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14 June 2021

Was bedeuten Kontaktreduzierungen für die Universität?

Corona hat Deutschland im Griff. Seit April 2020 befinden sich die Hochschulen im Dauerlockdown. Schon im dritten Semester unterrichten wir ganz überwiegend mit digitalen Hilfsmitteln, die Gebäude sind nur eingeschränkt zugänglich, die Nutzung der Bibliotheken ist ausgeklügelt kontingentiert, wenn sie überhaupt zulässig ist. Die Universität ist ein menschenleerer, surrealer Ort geworden.

Zunächst kam nach dem Frühjahrslockdown im Sommer 2020 ein Hauch Hoffnung auf: Mit Hygienekonzepten sollte die Einhaltung der allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln orts- und bereichsspezifisch sichergestellt werden. Man vertraute auf den Einfallsreichtum und die Verantwortungsbereitschaft vor Ort, ergänzt um Maßnahmen zur Sicherstellung der Kontaktverfolgung. Das Signal war: Wir alle tragen Verantwortung für die Pandemiebekämpfung und werden für unsere Verantwortungsbereiche einbezogen. Konkret hieß das etwa für meine Fakultät, die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster, dass sich im Dekanat unter der Leitung des Dekans Prof. Dr. Matthias Casper spezielle Arbeitsgruppen bemühten, sichere Bedingungen zu gewährleisten und entsprechende Verhaltensregeln zu entwickeln. Das geschah unter Einbeziehung der Leitung der Seminarbibliothek, nicht zuletzt auch der Studierenden in Gestalt der Fachschaft.

Viele haben viel Zeit und Sorge auf das Erarbeiten von Hygienekonzepten verwendet, um Forschung und Lehre unter vertretbaren Bedingungen zu ermöglichen. So wurde die Kapazität der Hörsäle nach den Abstandsregeln berechnet und die dann noch verfügbaren Sitze mit QR-Codes ausgezeichnet, so dass sich Hörerinnen und Hörer am Platz ein- und ausloggen konnten. Wegeführungen mit „Einbahnstraßen“ sollten Begegnungen verhindern. All das hätte einen kontaktarmen Unterricht ermöglicht: Ein Hörsaal mit 150 Plätzen hätte immerhin einen Kurs mit 30 Studierenden ermöglicht; der größte Hörsaal wäre auf etwa 150 Plätze geschrumpft. Viele Veranstaltungen wären auf diese Weise durchführbar gewesen: Spezialvorlesungen in den höheren Semestern ebenso wie Arbeitsgemeinschaften in den unteren Semestern. Die Studierenden in großen Vorlesungen wären in entsprechend kleine Kohorten aufgeteilt worden, die man im Wechsel präsent/digital hätte unterrichten können, so dass Abstand und Nachverfolgung gewährleistet gewesen wären. Vor allem die Anfangssemester hätten so die Universität auch einmal von innen sehen und andere Studierende kennenlernen können.

Oliver Lepsius bei einer digitalen Vorlesung im leeren Hörsaal. Foto: Fabian Müller.

Denken in Infektionsmöglichkeiten

Leider überholten dann der Verlauf der Pandemie und rechtliche Vorgaben diese Bemühungen. Zu Beginn des Wintersemesters 2020/2021 hieß es, das Infektionsgeschehen sei zunehmend diffus. Die Folge war, dass pauschale Kontaktbeschränkungen an die Stelle von Hygieneschutzkonzepten traten. Die Kontakte als solche sollten rein quantitativ zurückgefahren werden ohne Ansehung von Infektionswahrscheinlichkeiten, weil deren Ermittlung und Kontaktverfolgung als nicht mehr machbar galt (quantitative Überforderung der Gesundheitsämter, qualitativ diffuses Infektionsgeschehen).

Damit aber änderte sich auch die Zielrichtung der Maßnahmen. Setzten diese im Sommer beim individuellen Kontakt (Abstandsregeln, Maskenpflicht) und seiner Nachverfolgung an, so wurde nun pauschal reduziert: Bestimmte Lebensbereiche wurden geschlossen, nicht weil sie sich als besonders infektiös herausgestellt hätten, sondern weil man dort eine statistische Reduzierung der Alltagskontakte erbringen konnte. Nur so ist etwa zu erklären, dass der Einzelhandel bis auf das „Systemrelevante“ geschlossen wurde. Wenn man nichts kaufen kann, so die Grundannahme, dann kommen auch keine Menschen in die Innenstädte. Wenn keine Vorlesungen stattfinden und die Bibliotheken schließen, bleiben Studierende zu Hause.

Folglich durfte weder ein einziger Zuschauer in ein Stadion, das 70.000 fasst, noch in ein Theater, das 1.000 Plätze und beste Lüftungen hat. Der öffentliche Raum als solcher wurde gezielt unattraktiv gemacht, um die Mobilität und damit Kontakte zu reduzieren. An die Stelle von Infektionswahrscheinlichkeiten trat also ein Denken in Infektionsmöglichkeiten. Modelle wurden wichtiger als Empirie. Damit wurde aber auch die Verantwortung verlagert, von den Einzelnen mit ihren Hygienekonzepten auf den generell-abstrakt regelnden Verordnungsgeber, der über Verbotstatbestände Kontakte reduzieren und dadurch Inzidenzzahlen steuern wollte.

Beides hatte etwas Bevormundendes: Unverdächtige Bereiche mussten schließen und hafteten dadurch für ein Infektionsgeschehen, das sich andernorts abspielte, das wegen der Diffusität aber nicht mehr bereichsspezifisch zugerechnet wurde. Hygienekonzepte und Nachverfolgbarkeit wurden dadurch erst einmal hinfällig. Regelgehorsam war das Gebot der Stunde – zur Erreichung von Kontaktreduzierungen, von denen man sich eine gleichmäßig mechanische Auswirkung auf das Infektionsgeschehen versprach. Weder eigene Ideen noch kritische Anfragen nach dem Sinn der Maßnahmen oder der gerechten gesellschaftlichen Verteilung pauschal zu erbringender Kontaktreduzierungen waren erwünscht.

Manche gesellschaftlichen Bereiche blieben jedenfalls von den Kontaktbeschränkungen unbehelligt, etwa die Arbeitswelt. Andere Bereiche wie Universitäten, Kultureinrichtungen, Gastronomie wurden dafür ganz geschlossen. Hier stellte sich eine Gerechtigkeitsfrage, die jedoch nicht thematisiert wurde. Bestimmte Bereiche erbrachten jetzt Sonderopfer, damit andere Bereiche unbehelligt weiterwirtschaften konnten. Denn es wurde mit den Schließungen ja explizit auf ein diffuses Geschehen reagiert. Man entschied nicht nach den Infektionswahrscheinlichkeiten oder der mit der Nachverfolgung gewonnenen Erfahrung, was in welchem Umfang reguliert werden soll. Die Schließung etwa von Theatern, die mit Hygieneschutzkonzepten denkbar infektionssichere Räume geworden waren, wurde nicht mit der Wahrscheinlichkeit begründet, sich dort infizieren zu können, sondern in erster Linie mit der Möglichkeit, auf dem Weg dorthin einer Infektion ausgesetzt zu sein.

Runtergefahren werden sollten primär die Kontakte im öffentlichen Verkehr, so dass ähnlich einem Zweckveranlasser zusätzlicher Verkehr unterbunden werden sollte. Aus der Logik eines quantitativen, auf numerischen Kontakten (und nicht auf sensiblen Kontakten) beruhenden Infektionsschutzes wurden bestimmte Bereiche ohne eigenes Zutun stillgelegt, während andere Bereiche unbehelligt blieben, selbst wenn sie sich – aufgrund von Nachverfolgung – als Infektionsquellen herausstellten. Dass etwa Betriebe nicht erfasst wurden, begründete man mit dem Argument, dort ließe sich das Infektionsgeschehen leicht nachverfolgen. So wurde mit zweierlei Maß gemessen: Der Weg zur Arbeit wurde hingenommen, der Weg ins Theater nicht. Im Betrieb galt Infektionsgeschehen als nachverfolgbar, im Theater (personalisierte Tickets) hingegen nicht.

Was passiert, wenn Universitäten geschlossen bleiben

Politisch fand also eine Abwägung statt, die jedoch nicht Gesundheit abwog, sondern Wirtschaft mit Kultur, Bildung, Unterhaltung – und die diese Abwägung auch noch Systemrelevanz nannte. Ob diese Priorisierung im Hinblick auf die Reduzierung der Infektionszahlen effektiv war, wurde in den folgenden Monaten jedoch nicht ermittelt. Empirische Untersuchungen fehlen weitgehend. Die im Herbst nur langsam sinkenden und dann wieder ansteigenden Inzidenzzahlen lassen sich auch so interpretieren, dass nicht zu wenig getan wurde („Lockdown light“), sondern vielleicht einfach Ineffektives.

Wenn uns Virologen und Epidemiologinnen erklären, die Infektionszahlen können nur reduziert werden, indem generell und pauschal jedermanns Kontakte um 20, 30 oder 50% reduziert werden – das ist ja die Grundlogik des Lockdowns –, dann muss entschieden werden, wo und wie diese Kontakte zu opfern sind, wer der Leidtragenden sein werden. Immer noch sind zum Beispiel neben vielen anderen die Universitäten die Leidtragenden. Sie tragen zur Kontaktreduzierung jedenfalls überproportional bei. Studierende erleben das täglich hautnah. Wenn sie nicht mehr an die Uni dürfen, wenn auch noch Sporteinrichtungen und Gastronomie geschlossen sind, welche Räume verbleiben jungen Menschen dann noch? Sie sind durch die Akkumulation der Pandemiemaßnahmen fast schon zu einer kontaktfreien Generation verdammt und werden für ihr Leben auf die digitale Welt verwiesen. Ist das eine gerechte Verteilung der gesellschaftlich geschuldeten Solidarität, erbracht durch Kontaktreduzierungen?

Universitäten geschlossen zu halten, war jedenfalls für rein quantitative Ziele ein naheliegendes Mittel. Hier konnten jedenfalls besonders viele Kontakte unterbunden werden. Statt mit Präsenzlehre und begleitendem Digitalunterricht ins Wintersemester zu starten, saßen wir doch wieder alle vor den Bildschirmen und blickten auf schwarze Kacheln, hinter denen sich Namen ohne Gesichter verbergen. Für die Erstsemester war das besonders einschneidend, denn anders als die Älteren hatten sie die Universität noch nicht als einen Ort der Begegnung und des Austauschs, des Diskutierens, des Sich-Messens, des Ansporns erlebt, nicht als einen Ort der intellektuellen Befriedigung, des Erfolges, des Glücks, das mit Begreifen und Verstehen einhergeht.

Die Pandemiestrategie der Kontaktvermeidung trifft die Universität ins Mark. Denn die Universität setzt den persönlichen Kontakt voraus: zwischen Lehrenden und Studierenden, vor allem auch unter den Studierenden. Studieren heißt ja nicht nur Lernen, sondern sich als Persönlichkeit zu entwickeln, seine Neigungen und Talente herauszufinden und sie auszuprobieren. Für Juristinnen und Juristen ist es insbesondere auch wichtig, eine Haltung auszubilden. Sie entscheiden ja nicht nur Rechtsfragen, sondern sie entscheiden über Menschen. Dazu bedarf es auch Augenmaß, Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeitsempfinden, einer Haltung eben. Unser Gegenstand, das Recht, existiert nur durch Sprache und vermittelt sich nur durch Text und Wort. Ohne Sprache, ohne das Sprechen über Recht, ohne Kommunikation kann man Jurist nicht werden.

Wie die Perspektive der Studierenden im Hörsaal aussähe. Foto: Fabian Müller.

Das Recht braucht diskursive Räume

Schon unser Gegenstand „Recht“ ist ein Produkt von Menschen und ihrer Sprache – darin unterscheidet sich unser Fach von vielen anderen Fächern, namentlich den Naturwissenschaften. Die Aneignung dieses Gegenstandes setzt daher in besonderer Weise den Umgang von Menschen mit Menschen voraus. Das Gerichtsverfahren, der Prozess, ist Sprechen über das geltende Recht. Die Rechtserzeugung, Gesetzgebung, ist eine diskursive Auseinandersetzung über das richtige Recht. Und entsprechend ist auch die Universität, der Ort des Verstehens, Kritisierens, Erprobens und Weiterentwickelns von Recht, ein zutiefst diskursiver Ort, ein Ort des Austauschs und Kontakts.

Die Universität ist eben nicht wie die Schule eine Anstalt, sondern eine Personalkörperschaft. Sie hat Mitglieder. Sie alle waren als Studierende Mitglieder der Universität, nicht Nutzer, Kunden oder gar User. Schon in Bologna, wo bekanntlich die Idee und Gestalt der Universität entstand, und zwar zunächst für die Rechtswissenschaft entstand, sprach man von der Universitas magistrorum et scholarum, also der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Und das sind Professoren und Studierende gleichermaßen. Wir Professoren sind immer auch Lernende, das ist Teil und Ziel unseres Berufs. Man nennt das dann gerne Forschung, aber auch aus der Lehre, aus dem Erklärenmüssen aus dem Antwortgeben heraus lernen wir. Studierende sind zugleich Lehrende für Professoren, mehr noch natürlich Lehrende untereinander. Wie viel pflegen Studierende voneinander und untereinander zu lernen. Das ist die Idee der Universitas, der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, eine Gemeinschaft, in der beide Geisteszustände permanent wechseln und einander befruchten.

Veranstaltungen, Gewerbe und Orte, die Zufallsbekanntschaften ermöglichen oder auf dem Prinzip des zufälligen Kontakts beruhen, stehen momentan vor einer ziemlichen Perspektivlosigkeit, weil selbst die Aussicht, mit dem Lockdown wieder einen Zustand zu erreichen, der die Kontaktnachverfolgung ermöglicht, keine Hoffnung macht. Diese Aussicht hilft nur, wenn die Menschen, die aufeinandertreffen, namentlich bekannt sind. Auf viele Orte trifft dies nicht zu. Diskotheken oder Messen etwa sind institutionalisierte Orte der Zufallsbekanntschaft. Diese Orte haben den Zweck, Bekanntschaften zu fördern. Gewiss, es mögen auch an anderen Orten Zufallsbekanntschaften stattfinden, aber sie sind eher eine spontane Nebenfolge und nicht der Zweck des Ortes. Im Supermarkt oder in der Straßenbahn trifft man kaum Lebens- oder Geschäftspartner (und auch keine -partnerinnen); die Kontakte sind zu flüchtig, zu kurzfristig als dass sie typischerweise zur hinreichenden Viruslast führen. Gerade deshalb können solche Orte unbedenklicher geöffnet bleiben. So wie die Dinge im Moment laufen, müssen wir uns auf eine Gesellschaft einstellen, die jedenfalls Zufallskontakte längerfristig unterbindet. Auf das habituelle Verhalten des Menschen hat dies Auswirkungen. Wir beginnen, solche Orte und Situationen zu meiden. Wir beginnen, dem Unbekannten mit Distanz zu begegnen, wir schütteln keine Hände mehr, scheuen die Berührung und den Kontakt. Hochschulen basieren nun gerade auf Zufallskontakten. Neue Ideen entstehen oft aus Zufällen. Argumente werden überprüft und verbessert, weil plötzlich jemand (nicht selten Studierende) etwas sagt oder fragt. Wissenschaft lebt von Wettbewerbssituationen, deren ideelle Offenheit die prinzipiell beliebige physische Anwesenheit von Gedanken und Fragen voraussetzt. Pluralismus und Wettbewerb kann nicht geplant oder inszeniert werden: ohne eine physisch offene Kontaktstruktur sind sie nicht zu haben.

Alle werden inzwischen gespürt haben, welchen Unterschied eine Vorlesung in Präsenz oder als Zoom ausmacht. Man rühmt, Zoom-Sitzungen seien konzentrierter und kürzer. Sie fördern aber die Diskursregulierung des Sitzungsleiters. Es wird eine vorgegebene Agenda abgearbeitet. Die Veranstaltung dient nicht mehr dem Nebenzweck, über Dinge nachzudenken, neue Dinge aufzuwerfen, Gedanken auch spielerisch oder mit den rhetorischen Möglichkeiten des Scherzes oder der Ironie auszuprobieren. Die Sachlichkeit von Zoom-Veranstaltungen hat eine hierarchieverstärkende und kreativitätshinderliche Kehrseite. Das ist das Problem bei digitaler Lehre. Sie verstärkt die Hierarchie. Bekannter oder standardisierbarer Stoff kann ordentlich verkündet werden. Überraschungen, Konfrontationen, Spontaneität aber werden durch digitale Formate strukturell unterdrückt. Wissenschaft und Universität entwickeln sich in der momentanen Präventionslogik notgedrungen zu weniger kreativen Orten. Veranstaltungsformate, die durch den personellen oder didaktischen Zuschnitt Kreativität, Pluralismus und Wettbewerb der Ideen fördern, sind jedenfalls beweispflichtig geworden und zwar anhand von Kriterien, die die Universität in ihrer Zielrichtung behindern und deswegen ihre Essenz betreffen. Die Universität wird institutionell bedroht, wenn sich eine Präventionslogik etabliert, die Kreativräumen skeptisch begegnet, weil sie Zufallskontakte vermeiden zu müssen meint.

So steht die Universität auch zu Beginn des Sommersemesters 2021 vor einer ziemlichen Perspektivlosigkeit. Wir können die Universität nicht als einen Ort der Nachverfolgung von Begegnungen organisieren. Selbst perfekte Hygienekonzepte schließen große Vorlesungen, frei zugängliche Bibliotheken und spontane Begegnungsräume aus. Wissenschaftliche Tagungen finden momentan nicht statt. Man findet schon keinen Raum, der das Einhalten von Abstandsregeln ermöglicht und bezahlbar wäre. Aber Nachverfolgung scheint momentan eh kein Thema zu sein.

Eine Abwägung des hinnehmbaren Gesundheitsrisikos mit Kontaktfreudigkeit als Existenzbedingung der Universität ist nicht erkennbar. Auch die Impfstrategie platziert die Universität am Ende, weil sich die Studierenden bei einer rein gesundheitlich (und nicht sozial) ausgerichteten Impf-Priorisierung hinten anstellen müssen. Also werden wir an der Universität weiterhin das Sonderopfer der Kontaktreduzierungen erbringen müssen, während andere Bereiche schneller geöffnet werden können. Die von der Universität erbrachte gesamtgesellschaftlich saldierte Solidarität, die sich als Freiheitseingriff darstellt, hat aber auch einen gesellschaftlich hohen Preis. Er bemisst sich zunächst in der Lebenszeit junger Menschen. Er heißt aber generell Verlust an Kreativität, Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit. Man muss sehr aufpassen, dass sich die Universität nicht in digitaler, kontaktreduzierter Routine zu einem inspirationslosen, repetitionsorientierten und antriebslosen Milieu entwickeln wird.


SUGGESTED CITATION  Lepsius, Oliver: Was bedeuten Kontaktreduzierungen für die Universität?, VerfBlog, 2021/6/14, https://verfassungsblog.de/was-bedeuten-kontaktreduzierungen-fuer-die-universitaet/, DOI: 10.17176/20210614-193409-0.

3 Comments

  1. Jakob Schneck Mon 14 Jun 2021 at 14:23 - Reply

    Ich gebe Ihnen, Professor Lepsius, in allen Punkten recht! Aus der Perspektive eines AG-Leiters an der WWU Münster möchte ich noch ergänzen, dass die politische Abwägung zwar weitgehend zu unseren Lasten ausfällt, inzwischen aber nicht mehr vollständig. Es bieten sich immer mehr Freiräume, die wir nur nutzen müssen. So sind Veranstaltungen im Hybrid-Format mit bis zu 50 Präsenzteilnehmern möglich, die Bibliothek könnte längst zu ihren ursprünglichen Öffnungszeiten zurückkehren und private AG-Treffen unter freiem Himmel – das Wetter ist ja hervorragend – dürften zumindest hier in Münster mit Tests theoretisch sogar schon bis zu 100 Teilnehmer umfassen (wenn ich richtig informiert bin).
    Teilweise werden diese Freiräume genutzt – aus meiner Perspektive geschieht das aber nur sehr zögerlich und überwiegend werden die Gelegenheiten liegen gelassen. Einerseits mag das an einer gewissen Unsicherheit oder dem teilweise hohen organisatorischen Aufwand (der sich aber lohnen würde!) liegen. Andererseits scheint man es sich mancherorts aber auch einfach bequem gemacht zu haben. Die Bibliothek (RWS I) hat beispielsweise laut Homepage von Montag bis Freitag von 9 Uhr bis 12:30 und von 14 Uhr bis 17:30 geöffnet; am Wochenende nur von 9 Uhr bis 12:30 Uhr – Öffnungszeiten also, bei denen jede Fachschaft in Vor-Corona-Zeiten völlig zurecht an die Decke gegangen wäre. Das zu toppen, schafft eigentlich nur noch die strafrechtliche Bibliothek (RWS II), die immer nur vormittags öffnet. Man kann insofern die Verantwortung nicht vollständig auf die Politik abschieben, die die Universitäten in ihren Entscheidungsprozessen zu wenig berücksichtigt. Überall dort, wo sie es dann doch einmal tut, sind es die Menschen an der Universität selbst, die sich im Weg stehen. Vielleicht müssen wir die universitären Begegnungsräume einfach neu kennenlernen und ich kann nur jeden ermutigen, insoweit von den sich bietenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen!

  2. Marcus Schnetter Wed 16 Jun 2021 at 23:23 - Reply

    Dem grundsätzlich sehr lesenswerten Text, möchte ich einige kleine Fragezeichen anhängen. Mir scheint das Jurastudium aus eigener, noch recht frischer Erinnerung nun doch nicht ganz so diskursiv, partizipativ und interaktiv zu sein, wie es hier (vermeintlich allein geltend für prä-Corona-Zeiten) gezeichnet wird. Es ist zunächst festzustellen, dass es sich mit wenigen Ausnahmen um einen Massenstudiengang handelt, bei dem entsprechend die persönliche Betreuung durch und der direkte Kontakt zu Lehrenden deutlich zu kurz kommt. Weiters sind Vorlesungen in der Regel weitgehend monologisch und (streng) hierarchisch. Das mag durch zoom verstärkt werden, scheint mir aber bereits fest in der juristischen Ausbildungstradition angelegt zu sein. Aus der Politikwissenschaft (und auch aus LLM-Kursen an einer englischen Universität im Rahmen eines Erasmussemesters) kann ich berichten, dass dort Gruppenarbeiten, Präsentationen von Studierenden und Diskussionsrunden deutlich stärker verbreitet waren, als ich dies im deutschen Jurastudium erlebt habe. Über die klassische 90 Minuten Monologvorlesung + begleitende AG für die Fallbearbeitung werden andere didaktische Formate (Moot Courts, Debattierrunden) in maximal homöopathischen Dosen angeboten. Ich glaube ich auch nicht, dass digitale Lehre zwingend kreativitäts- und spontaneitätsfeindlich sein muss. Vielmehr ist es durchaus möglich, eine Vielzahl von Medien (Videos, Podcasts, digitales Whiteboard) in die Lehre miteinzubinden und mit niedrigschwelligen Kleingruppenarbeiten (“break out-sessions”) die Interaktion der Lernenden untereinander zu fördern.

    Im Übrigen ist die Diskursivität des Rechts überwiegend textueller und nicht zwingend mündlicher Art. Kontakt in Präsenz mag insoweit eine wünschenswerte, aber keine immer notwendige Bedingung für den Rechtsdiskurs sein. Letztlich halte ich auch die Klage, es gäbe im Moment keine (sinnvollen?) wissenschaftlichen Tagungen, für verzerrt. Die JTÖR (früher: ATÖR: Assistententagung) 2021 aus Münster hat angesichts viel positiver Rückmeldung gezeigt, dass und wie sich Tagungen auch in den digitalen Raum übersetzen lassen (Berichte dazu auf dem JuWiss-Blog). Die Barrierefreiheit digitaler Wissenschaft und Lehre sollte nicht vorschnell einem Anwesenheitsdogma zum Opfer fallen, auch wenn eine Rückkehr zur Präsenz sicherlich überwiegend wünschenswert erscheint.

  3. Elena Wed 25 Aug 2021 at 23:03 - Reply

    Mit einem lachenden und einem weinenden Auge blicke ich zurück auf mein erstes Universitätssemester im Jahre 2019. Meine Kommilitonen und ich trafen uns jeden Morgen vor dem Hörsaal, um anschließend die Vorlesung zu besuchen. Im Anschluss gingen wir zusammen in die Mensa und schmiedeten beim Essen Pläne für die nächste Feier. Manchmal gingen wir auch in die Bibliothek, um dort gemeinsam zu lernen. Man hatte immer das Gefühl, nicht alleine zu sein. Ein neuer Lebensabschnitt, den man gemeinsam beschreitet. Wenn ich nun aber den Laptop aufklappe, um mich bei der Zoomveranstaltung einzuloggen, bin ich allein. Manchmal blicke ich noch aus Gewohnheit nach rechts und links. Wenn dort früher meine Kommilitonen saßen, ist da heute nichts.

    Ich lese Ihren Beitrag und habe dabei die ganze Zeit im Hinterkopf, dass uns wohl ein viertes Digitalsemester im Herbst bevorsteht. Es frustriert mich. Es füllen sich Fußballstadien mit 25.000 Menschen, aber die Hörsäle bleiben leer. Manchmal warte ich nur auf die Meldung, die mir versichert, dass ich im Oktober die Universität von innen sehen kann. Aber dann lese ich in den Nachrichten von den Entwicklungen und diese Hoffnung schwindet immer mehr. Zwar höre ich immer wieder von Kommilitonen, wie bequem sie die Onlinelehre doch finden – man muss das Haus nicht verlassen, springt morgens vom Bett direkt vor den Laptop. Aber als ich mich für den Studiengang immatrikuliert habe, habe ich mich bewusst für eine Präsenzlehre entschieden. Ich möchte nicht wahrhaben, dass diese räumliche Distanz unseren Universitätsalltag auch in Zukunft bestimmen wird. Anfangs war diese Umstellung auch für mich eine gute Erfahrung. Mit der zunehmenden Anzahl an Onlinesemestern nimmt meine Motivation jedoch stetig ab. Zoom ist ein Übergangslösung, aber mehr auch nicht.

    Für so viele Bereiche gibt es inzwischen Perspektiven. Es wirkt jedoch so, als wären wir Studierende nur das unbequeme Anhängsel, das einer Erwähnung nicht mal würdig ist.

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