ihren Ausgangspunkt zurück, indem es die Anzahl freiheitsrechtlicher Kollisionen drastisch verringert und stattdessen die privatrechtlichen Zumutungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes in den Mittelpunkt stellt. Der Beschwerdeführer hat seine Verfassungsbeschwerde im Kern darauf gestützt, dass das Stadionverbot sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletze. Er hat den „mittelbaren Grundrechtskonflikt“ – in der Tradition seit der Lüth-Entscheidung – als Kollision gegensätzlicher Freiheitsrechte konstruiert: dort das, aus dem Eigentumsgrundrecht folgende, Hausrecht der Stadionbetreiberin, hier die allgemeine Handlungsfreiheit des Fußballfans, Fußballspiele zu besuchen. Dem stellt sich der Erste Senat nachdrücklich entgegen. Er beschränkt die Privatrechtswirkung dieses Grundrechts auf „spezifische Fallkonstellationen“ mit „typisierbaren Fallgestaltungen“, besonders belastenden Auswirkungen oder Fällen struktureller Unterlegenheit (Rn. 38). Der allgemeinen Handlungsfreiheit lasse sich keine verfassungsrechtliche Wertentscheidung entnehmen, „nach der in jedem Privatrechtsstreit die unbenannte Freiheit zu jedwedem selbstbestimmten Handeln die Auslegung des Privatrechts im Wege der mittelbaren Drittwirkung anleiten müsste.“ (Rn. 37).
Die Konsequenzen sind weitreichend, weil der eine Privatrechtsakteur seine „Freiheit, nach subjektivem Belieben ein bestimmtes Verhalten zu verwirklichen“, der anderen Privatrechtsakteurin nicht mehr „unter Berufung auf die allgemeine Handlungsfreiheit“ zur Einschränkung deren zivilrechtlicher Rechtspositionen entgegenhalten kann (vgl. Rn. 37). Damit reduziert das Gericht die Anzahl gerichtlich aufzulösender Grundrechtskollisionen und leistet damit einen Beitrag zur De-Konstitutionalisierung des Privatrechts. Folgerichtig stärkt es damit den politischen Prozess der Privatrechtsgenese: Wer möchte, dass seine „Freiheit, nach subjektivem Belieben ein bestimmtes Verhalten zu verwirklichen“, rechtlich gegenüber konkurrierenden Freiheiten durchsetzbar ist, muss sich dafür in der pluralistischen Gesellschaft politische Mehrheiten organisieren.
Ganz anders liegt es aber, wenn Freiheiten ungleich ausgeübt werden können. Das Bundesverfassungsgericht lokalisiert das verfassungsrechtliche Problem des Stadionverbots daher zutreffend „in der Verwehrung der Teilnahme an einer einem breiten Publikum geöffneten Großveranstaltung“ (Rn. 38). Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist also nicht die Bedeutung und das Ausmaß der Freiheitsbeschränkung relevant, sondern „die Ungleichbehandlung gegenüber all denjenigen, die das Stadion besuchen können“ (Rn. 39). Darin liegt eine ganz erhebliche Akzentverschiebung weg vom traditionellen deutschen Denken in Freiheitskategorien hin zur (auch) verfassungsrechtlich geforderten Sensibilisierung des Privatrechts für ungleiche Freiheitsmöglichkeiten in der Umwelt des Rechts. Das Unionsrecht war, jedenfalls was die Diskriminierungsverbote als besondere Ausprägungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes betrifft, dem deutschen Recht in dieser Hinsicht schon immer voraus.
2. Indem das Bundesverfassungsgericht die Privatrechtswirkung des Art. 3 Abs. 1 GG und damit Gleichbehandlungspflichten Privater bejaht, positioniert es sich zu einer Frage, die in Deutschland seit den 1950er Jahren kontrovers diskutiert wird. Fragt man heute nach dem Verhältnis von Gleichheitssatz und Privatautonomie, stößt man, nicht zuletzt auch in der von Matthias Ruffert angesprochenen (vermeintlich) „letzten Habilitationsschrift zum Thema“, fast durchweg auf Variationen desselben Satzes: Eine allgemeine Bindung Privater an grundrechtliche Gleichbehandlungsgebote für ihr Verhalten untereinander würde die grundrechtlichen Freiheiten aufheben und die Privatautonomie zerstören, die gerade auch auch Freiheit sei, andere Private ungleich zu behandeln und sich dafür nicht rechtfertigen zu müssen. Die Richterinnen und Richter des Ersten Senats kennen diese Debatte. Sie halten daher strategisch geschickt schon im 1. Leitsatz eine Beruhigungspille für meine Kolleginnen (weniger) und Kollegen (mehr) bereit, die beim Gedanken der Privatrechtswirkung des Art. 3 Abs. 1 GG Schnappatmung bekommen und die Totenglocken der Privatautonomie läuten hören: „Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie wann unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließen will.“ Und in Rn. 40 stellt das Gericht klar: „Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Vertragsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterlägen, folgt demgegenüber aus Art. 3 Abs. 1 GG auch im Wege der mittelbaren Drittwirkung nicht.“ Der Beruhigungsstrategie geschuldet, adressiert das Bundesverfassungsgericht hier freilich das falsche Problem: Nicht die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wirft freiheitsrechtliche Bedenken auf, sondern die unkritische Übertragung der für den Staat geltenden Rechtfertigungsmaßstäbe auf Private. Nicht die Rechtfertigungsanforderungen an sich sind problematisch, sondern lediglich dieselben Rechtfertigungsanforderungen. Die Gefahr für das Freiheitsrecht resultiert nicht aus der Gleichbehandlungspräsumtion, sondern aus der Kontrolldichte von Rechtfertigungen. Die Horizontalwirkung – unabhängig davon, ob man sie als unmittelbare oder mittelbare konstruiert – kann niemals zu derselben Bindung führen. Die verpflichteten privaten Akteure sind immer auch Grundrechtsberechtigte. Schon deshalb können die Bindung und die daraus folgenden Rechtfertigungsanforderungen keine umfassenden sein. Die Privaten werden nicht gebunden wie der Staat. Sie bleiben Private. Die entscheidende Frage lautet daher, wann der elementare gleichheitsrechtliche Rationalitätsstandard (Alexander Somek) auch in privatrechtlichen Rechtsverhältnissen anzuwenden ist: In welchen Konstellationen genügt der bloße Verweis auf die Ausübung von Freiheit? Wann muss die Ungleichbehandlung gegenüber der ungleich behandelten Partei dagegen mit kontextbezogenen sachlichen Gründen gerechtfertigt werden und wann muss die Begründung sogar einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten? Der Beschluss bestätigt die These, dass man jedenfalls verfassungsrechtlich differenzieren kann zwischen solchen Ungleichbehandlungen, deren Rechtfertigungsanforderungen bei „null“ liegen und solchen, in denen die Ungleichbehandlung mit einem sachlichen Grund gerechtfertigt werden muss, der sich nicht mehr in der Ausübung privater Autonomie erschöpfen kann.
3. Mit der Entscheidung operationalisiert das Bundesverfassungsgericht erstmals den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz für das Privatrecht – jedenfalls in solchen Fällen, in denen es zu suspekten Ungleichgewichtslagen kommen kann. Der wichtigste Satz der Entscheidung lautet: „‚Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedoch für spezifische Konstellationen ergeben.“ Welche spezifischen Konstellationen das sind, lässt das Gericht in kluger Weise offen. Der zu entscheidende Fall war insoweit einfach gelagert, weil ihm ein klassisches Machtungleichgewicht zugrunde liegt: Ein Fußballverein kann aufgrund privatautonomer Vereinbarung mit dem DFB, der DFL und den anderen Vereinen einen Fußballfan von allen Fußballstadien in Deutschland ausschließen. Dass die Stadionbetreiberin diese Macht nicht dazu nutzen darf, „bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen“ (Rn. 41), kann im Ergebnis wohl jeden überzeugen. Schwieriger ist es, die Anwendung des elementaren gleichheitsrechtlichen Rationalitätsstandards dogmatisch zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht stellt für den Fall auf den Öffentlichkeitsbezug der privatautonomen Entscheidung ab. Wenn eine Veranstaltung für ein breites Publikum geöffnet werde (das problematische Merkmal „ohne Ansehen einer Person“ hätte der Senat besser vermieden) und wenn der Zugang dazu in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheide, dann treffe die private Betreiberin „eine besondere rechtliche Verantwortung“ (Rn. 41).
Diese Begründungsfaktoren erinnern an die Tatbestandsvoraussetzungen des allgemeinen zivilrechtlichen Kontrahierungszwangs – der in der Sache nichts anderes als eine Pflicht zur Gleichbehandlung und damit zur sachlichen Begründung einer Ungleichbehandlung ist. Das Privatrecht kennt insgesamt eine erstaunliche Bandbreite von Gleichbehandlungspflichten Privater untereinander (wie eine jüngere Habilitationsschrift zum Thema behauptet): Es gibt neben dem, im AGG und im primären Unionsrecht geregelten, besonderen Nichtdiskriminierungsrecht eine Reihe allgemeiner Gleichbehandlungspflichten im Arbeitsrecht, im Verbandsrecht, im Kapitalmarktrecht, im Insolvenzrecht, im Wettbewerbsrecht und als Ausprägung des allgemeinen Kontrahierungszwangs. Trotz ihrer vermeintlichen Heterogenität beruhen diese Gleichbehandlungspflichten auf der normativen Erwartung (Niklas Luhmann) der privaten Akteure, bei Verteilungsentscheidungen privater Akteure beim Vorliegen vergleichbarer Umständen nicht ohne sachlichen Grund ungleich behandelt zu werden. In diesen Fällen realisiert sich in der Ungleichbehandlung ein Funktionsdefizit gleicher Freiheit. Das führt bislang schon einfachrechtlich dazu, dass die Rechtfertigungsanforderungen steigen und die ungleich behandelnde Partei einen sachlichen Grund benennen können muss. Sucht man nach Anschauungsmaterial für die vom Bundesverfassungsgericht gemeinten „spezifischen Konstellationen“, wird man im einfachen Recht fündig. Zugleich ermöglicht es der Beschluss, den Geltungsgrund für die im autonomen nationalen Recht wurzelnden Gleichbehandlungspflichten einheitlich in der Horizontalwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen. Bislang gehörte es zivilrechtsdogmatisch zum guten Ton, diesen Begründungsansatz zu vermeiden, so wie sich die Gralsritter vor dem Klingsor‘schen Zaubergarten hüten sollten. Auch das hat nicht funktioniert.
4. Das Gleichbehandlungsgebot ist in seiner Horizontalwirkung primär ein Anspruch auf Rechtfertigung der Ungleichbehandlung mit kontextbezogenen sachlichen Gründen (vgl. Rn. 45). Das Ziel personaler Gleichheit ist es, die Kontexte des konkreten sozialen Konflikts so zu strukturieren, dass die jeweiligen Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Gleichbehandlungs- und Freiheitsinteressen des ungleich Behandelten sichtbar werden und dadurch von ihm thematisiert werden können. Der EuGH hat das jüngst in der Rs. Egenberger für das Diskriminieringsrecht als besonderes Gleichbehandlungsrecht vorgemacht. Jetzt leitet auch das Bundesverfassungsgericht entgegen der, es sich etwas zu einfach machenden, Begründung des Bundesgerichtshofs prozedurale Handlungspflichten privater Akteure ab. Insbesondere muss die ungleich behandelnde Partei die ungleich behandelte Partei grundsätzlich anhören (Rn. 46). Wer in „spezifischen Konstellationen“ gleichheitsrechtlich relevante Entscheidungen treffen kann, hat auch die besondere Verantwortung denjenigen, der davon in seinen Freiheitssphären betroffen ist, die Möglichkeit zu geben, „sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen und ihre Rechte unter Darlegung ihrer Sichtweise rechtzeitig geltend zu machen“ (Rn. 47). Der Gleichbehandlungsanspruch ist damit ein weiterer Faktor, der zur Prozeduralisierung des zivilrechtlichen Anspruchssystems beiträgt.
Mit der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Horizontalwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG kann eine moderne Konzeption des Privatrecht gut leben. In der als Korrektiv zur Privatautonomie fungierenden gleichbehandlungsrechtlichen Zugangsregel herrscht eine Präsumtion der Gleichbehandlung. Sie sensibilisiert das Recht bei Ungleichbehandlungen, die Folge von Freiheitsausübung und sozialen Machtverhältnissen sind. Aus diesem Gleichbehandlungsgebot folgt keine Pflicht Privater zur differenzlosen Gleichbehandlung. Diese Selbstverständlichkeit ist hervorzuheben, weil nicht selten eine perhorreszierende Vorstellung des Gegenteils beschworen wird. Gleichbehandlung im Privatrecht führt nicht zur „Gleichmacherei“. Sie ist ein Versuch, den komplexen Gleichheitsanforderungen in den Funktionssystemen der Gesellschaft gerecht zu werden. Der Gleichbehandlungsanspruch zwingt zur sachlichen Rechtfertigung der festgestellten Ungleichbehandlung. Das Recht fungiert damit sowohl als Förderer („Privatautonomie“) als auch als Kontrolleur („Gleichbehandlungsanspruch“) der Autonomie der anderen Funktionssysteme, indem es die Akteure selbst in einen rationalen Diskurs zwingt. Diese Zumutung sollte auch eine klassisch-liberale Privatrechtskonzeption aushalten können.
Lieber Michael,
ich habe Deinen Beitrag mit großem Interesse gelesen und empfinde ihn als sehr gute Darstellung der zentralen Aspekte sowie als sinnvoller Blick in die Zukunft des Umgangs mit einer etwigen Horizontalwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG. Mich treiben allerdings ein paar Aspekte um, die sicherlich manchem Kritiker der Ausstrahlungswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes naheliegen:
1. Schon in Betrachtung seiner abwehrrechtlichen Dimension fällt es beim allgemeinen Gleichheitssatz vielfach schwer, eine halbwegs willkürfreie Extrapolation und Gewichtung von Vergleichsmerkmalen zu bewerkstelligen. Im Rahmen der Horizontalwirkung sehe ich das Problem massiv verschärft, da man hier – wie es das BVerfG auch andeutet – nur in gewissen Fallgruppen von einem Eingreifen des Gleichheitsgrundsatzes wird ausgehen können. Dem liegt jedoch eine Wertung zu Grunde, wann im Bereich staatlich nicht oder nicht entsprechend regulierter Felder gewissermaßen eine zusätzliche Stütze für eine (die ungleich behandelte) Partei her muss, obwohl dem Privatrechtssubjekt außerhalb der staatlich regulierten Felder Willkür bewusst erlaubt wird. Natürlich sehe ich den Ansatz, dass man sich hier bewusst auf Felder wie sportliche Großveranstaltungen etc. zurückziehen wird und dabei stets das Argument einseitiger erheblicher Überlegenheit bringt, jedoch dürfte die Grenzlinie kaum auszumachen sein und zugleich für den jeweils diskriminierenden Anbieter zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen (oder aber, er überlegt sich ab jetzt eben doch bei jeglichem Angebot vor einem Ausschluss einzelner oder Gruppen, diese stets anzuhören und nur nach sachlichen Gründen zu differenzieren, selbst wenn er das nicht möchte). Ist man als Judikative und als begleitende Rechtswissenschaft demgegenüber bewusst darum bemüht, solche gleichheitsrechtli