11 January 2024

Warum Deutschland vor dem IGH dem von Südafrika gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords entgegentreten sollte

Heute und morgen verhandelt der IGH im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über eine Klage Südafrikas, in der gegen Israel aufgrund seiner Reaktionen auf die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober 2023 der besonders schwere Vorwurf des Völkermords an Palästinenserinnen und Palästinensern erhoben wird. Lässt man die Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes einmal beiseite, so stellen sich in dem Verfahren sehr grundsätzliche Fragen der Ermittlung und Zurechnung der „Absicht, […] eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (Art. II Völkermordkonvention). In einem von Gambia gegen Myanmar wegen des Völkermords an den Rohingya 2019 eingeleiteten Verfahren stellten sich ähnliche Fragen der Zurechnung und Beweisführung. Zu diesen Fragen hat Deutschland im November 2023 gemeinsam mit Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und Kanada im Wege einer Nebenintervention nach Art. 63 Abs. 2 IGH-Statut Stellung bezogen und die Position Gambias gestützt. Diese Verfahrensbeteiligung sowie weitere, nachfolgend zu erläuternde Gründe sprechen dafür, für das Hauptsacheverfahren zwischen Südafrika und Israel ebenfalls eine Nebenintervention zu erklären – hier allerdings mit dem Ziel, Israel beizustehen und der südafrikanischen Argumentation entgegenzutreten.

Prozessuale Besonderheiten der Nebenintervention vor dem IGH

Zunächst bedarf es einer kurzen Erläuterung zum Institut der Nebenintervention vor dem IGH. Das IGH-Statut sieht dieses in zwei unterschiedlichen Formen vor. Zum einen gibt es die Möglichkeit einer Nebenintervention, wenn ein Staat sich durch ein anhängiges Verfahren möglicherweise in einem eigenen rechtlichen Interesse berührt sieht (Art. 62 Abs. 1 IGH-Statut). Das dürfte für Deutschland im aktuellen Verfahren eher nicht in Frage kommen, auch nicht unter Berücksichtigung der besonderen historischen Verbindungen zwischen Deutschland, Israel und der Völkermordkonvention. Letztlich ist Deutschland nicht anders betroffen als alle anderen Vertragsparteien der Völkermordkonvention auch.

Hiervon abgesehen kommt eine Nebenintervention auch in Betracht, wenn es in einem anhängigen Verfahren um die Auslegung eines multilateralen Vertrags geht, dessen Vertragspartei auch der intervenierende Staat ist (Art. 63 Abs. 2 IGH-Statut). Dahinter steht die Überlegung, dass die Auslegung eines multilateralen Vertrags ungeachtet der nur bilateralen Bindungswirkung des Urteils zwischen den Streitparteien (Art. 59 IGH-Statut) eine hohe Präzedenzwirkung für alle anderen Vertragsparteien hat. Diesen soll deshalb die Möglichkeit der Beteiligung eröffnet werden, ohne dass sie dafür ein spezifisches eigenes rechtliches Interesse geltend machen müssen. Diese allgemeine Zwecksetzung einer Nebenintervention nach Art. 63 Abs. 2 IGH Statut kann trotz vieler offener sonstiger Fragen im Recht der Nebenintervention als weitgehend konsentiert angesehen werden. Sie bildete auch die Grundlage für die einleitend angesprochene Erklärung Deutschlands und seiner Partner im Verfahren Gambias gegen Myanmar. Die Zwecksetzung erklärt auch, warum – anders als in vielen Fällen des Verfahrensbeitritts im innerstaatlichen Prozessrecht – die Intervention nicht explizit zugunsten einer der beiden Streitparteien erfolgen muss. Im Vordergrund steht der Schutz des eigenen Interesses an einer bestimmten Auslegung des Vertrags, nicht die Unterstützung einer der beiden Streitparteien. Dessen ungeachtet hat die Entscheidung über eine Nebeninterventionserklärung aber selbstverständlich – wie vieles im Völkerrecht – auch eine erhebliche politische Dimension. Das wird in einer Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes zum Beitritt im Verfahren Gambia – Myanmar sehr deutlich, in der einerseits Grundfragen der Auslegung der Völkermordkonvention thematisiert werden, andererseits aber klar Position zugunsten Gambias und damit gegen Myanmar bezogen wird. Noch deutlicher ist die politische Positionierung in der Beitrittserklärung Deutschlands in einem dritten aktuellen Verfahren auf der Basis der Völkermordkonvention, nämlich demjenigen zwischen der Ukraine und Russland (siehe dazu beispielsweise die Analyse hier).

Warum sollte Deutschland die Nebenintervention im Verfahren zwischen Südafrika und Israel erklären?

Zunächst lässt sich ein Kontinuitätsargument anführen. Das Verfahren zwischen Südafrika und Israel ist das dritte, das innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit auf der Basis der Zuständigkeitsklausel in Art. IX Völkermordkonvention vor dem IGH angestrengt wird. Wie gerade angesprochen, hat Deutschland in den beiden vorherigen Verfahren eine Interventionserklärung abgegeben. Im Verfahren zwischen der Ukraine und Russland hat Deutschland seine Interventionserklärung darüber hinaus ausdrücklich mit der eigenen Geschichte begründet (Rn. 14). Es bedarf zwar, wie gesehen, im Rahmen der Intervention nach Art. 63 Abs. 2 IGH-Statut keiner Darlegung eines eigenen rechtlichen Interesses. Wenn die eigene Geschichte aber bei der damaligen Erklärung Teil der Motivation war, dann muss das erst recht in Bezug auf einen gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords gelten. Damit ist nicht gemeint, dass Deutschland aus historischer Verantwortung einseitig und unbesehen israelische Positionen verteidigen muss. Wohl aber bedeutet diese historische Verantwortung, dass Deutschland nach Kräften auf eine sachgerechte Auslegung und Anwendung der Völkermordkonvention gerade im Nahen Osten hinwirkt.

Nebenintervenienten werden zwar nicht Streitpartei, erlangen aber eine eigene verfahrensrechtliche Position, die beispielsweise die Möglichkeit weiterer schriftlicher Stellungnahmen und eine Beteiligung an mündlichen Verhandlungen beinhaltet (Art. 86 Verfahrensordnung des IGH). Diese besonderen Mitwirkungsmöglichkeiten stellen ein wichtiges Instrument zur Wahrnehmung der Verantwortung für die Völkermordmordkonvention dar.

Vor allem aber gibt eine Nebenintervention Deutschland die Möglichkeit, die eigene Position aus der Interventionserklärung im Verfahren zwischen Gambia und Myanmar zu präzisieren und fortzuentwickeln. Dort wurde ein starker Akzent auf sexualisierte Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Kinder, sowie auf die absichtliche Schaffung unerträglicher Lebensbedingungen gesetzt. Diese Aspekte spielen angesichts der furchtbaren humanitären Situation im Gaza-Streifen auch jetzt wieder eine wichtige Rolle. Der verfahrenseinleitende Schriftsatz Südafrikas argumentiert hier geschickt und materialreich mit einer umfangreichen Aufstellung von als „genocidal acts“ (Rn. 43 ff.) bezeichneten Handlungen, die eng mit der massiven militärischen Gewaltausübung Israels verbunden sind und die aktuelle Unerträglichkeit der Lebensbedingungen belegen. Allerdings muss – und darin unterscheidet sich die Situation im Gaza-Streifen grundlegend von derjenigen der Rohingya in Myanmar – der militärische Konflikt zwischen Israel und der Hamas berücksichtigt werden, wenn aus dem Ausmaß der militärischen Gewaltanwendung und dem Ausmaß der Zerstörung der zivilen Infrastruktur Rückschlüsse auf einen Völkermord gezogen werden sollen. Südafrika blendet hier die Selbstverteidigungssituation Israels praktisch vollständig aus. Damit soll nicht gesagt werden, dass sämtliche Maßnahmen Israels vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt und damit gerechtfertigt sind. Aber selbst eine exzessive Selbstverteidigung begründet eben noch nicht ohne Weiteres einen Völkermord, sondern zunächst einmal „nur“ einen Völkerrechtsverstoß. Dass es hier leicht zu einem Kurzschluss kommen kann, bringt ein gestern auf LTO erschienener Beitrag mit der falschen Alternative „Selbstverteidigung oder Völkermord?“ in der Überschrift unfreiwillig auf den Punkt. Gleiches gilt im Übrigen auch für etwaige Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht oder gegen menschenrechtliche Garantien. Auch sie begründen, selbst wenn sie vorliegen, nicht automatisch den Vorwurf des Völkermords.

Wie und ab wann aus einer Zusammenschau massiver militärischer Gewaltanwendung und (teilweise schwer erträglicher…) Äußerungen von politischem Führungspersonal und anderen Amtsträgern während einer anhaltenden militärischen Auseinandersetzung in einer Art Gesamtbetrachtung auf die vom Tatbestand des Völkermords verlangte „Absicht, […] eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ geschlossen werden kann, wird eine der zentralen Rechtsfragen im laufenden Verfahren sein. Dabei dürfen plausible alternative Deutungen nicht einfach vollständig übergangen werden. Das hat der IGH im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Konflikt ausdrücklich entschieden: „[…] in order to infer the existence of dolus specialis from a pattern of conduct, it is necessary and sufficient that this is the only inference that could reasonably be drawn from the acts in question.“ (Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Judgment, l.C.J. Reports 2015, p. 3, para. 148; Hervorhebung nur hier). Bei den von Israel ergriffenen Maßnahmen gibt es eine solche plausible alternative Deutung. Sie besteht darin, dass diese darauf abzielen, das Terrornetzwerk der Hamas zu zerstören, aber nicht die Absicht verfolgen, die palästinensische Bevölkerung zu vernichten. Auch wenn die hohe Zahl an Toten unter der Zivilbevölkerung und die enormen Sachschäden entsetzlich sind, so belegen sie dennoch nicht zwangsläufig die Absicht des Völkermords. Gegen eine solche Absicht sprechen beispielsweise die wiederholten Aufforderungen an die Zivilbevölkerung, bestimmte Teile des Gebiets zu verlassen, oder auch die Beachtung der Pflicht zur Warnung und Fristsetzung, bevor einem Zivilkrankenhaus der Schutz entzogen wird, weil es außerhalb seiner humanitären Bestimmung dazu verwendet wird, den Feind schädigende Handlungen zu begehen (Art. 19 IV. Genfer Konvention).

Unglückliche Konzentration auf den Vorwurf des Völkermords

Zum Schluss: Es ist im Grundsatz selbstverständlich sehr zu begrüßen, dass der emotional und politisch enorm aufgeladene Konflikt zwischen Israel und Palästina in die der rationalen Argumentation verpflichteten und gut strukturierten Bahnen des Rechts gelenkt werden soll. Auch ist der IGH als „Hauptrechtsprechungsorgan“ der Vereinten Nationen (Art. 92 UN-Charta) dafür an sich das richtige Forum. Man muss allerdings sehen, dass der Umfang der Zuständigkeit des IGH von einer vorherigen Zustimmung der Streitparteien abhängig ist. Für die Völkermordkonvention haben die Vertragsparteien schon 1948 ein entsprechendes Einverständnis erklärt. Für die meisten anderen Regeln, die auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina anwendbar sind (etwa diejenigen des humanitären Völkerrechts oder menschenrechtliche Garantien, und vor allem auch für die UN-Charta selbst und das dort sowie im Völkergewohnheitsrecht garantierte Selbstverteidigungsrecht), gilt das dagegen leider nicht. Deshalb fehlt es dem IGH insoweit an der Zuständigkeit. Das führt zu einer sehr unglücklichen Fokussierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf den gerade Israel besonders schwer treffenden Vorwurf des Völkermords und es beschränkt zugleich auch die Entscheidungsoptionen des IGH. Ob diese Engführung im vorliegenden Verfahren eine eigene Dynamik auslösen wird und wenn ja, in welche Richtung diese dann weist, ist im Moment nicht vorhersehbar. Darin liegt ein weiterer Grund, sich am Verfahren zu beteiligen.